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Heilige des Alltags

6. Juni 2017 in Buchtipp, keine Lesermeinung
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Wunderbare Geschichten aus dem Alltag russischer Mönche. Ein Buch von Bischof Tichon Schewkunow


Linz (kath.net)
In diesem gerade erschienen Buch finden sich Geschichten, die das Leben schreibt, aus dem Alltag russischer Mönche. Jede Begebenheit erzählt von kleinen, aber einmaligen Offenbarungen, die sich täglich ereignen können. Dieses Buch möchte eine wunderbare Welt vorstellen, in der man nach anderen Gesetzen lebt und Heiligkeit und Glück näher liegen, als man vermutet.

Der russische Bestseller von Bischof Tichon wurde in über zwei Millionen Exemplaren verkauft und gilt heute bereits als Klassiker der neueren spirituellen Literatur. Tichon Schewkunow studierte an der Filmhochschule Moskau und trat 1982 in das Höhlenkloster Petschory ein. 1998 erhielt er den Rang eines Archimandriten und wurde 2015 zum Bischof von Jegorjewsk geweiht.

Eine Leseprobe aus dem Buch:

Das Leben, die staunenswerten Abenteuer und der Tod des Priestermönchs Rafail, genannt schreiender Stein

Unser Held wurde 1951 im Städtchen Tschistopol an der Kama geboren. Sein Vater war Direktor eines sowjetischen Unternehmens, seine Mutter Hausfrau und sein älterer Bruder ein Komsomolzenführer und Romantiker, der von einer gerechten und schönen Zukunft träumte. Nichts im Leben von Boris Ogorodnikow deutete auf besondere, im gleichförmigen Verlauf des damaligen sowjetischen Lebens nicht eingeplante Ereignisse hin. Boris, der beste Sportler unter den Schülern der Oberklassen, ein sympathischer und lustiger Kerl, in den alle Mädchen seiner Klasse schrecklich verliebt waren, ging nach Schulabschluss zur Armee und diente die ganzen drei Jahre heldenhaft als Grenzsoldat auf der Damanskij-Insel, wo gerade der blutige Konflikt mit China in vollem Gange war. Er kehrte lebend und wohlbehalten in sein Tschistopol zurück – mit Auszeichnungen durch die Armeeführung und den Schulterstücken eines Unteroffiziers.

Als Nächstes erwartete ihn die Hochschule. Boris hatte sich entschlossen, in die Automobilindustrie zu gehen, um neue, schöne Autos zu konstruieren, mit denen er dann selbst Gas geben, begeistert losbrausen und alles auf der Welt vergessen konnte. Doch eines Tages fiel dem Grenzsoldaten in Reserve in seinem Heimatstädtchen auf wer weiß welchen Wegen ein Buch in die Hände, das ihm und seinen Altersgenossen unter keinen Umständen hätte unter die Augen kommen sollen. Dafür sorgte das strenge Reglement des Staatsapparats unermüdlich. Aber offensichtlich war dort irgendetwas schiefgelaufen. Und nun betrachtet unser Held, der sich ans Ufer der Kama zurückgezogen hat, neugierig und misstrauisch dieses Buch. Dann schlägt er es auf und beginnt die ersten Zeilen zu lesen: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde...“

Wie schnell können Welten zusammenbrechen! Noch einen Augenblick zuvor hatten wir einen vorbildlichen jungen Sowjetmenschen mit einer tadellosen Vergangenheit und einer nicht weniger tadellosen strahlenden Zukunft vor uns. Aber auf einmal gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr. Die Gegenwart hat begonnen. „Siehe, Ich mache alles neu!“ verspricht nicht nur, sondern warnt Jener auch ernsthaft, von Dem das Buch erzählt, das Boris Ogorodnikow, der künftige Vater Rafail, am Ufer der Kama erstmals, Zeile für Zeile, liest.

Doch damals wusste er noch nicht, wie ihm geschah. Boris hatte plötzlich eine Menge Fragen und versuchte, sie den örtlichen Priestern zu stellen. Aber diese scheuten erschreckt vor dem jungen Mann zurück. Die Zeiten waren nicht einfach und Priester durften sich nur mit hochbetagten alten Frauen unterhalten. Boris fuhr nach Moskau, um sich in einem Institut einzuschreiben, das ihn bereits nicht mehr interessierte. In der Hauptstadt begann er, von einer Kirche zur anderen zu gehen und jene so unerwartet in seinem Kopf entstandenen Fragen zu stellen, nach deren Beantwortung er bei den Priestern von Tschistopol vergeblich gesucht hatte. Aber er traf überall dieselbe Vorsicht und dasselbe Misstrauen an, bis er auf eine versteckt liegende Kirche im Stadtteil Samoskworetschje stieß.
Hier sprach man unerwartet ganze zwei Stunden mit ihm. Und Boris blieb in dieser Kirchengemeinde, wo er sich als Wächter etwas zu seinem Lebensunterhalt dazuverdiente und das ihm anvertraute Territorium so beschützte, als wäre es die wichtigste Grenze seines Lebens. Das Buch, das sein gesamtes Leben so machtvoll über den Haufen geworfen hatte, las Boris zur nicht geringen Verwunderung der Priester dieser Kirchengemeinde in kürzester Zeit zweimal von vorne bis hinten durch.

Der Vorsteher stellte den jungen Burschen vor den anderen Geistlichen sogar als Beispiel hin. „Wir, die wir berufen sind, das Wort Gottes zu studieren und zu verkündigen, schweigen faul und kleinmütig!“ sagte der Vorsteher traurig zu seinen Priestern. „Und dieses junge Bürschchen, das weder eine christliche Erziehung genossen hat noch bis zu seinem Tod etwas über Gott hätte erfahren sollen, legt einen solch großen Eifer und Glauben an den Tag ...

Junge Leute wie er beschämen uns Priester Gottes wegen unserer Furchtsamkeit, Faulheit und Schweigsamkeit in Bezug auf Christus. Welche Antwort, Väter, können wir darauf geben? Was soll angesichts solcher Hirten aus der Kirche werden? Aber – Gott lebt! Hier bewahrheiten sich die Worte des Erlösers: ‚Wenn Meine Jünger schweigen, werden die Steine schreien!‘ Dieser einfache junge Mann hier ist eben dieser schreiende Stein! Und wir suchen irgendwo nach Wundern!“ Boris sagte seinen Eltern nichts, verwarf aber seine Hochschulpläne und bereitete sich auf die Aufnahme ins Priesterseminar vor.

Er bestand die Prüfungen in Sagorsk glänzend, wie man so sagt. Aber natürlich konnte er sich nicht einschreiben. Mit seiner heroischen Vergangenheit bei der Armee, mit seinem Komsomolzentum und seiner strahlenden sowjetischen Zukunft konnte in jenen Jahren vom Priesterseminar keine Rede sein. Die verantwortlichen Genossen, die damals die geistliche Bildung überwachten, trafen sich unverzüglich mit dem Abiturienten Ogorodnikow. Sie fühlten sich bereits schuldig, weil sie nicht genug aufgepasst und zugelassen hatten, dass ein junger Mann mit einer solchen Biographie an der Aufnahmeprüfung ins Priesterseminar teilnahm. Die Genossen forderten den jungen Mann mit aller Strenge auf, von der religiösen Droge zu lassen und zu einem normalen Leben zurückzukehren.


Sie traten mit den süßesten Versprechungen an den jungen Mann heran. Sie drohten ihm mit den schrecklichsten Strafen. Statt zu antworten, blickte Boris nur irgendwohin in eine allein ihm bekannte Ferne und reichte seinen Bedrängern nach den beiden Tagen, an denen sie ihm zugesetzt hatten, einen versiegelten Umschlag. Diese rissen ihn begierig auf, doch sie fanden darin nur Boris Ogorodnikows offizielle Erklärung über seinen Austritt aus dem Komsomol‚ und zwar „aus religiösen Gründen“.
Verdrossen drohten die Genossen Boris alle möglichen und unmöglichen Unannehmlichkeiten an: bei der Arbeit, beim Studium, sowohl in Freiheit wie in Unfreiheit und selbst bei lebenslänglichem Gewahrsam in der Psychiatrie... Also nur das Allerschlimmste – in diesem und im jenseitigen Leben... Die an die religiöse Front geratenen Genossen hatten sich unwillkürlich von mystischen Stimmungen hinreißen lassen.

Für Boris aber war angesichts all der Drohungen nur eines ganz klar: Man würde ihn nicht ins Seminar eintreten lassen. Und da begab er sich auf den Rat des Vorstehers seiner Kirche ins Pskowo-Petscherskij-Kloster, obwohl er keinerlei Vorstellung davon hatte, was und wen er dort antreffen würde. Aber Der, Welcher das Leben und das Schicksal des Boris Ogorodnikow so machtvoll in Seine Hände genommen hatte, wusste von jedem seiner Schritte und von jedem Schritt der Menschen, die Er ihm entgegenschickte. Im Kloster wurde Boris sofort vom Großen Vorsteher Archimandrit Alipij aus der allgemeinen Menge der Pilger herausgeholt.

Die Genossen, die für die Aufsicht des Pskowo-Petscherskij-Klosters verantwortlich waren, warnten Vater Alipij nachdrücklich davor, den heldenhaften Grenzsoldaten bei sich aufnehmen. Der damals schon sterbenskranke Archimandrit Alipij hörte sie aufmerk. Archimandrit Alipijsam an und gab am folgenden Tag die Anweisung, Boris Ogorodnikow als Novizen in das Kloster aufzunehmen. Dies war eine der allerletzten von Archimandrit Alipij unterzeichneten Anordnungen. Bald darauf verstarb er und der Novize Boris wurde bereits von dem neuen Vorsteher, Archimandrit Gawriil, zum Mönch geweiht.

Die verantwortlichen Genossen versäumten es nicht, auch Archimandrit Gawriil darauf hinzuweisen, dass er in allernächster Zeit alle Maßnahmen treffen müsse, damit Boris Ogorodnikow Petschory verließ. Der Vorsteher versicherte ihnen, dass er seinerseits die entstandene missliche Lage sehr gut verstehe, und versprach, alles für diesen jungen Mann zu tun. Und er tat wirklich alles, was er tun konnte. Denn wenige Tage später vollzog er an ihm die Mönchsweihe und ein neuer Mensch war entstanden – der junge Mönch Rafail.

Auf die Vorhaltungen der Gift und Galle speienden verantwortlichen Genossen antwortete der Vorsteher mit absolut vernünftigen Argumenten:
Aus Sorge um das Wohlergehen des Staates und das stille, schweigsame Mönchsleben habe er den jungen Mann zum Mönch geweiht, denn dies sei für alle die beste Variante. Warum? Ganz einfach. Die Sache war die, dass Alexander, der ältere Bruder des frischgebackenen Mönchs Rafail, in den letzten Jahren ein bekannter Dissident geworden war. Tag und Nacht berichteten der Sowjetunion ausländische Radiosender über ihn. Und wenn sein jüngerer Bruder aus dem Kloster ausgeschlossen werden und sich ihm anschließen würde (was höchstwahrscheinlich geschehen würde), dann ginge es allen nur noch schlechter.

Und tatsächlich, Alexander Ogorodnikow hatte sich, ebenso wie sein jüngerer Bruder, in jenen Jahren kühn auf die faszinierendste, aber auch gefährlichste Reise der Welt begeben – auf die Suche nach tieferem Sinn und höheren Zielen im Leben. Freilich war er einen anderen Weg gegangen. Was der Klostervorsteher über Alexanders Dissidententum gesagt hatte, war die reine Wahrheit und die verantwortlichen Genossen wussten das nur zu gut. Die sich sehr nach einem baldigen Triumph der Gerechtigkeit sehnende Seele Alexanders hatte diesen einst eifrigen Komsomolzenführer auf ihrer stürmischen Wahrheitssuche einmal mehr in die Reihen leidenschaftlicher Kämpfer für eine strahlende Zukunft geführt. Diesmal befand er sich jedoch auf der anderen Seite der Barrikaden und gründete in Moskau ein christliches Dissidentenseminar.

Worauf sich die verantwortlichen Genossen, die ganz speziell auf solche Sucher nach einer strahlenden, gerechten Zukunft angesetzt waren, sogleich auf ihn stürzten. Alexander wurde verhaftet. Mit allen Mitteln, darunter auch sehr fraglichen, versuchten sie ihn umzustimmen. Doch nachdem sie auf diese Weise rein gar nichts erreicht hatten, schickten sie den jungen Mann zur weiteren Suche und zum Nachdenken für neun Jahre in ein Gefängnis für politische Kriminelle, das als „Perm-6“ bezeichnet wurde und in jenen Jahren das Lager mit den schwersten Haftbedingungen war. Die vernünftigen Argumente von Vater Gawriil zeigten schließlich Wirkung auf die verantwortlichen Genossen: Sie beließen den jungen Mönch Rafail im Kloster und dieser wurde alsbald zum Priesterdiakon und danach zum Priestermönch geweiht.

So wurde Vater Rafail zum glücklichsten Menschen der Welt. Boris Ogorodnikow war der erste, den Archimandrit Gawriil als neuer Klostervorsteher als Mönch aufnahm.
Und er gab ihm sogar den Namen Rafail, zu Ehren des Erzengels Rafael. Der himmlische Patron des Vorstehers selbst war auch ein Erzengel, nämlich Gabriel. In Mönchskreisen wird so etwas nicht einfach ohne Grund gemacht. Offensichtlich hatte der Vorsteher sehr auf diesen jungen, glühenden und aufrichtig glaubenden Priestermönch gezählt. Jedenfalls verlieh er während der ganzen dreißig Jahre seiner Zeit als Vorsteher keinem mehr einen Namen zu Ehren eines Erzengels.
Beim Ablegen der Gelübde stellt sich jeder neu aufgenommene Mönch in den Dienst eines erfahrenen Beichtvaters. Vater Rafails erster Starez wurde Archimandrit Afinogen, ein hochbetagter Mönch, der Verfolgungen, Krieg, Gefängnishaft und Verbannung durchgemacht hatte.

Mit seinen achtundneunzig Jahren besaß Vater Afinogen in jeder Hinsicht die Größe und Stärke eines neuen Menschen, den der Glaube verwandelt und der sich auf ewig mit Christus, seinem Gott und Erlöser, vereinigt hatte. Das Zusammensein von Vater Rafail mit seinem ersten Beichtvater dauerte nur kurz, denn bald ging Archimandrit Afinogen zum Herrn. Vater Rafail pflegte über ihn zwei Geschichten zu erzählen, die sich ihm tief eingeprägt hatten. Als sich die Bruderschaft des Klosters einmal zum Namenstag von Archimandrit Afinogen im großen Speisesaal versammelt hatte, stand er, nachdem er die Worte der Achtung und Anerkennung angehört hatte, – klein und gebeugt, wie er war – lange da und schwieg.

Alle warteten mit angehaltenem Atem auf seine Antwort. Der Starez blickte auf die vor ihm stehenden Mönche und sprach: „Was soll ich euch sagen, Brüder? Nur dass ich euch alle liebe!“ Die damals im Speisesaal anwesenden Mönche, selbst die schroffsten, standen da und weinten. Die zweite Geschichte hing damit zusammen, dass Archimandrit Afinogen fast bis unmittelbar vor seinem Tod Exorzismen durchführte. Das heißt: Er trieb Dämonen aus schwer leidenden Menschen aus. Bei manchen reichte es, sie nach Überwindung ihres verzweifelten Widerstandes in die Zelle von Vater Afinogen zu ziehen, damit die Dämonen auf der anderen Seite der Tür zurückblieben und der Kranke wieder zu sich kam. Wobei dieser selbst nicht glauben konnte, dass er von seinem langjährigen Übel befreit war. Doch viel öfter waren lange seelsorgerische Bemühungen Vater Afinogens und besondere kirchliche Gebete zur Heilung erforderlich.

Dieser nicht einfache und in mehrerer Hinsicht gefährliche Dienst erschöpfte den Starez bis an die Grenze seiner Kräfte. Einmal, an einem Badetag, war Vater Rafail seinem Beichtvater im klösterlichen Waschraum behilflich.

Diese Fürsorge gegenüber betagten Mönchen oblag stets den jungen Novizen. Vater Rafail hatte sich für einen Augenblick abgewandt, um den Waschschwamm einzuseifen, und als er wieder nach vorn schaute, sah er voll Entsetzen seinen Starez über der Badebank in der Luft schweben. Der junge Mönch blieb mit dem Schwamm in den Händen wie angewurzelt stehen. Vor seinen Augen sank Vater Afinogen langsam und sanft auf die Badebank nieder, worauf er unzufrieden fragte: „Was hast du gesehen? Schweig, Dummkopf, erzähle es niemandem! Das sind die Dämonen! Sie wollten mich vernichten. Aber die Mutter Gottes hat es nicht zugelassen. Schweig, sag niemandem etwas davon bis zu meinem Tod!“ „Siehe, Ich mache alles neu!“ – diese Worte bewahrheiteten sich unentwegt in Vater Rafails Leben.

Wie die Mehrheit der neu aufgenommenen Mönche entdeckte er nach und nach eine unendlich geheimnisvolle, mit nichts vergleichbare neue Welt, die damals am Ufer der Kama, als er anfing, das ihm unbekannte Buch zu lesen, erstmals vor ihm aufgetaucht war. Diese Welt voller Freude und Licht existierte nach eigenen, ganz besonderen Gesetzen. Hier offenbarte sich die Hilfe Gottes gerade dann, wenn sie wirklich notwendig war. Reichtum war lächerlich und Demut wunderbar.

Hier hielten sich große Gerechte aufrichtig für geringer und schlechter als alle anderen Menschen. Hier wurden jene am meisten verehrt, die menschlichen Ruhm flohen. Und die Machtvollsten waren jene, die aus ganzem Herzen ihr menschliches Unvermögen bekannten. Hier verbargen sich Macht und Kraft in hinfälligen Starzen und manchmal war es besser, alt und krank als jung und gesund zu sein. Hier verzichteten die Jungen ohne Bedauern auf die unter ihren Altersgenossen üblichen Vergnügen, nur damit sie nicht diese Welt verlassen mussten, ohne Vater Afinogen die sie nicht mehr leben konnten. Hier wurde der Tod eines jeden zu einer Lektion für alle, und das Ende des irdischen Lebens war nur ein Neubeginn.
Als Vater Rafail so entschieden und machtvoll aus seinem früheren Leben herausgerissen wurde, gab er Gott freudig alles hin – sowohl das normale menschliche Glück als auch die Freuden des Lebens sowie seine Karriere und sogar seinen unbändigen Willen.

Aber es gab etwas, wovon er sich nicht trennen konnte... Ja, es gab da einen Umstand, der, so sehr man es auch möchte, nicht verschwiegen werden darf. Es klingt lachhaft, aber Vater Rafail konnte nur eines nicht überwinden: seine Leidenschaft für Geschwindigkeit.
Ja, das war das Einzige! Doch zuerst muss man erzählen, dass Vater Rafail, nachdem er sechs Monate lang im Kloster gelebt hatte, aus dem Kloster entfernt und in eine entlegene Landgemeinde verbannt wurde. Ursache für die Ungnade war wieder mal sein älterer Bruder. Zu jener Zeit war Alexander ein in der ganzen Welt bekannter Dissident. Schon seit einigen Jahren befand er sich in Haft, wobei er die meiste Zeit in der Isolationszelle saß. Eine dermaßen strenge Strafe erklärte die Staatsgewalt damit, dass Alexander unverschämte und einfach unmögliche Forderungen an die Gefängnisleitung stellte. Der Häftling bestand darauf, eine Bibel in der Zelle haben zu dürfen, und ebenso auf dem Recht, einen Priester zur Beichte und zur Kommunion zu empfangen.

Als Antwort auf die sich von selbst verstehende Ablehnung durch die Gefängnisleitung lehnte es auch Alexander ab, nach deren Regeln zu leben. Wenn ihm befohlen wurde aufzustehen, setzte er sich hin. Wenn ihm befohlen wurde zu antworten, schwieg er beharrlich. Solche Extravaganzen erforderten freilich einen beneidenswerten Mut. Von den neun Jahren Haft verbrachte er insgesamt zwei Jahre im Hungerstreik und ein Drittel der Zeit in Isolationshaft. (In Klammern ist anzumerken, dass Alexander dennoch als Sieger aus dieser Schlacht hervorging:

Er war der erste sowjetische Häftling, dem im Gefängnis offiziell eine Bibel und der Besuch eines Priesters in seiner Zelle erlaubt wurden.) Als Alexander vor Gericht kam, ließ der Klostervorsteher Vater Rafail zum Prozess fahren und gab ihm für seine Familie heimlich Geld mit.
Aber später kamen die Behörden mit der strikten Forderung, den Bruder des bekannten Dissidenten aus dem Kloster zu entfernen. Sei es, dass der Vorsteher beschlossen hatte, den Konflikt mit der Obrigkeit nicht weiter zuzuspitzen, sei es, weil das Verhältnis zwischen Vater Gawriil und dem jungen Priestermönch zerrüttet war (sehr wahrscheinlich war es beides) – im Endeffekt wurde Vater Rafail jedenfalls aus dem Kloster entfernt und in eine entlegene Landgemeinde geschickt, in die es nicht einmal eine Busverbindung gab, so dass man vom benachbarten Dorf aus einige Kilometer zu Fuß bis zur nächsten Haltestelle gehen musste.

Später wurde er in eine ebenso entlegene, nur etwas größere Gemeinde versetzt, Vater Nikita und Vater Rafail an die Kirche des heiligen Bischofs Mitrofan im Dorf Lossizy, wo sich sonntags nicht mehr als ein Dutzend Menschen einfand. Das Einzige, was Vater Rafail außer seinen Ikonen, ein paar Büchern und dem Mönchsgewand besaß, war ein Tonbandgerät. Doch was für eins! Ein riesiges ausländisches Transistorgerät, das damals in einem Moskauer Kommissionsladen ein ganzes Vermögen kostete: tausend Rubel. Dieser wertvolle Gegenstand wurde Vater Rafail genau am Vorabend seiner Abreise in die Landgemeinde gebracht. Alexander hatte vom Gefängnis aus Freunde gebeten, seinem jüngeren Bruder sein Tonbandgerät zu bringen, um ihn wenigstens materiell etwas zu unterstützen.

Auf diese Weise erfüllte sich dann auch Vater Rafails langgehegter Traum von einem Auto. Das Tonbandgerät wurde unverzüglich verkauft und Vater Rafail erhandelte sich in Pskow auf dem Gebrauchtwagenmarkt einen uralten „Saporoschez“ mit einer widerlichen schmutzig-orangen Farbe. Vater Rafail machte sich selbst daran, diesen halb kaputten Klapperkasten zu reparieren. Er verkroch sich in die Innereien des „Saporoschez“ und kam erst nach einem Monat wieder ans Licht hervor. Aus dem Automobil war ein echtes Unikat geworden. Ich weiß nicht, wie er das fertiggebracht hatte, aber es beschleunigte bis auf hundertfünfzig Stundenkilometer. Nur die grauenhafte Farbe musste noch geändert werden. Vater Rafail war in einem gelb-orangenen Scheusal nach Pskow gefahren und praktisch in einer schwarzen Staatslimousine mit weißen Vorhängen ins Dorf zurückgekehrt. Auf die Frage, warum er ausgerechnet die Farbe Schwarz ausgewählt habe, erklärte Vater Rafail, dass es in der Autowerkstatt nur zwei Farben gegeben hätte: Schwarz und Rot. Und natürlich hatte er Schwarz gewählt, die Farbe der Mönche, weil er nicht mit einem Auto in der Farbe der kommunistischen Flagge herumfahren konnte. Ich denke, es war der einzige „Saporoschez“ der UdSSR in der Farbe von Staatslimousinen.
Keinem anderen wäre es eingefallen, eine solche Klapperkiste schwarz anzustreichen und noch dazu weiße Vorhänge anzubringen, woran man damals die Dienstwagen hoher Amtsträger erkennen konnte. So traurig es ist, aber vonseiten des Priestermönchs Rafail war das Ganze nichts anderes als ein offensichtlicher und vorsätzlicher Unfug. Ganz besonders fand Vater Rafail Gefallen daran, wichtige Bezirksfunktionäre zu reizen. Er heftete sich ans Heck irgendeines schwarzen „Wolgas“ und fuhr lange langsam hinter ihm her, um ihn, wenn er entkommen wollte, mit seinem raketenschnellen „Saporoschez“ zu überholen und wie der Blitz davonzujagen. Und wenn es der „Wolga“ des Pskower Bevollmächtigten für religiöse Angelegenheiten Jüdin war, dann galt dieser Tag als einer, an dem er nicht umsonst gelebt hatte.

kath.net-Buchtipp
Heilige des Alltags
Von Tichon Schewkunow
EOS Verlag
ISBN: 978-3-8306-7829-8
560 Seiten
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