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Das vielleicht schönste Gleichnis Jesu

25. Oktober 2017 in Spirituelles, 1 Lesermeinung
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Newmans Auslegung des Gleichnisses von den zwei Brüdern und dem barmherzigen Vater. Gastbeitrag von P. Hermann Geißler FSO


Rom (kath.net/Internationales Zentrum der Newman-Freunde) Benedikt XVI. nennt das Gleichnis von den zwei Brüdern und dem gütigen Vater das „vielleicht schönste Gleichnis Jesu“1. Papst Franziskus kommt immer wieder auf dieses Gleichnis zu sprechen, um an „die unendliche Barmherzigkeit Gottes“ zu erinnern2. Viele Menschen kennen dieses Gleichnis, verstehen aber nicht immer seinen anspruchsvollen Inhalt. Der selige John Henry Newman (1801-1890) hielt als junger anglikanischer Geistlicher zwei Predigten, in denen er seinen Hörern die innere Seelenhaltung der beiden Brüder vor Augen stellte. Versuchen wir, die wesentlichen Gedanken dieser Predigten zu erfassen und mit einigen Überlegungen aus einer Ansprache Newmans über die Vorsehung des barmherzigen Vaters abzurunden.

1. Der verlorene Sohn

Newmans Auslegung über die Haltung des verlorenen Sohnes ist in einer Predigt enthalten, die er am 20. November 1831 gehalten und unter dem Titel „Christliche Buße“ veröffentlicht hat3. Im Stil der Kirchenväter beschreibt er darin den Weg des verlorenen Sohnes als Weg des gesamten Menschengeschlechts: Jeder von uns ist gefallen, jeder von uns hat sich vom Vater entfernt, jeder von uns ist gerufen, sich der barmherzigen Liebe des Vaters wieder zu öffnen. Freilich geschieht diese Heimkehr nicht ohne menschliches Mittun und nicht immer, wie beim verlorenen Sohn, zu einem genau bestimmten Zeitpunkt. Newman beschreibt die Heimkehr zum Vater schlicht und einfach als Buße und charakterisiert sie als einen Weg, als ein beständiges Mühen, das im Leben des Christen nie abgeschlossen ist: „Buße ist ein Werk, das zu verschiedenen Zeiten seinen Fortgang nimmt und nur nach und nach unter vielen Rückschlägen zur Vollendung gelangt...; oder besser, und ohne irgendwie die Bedeutung des Wortes Buße zu ändern, sie ist ein Werk, nie fertig...; wir sind immer nur am Anfang. Selbst der vollkommenste Christ ist an und für sich nur ein Anfänger, ein reuiger Verschwender, der Gottes Gaben vergeudet hat“4.

Newman versucht, ausgehend vom Gleichnis Jesu, das Wesen jeder wahren Buße zu umreißen. Er setzt dabei bei einem Wort an, mit dem er die ganze Predigt überschreibt: „Vater, ich habe mich gegen den Himmel und gegen dich versündigt. Ich bin nicht mehr wert, dein Sohn zu sein; mach mich zu einem deiner Tagelöhner“ (Lk 15,18-19). Ein Tagelöhner ist ein Knecht, der gehorsam seine Pflicht erfüllt. Wenn ein Mensch seine Sündhaftigkeit erkennt und zum Entschluss kommt, sein Leben zu ändern, so fragt er in der Regel: Was muss ich tun? Diesem Menschen muss gesagt werden, „er solle regelmäßig zur Kirche gehen, sein Morgen- und Abendgebet verrichten und zu bestimmten Zeiten die Schrift lesen“5.

Weil dieser Mensch gewohnt war, sich gehen zu lassen, und fern von Gott lebte, erscheinen ihm diese religiösen Pflichten zuerst wie eine Last: „Das ist der Zustand jener, die mit dem religiösen Gehorsam beginnen. Sie sehen keinen Erfolg aus ihren Werken der Frömmigkeit und Buße, noch finden sie an ihnen Gefallen; sie fühlen sich dem Worte Gottes einfach verpflichtet, weil es sein Wort ist. Ihre Handlungsweise schließt in der Tat Glauben ein, aber sie zeigt auch, dass sie sich in jener Lage eines Knechtes befinden, in der sich der verlorene Sohn bestenfalls fühlte“6. Der verlorene Sohn hatte auf seinem Heimweg keine großen Gefühle, er bat schlicht und einfach darum, einer der Knechte seines Vaters zu werden. Newman kommentiert: „Wir müssen das religiöse Leben mit etwas beginnen, was wie eine Formsache aussieht. Unser Fehler liegt nicht darin, es als eine Formsache zu beginnen, sondern es als eine Formsache fortzusetzen. Denn es ist unsere Pflicht, uns immer zu mühen und zu beten, um in den wirklichen Geist unserer religiösen Übungen einzudringen, und in dem Maße wie wir sie verstehen und lieben, hören sie auf, eine Formsache und eine Bürde zu sein, und sie werden dann der wirkliche Ausdruck unseres Innern. So wandeln wir uns allmählich im Herzen von Knechten zu Kindern Gottes“7. Buße hat also wesentlich mit Pflichterfüllung zu tun, mit der Bereitschaft des reuigen Sünders, wie ein Tagelöhner Gott zu gehorchen – eine Bereitschaft, die freilich immer von der Barmherzigkeit des Vaters umfangen ist und in das neue Leben der Gotteskindschaft einführt.

In einem weiteren Schrift schaut Newman auf die Beweggründe, die den reumütigen Sünder anspornen, zu Gott heimzukehren. Er erinnert daran, dass im Alten Bund wurden für die Sünden des Volkes Schlacht- und Brandopfer dargebracht. Die Propheten und die Psalmen riefen später dazu auf, Gott „ein zerbrochenes und zerschlagenes Herz“ zu bringen (Ps 51,19). Christus hat uns, wie Newman unterstreicht, „einen vollkommeneren Weg gezeigt, als er je zuvor der Menschheit gezeigt worden war. Wie er uns einen höheren Grad der Heiligkeit … und eine tiefere Kenntnis der Wahrheit verspricht, so zeigt er uns auch eine echtere und edlere Art der Buße. Die edelste Buße... ist eine bedingungslose Übergabe seiner selbst an Gott – nicht ein Feilschen um Bedingungen, nicht um ein sogenanntes kluges Berechnen, um wieder Aufnahme zu finden, sondern eine sofortige Übergabe seiner selbst im ersten Augenblick... Dieser ist jener vollkommene Weg, vor dem die Natur zurückschreckt, an dem aber unser Herr in dem Gleichnis sein Gefallen hatte: die Übergabe des eigenen Selbst“8.

Nach Newman liegt in dieser Selbstübergabe der Kern der Buße: „Christliche Reue muss so aussehen: zuerst müssen wir den Gedanken aufgeben, selbst ein Heilmittel für unsere Sünden zu finden; dann müssen wir uns trotz unseres Schuldgefühls entschlossen zu Gott aufmachen... Er freilich kommt uns auf dem Weg mit dem Zeichen seiner Huld entgegen und richtet so den menschlichen Glauben auf, der sonst bei dem Gedanken, dem höchsten Gott zu begegnen, vergehen würde. Damit jedoch unsere Reue christlich sei, muss in ihr jene großmütige Haltung der Selbstübergabe sein, die Anerkennung, dass wir unwürdig sind, weiterhin seine Söhne zu heißen, der Verzicht auf alle ehrgeizigen Hoffnungen, zu seiner Rechten oder zu seiner Linken zu sitzen“9.

Ist diese Art der Buße nicht zu fordernd für uns, vor allem für Anfänger im Glauben, so fragt Newman abschließend. Und er antwortet: „Das Gleichnis sagt uns, worin die Haltung eines echten, reuigen Büßers besteht, nicht wie die Menschen tatsächlich zuerst zu Gott kommen. Je länger wir leben, umso mehr dürfen wir hoffen, diese Art der Buße zu erlangen“10. Buße muss das ganze Leben des Christen prägen, um die wahre Buße muss der Christ ein Leben lang ringen: „Erst wenn der Christ lange den guten Kampf des Glaubens gekämpft hat und durch Erfahrung weiß, wie gering und unvollkommen seine besten Dienste sind, dann kann er sich zufrieden geben, und er gibt sich sehr gern zufrieden mit der Aussage, dass wir nur im Glauben an die Verdienste unseres Herrn und Heilandes aufgenommen werden“11. Den eigentlichen Trost und eine beständige Einladung, sich dem Herrn ganz zu übergeben, findet Newman in der Hingabe des Herrn selbst, die Paulus mit den Worten zusammenfasst: „Christus Jesus ist in die Welt gekommen, um die Sünder zu retten. Von ihnen bin ich der erste“ (1 Tim 1,15). Der Blick zum Gekreuzigten weckt in uns die wahre Bußgesinnung und lädt uns ein, uns ihm zu übergeben, so wie wir sind. Er ist der Erlöser, der uns Sünder zu Kindern Gottes umformen kann.

2. Der ältere Bruder

Zwei Wochen nach dieser Predigt greift Newman dasselbe Gleichnis noch einmal auf und wendet sich dem älteren Bruder zu. Diese Ansprache vom 4. Dezember 1831 hat er mit den Worten „Geistige Enge im Religiösen“ überschrieben12. Darin vergleicht er den älteren Sohn mit „den Arbeitern im Weinberg, die sich über die Güte ihres Herrn beklagten“13, und versucht, dessen innere Gesinnungen zu verstehen und ans Licht zu heben.

Das Verhalten des Vaters gegenüber dem verlorenen Sohn mag zuerst wie „ein offensichtliches Abweichen von den Regeln der Billigkeit und Gerechtigkeit“14 erscheinen. Denn, so fragt Newman, „worin besteht unser großer Halt und Trost inmitten der Wirrnisse dieser Welt? In der Wahrheit und Gerechtigkeit Gottes. Das ist unser einziges Licht inmitten der Finsternis“15. Um der Schwierigkeit zu begegnen, dass es den Bösen hier auf Erden oft gut geht und die Guten leiden müssen, „hat Gott sich immer wieder gewürdigt, die unerschütterliche Regel seiner Weltregierung zu erklären – Gnade dem Gehorsamen, Strafe dem Sünder“16. Ausgehend von solchen Gedanken kann der ältere Sohn nicht verstehen, weshalb der Vater für den heimkehrenden Sohn ein Freudenfest feiern lässt, während er nie ein solches Geschenk erhalten hat. Sein Unverständnis bringt er mit den Worten zum Ausdruck, die Newman unter den Titel der Predigt schreibt: „So viele Jahre schon diene ich dir, und nie habe ich gegen deinen Willen gehandelt; mir aber hast du nie auch nur einen Ziegenbock geschenkt, damit ich mit meinen Freunden ein Fest feiern konnte“ (Lk 15,29). Diese vorwurfsvollen Worte zeigen, dass der zweite Sohn, der zuhause geblieben war, sich innerlich ebenfalls von seinem Vater entfernt hatte.

Wie antwortet der Vater auf diese harte Anklage? Newman nennt die Antwort des Vaters „sehr lehrreich“, denn „sie bestätigt die große Wahrheit, die in Gefahr zu sein schien, nämlich: dass es letztlich nicht dasselbe ist, zu gehorchen oder nicht zu gehorchen; sie sagt uns ausdrücklich, dass der reuige Christ nicht auf eine Stufe mit denen gestellt wird, die von Anfang an beharrlich Gott gedient haben“17. Der Vater sagt nämlich: „Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist auch dein“ (Lk 15,31). Der Vater will dem älteren Sohn gleichsam in Erinnerung rufen, wie sehr er ihn liebt: „Du hast mein Vertrauen... Du bist immer bei mir; kannst du es mir wirklich verübeln, dass ich durch eine einzige Tat der Freude meine Befriedigung über die Wiedergewinnung des Sünders zeige und mit dem Versprechen gnädigen Erbarmens den tröste, der unter der Furcht der verdienten Strafe zusammenbrach, noch ehe er davon hörte?“18. Warum kann der ältere Bruder nicht verstehen, dass das Verhalten des Vaters gegenüber dem reumütigen Sohn nicht dessen Liebe zu ihm selber in Frage stellt? Warum verharrt er im Zorn und will nicht in das Haus hineingehen, um am Fest des heimgekehrten Bruders teilzunehmen?

Newman versucht, in mehreren Schritten auf diese Frage zu antworten und in das Herz des älteren Bruders einzudringen. Er verweist zuerst auf dessen zu kleinliches, zu menschliches und zu routinemäßiges Denken: „Der ältere Bruder hatte immer zu Hause gelebt; er hatte gesehen, wie gleichmäßig die Dinge dahingingen, und gleichmäßig verlief, was nur natürlich und recht war, auch sein Leben, das an ihnen hing... Er meinte, die Wege und Grundsätze seines Vaters viel besser zu verstehen, als es der Fall war, und da ein Ereignis eintrat in einer Gestalt, die ihm seither noch nicht begegnet war, verlor er sich selbst... Wir sollten uns vor der Annahme hüten, eine solch klare Erkenntnis der Wege Gottes zu haben, dass wir uns unbedingt auf unsere eigenen Vorstellungen und Gefühle verlassen können“19. Gott ist anders und größer, als wir ihn uns vorstellen. Und Gottes Wege sind anders und wunderbarer, als wir es oft erwarten. Wir dürfen Gott nicht in unseren kleinen Verstandeshorizont zwängen, sondern müssen für sein oft überraschendes Handeln offen bleiben. Nicht Geistesenge, sondern Großherzigkeit gegenüber Gott ist angesagt.

Newman geht noch einen Schritt weiter und beschreibt die innere Gesinnung des älteren Bruders als Selbstsicherheit. Seiner Auffassung nach werden Menschen wie der ältere Bruder „nicht nur allzu sicher wegen ihrer Kenntnis der Wege Gottes, sondern rechthaberisch in ihrer allzu großen Sicherheit. Sie dulden keinen Widerspruch gegen ihre Ansichten und klammern sich im Allgemeinen fest gerade an die Punkte, die ganz besonders von ihnen selbst erdacht sind. Sie vergessen, dass alle Menschen bestenfalls Lehrlinge in der Schule der göttlichen Wahrheit sind, dass sie selbst immer Lernende sein sollten und dass sie von der Wahrheit ihres Bekenntnisses überzeugt sein könnten, ohne darum in den Einzelheiten religiöser Ansichten eine ähnliche Sicherheit zu haben“20. Newman unterstreicht, dass der rechte Glaube „immer rege und wach (ist), mit offenen Augen und Ohren für die Winke des göttlichen Willens, mag er durch die Natur oder die Gnade sprechen“21. Nicht Rechthaberei, sondern Ehrfurcht und stete Bereitschaft, sich von der göttlichen Vorsehung leiten zu lassen, zeichnen echte Christen aus.

In einem dritten Schritt beschreibt Newman die Gesinnung des älteren Bruders als Undankbarkeit. Dankbarkeit für das Walten Gottes muss das Herz der Gläubigen formen: „Gott wirkt auf wunderbare Weise in der Welt; und zu gewissen Zeiten nimmt seine Vorsehung eine neue Gestalt an. Die Religion scheint zu versagen, während sie nur ihre Form ändert. Gott scheint für einen Augenblick seine eigenen erwählten Werkzeuge aufzugeben und die Ehre solchen zukommen zu lassen, die in offenem Ungehorsam gegen seine Gebote stehen. Er wirkt z.B. bisweilen Gutes durch Böse, oder scheint die Anstrengungen derer mehr zu segnen, die sich von seiner heiligen Kirche getrennt haben, als die seiner treuen Arbeiter. Darin besteht für den Christen die Prüfung seines Glaubens. Wenn der Sachverhalt so liegt, darf ihm der Christ nicht Widerstand leisten, damit er nicht etwa als Anführer gegen Gott erfunden werde, noch darf er sich darüber beklagen wie der ältere Bruder. Im Gegenteil, er muss alles als Gabe Gottes hinnehmen, an seinen Grundsätzen festhalten und darf sie nicht aufgeben, weil der äußere Schein im Augenblick gegen sie spricht, sondern muss glauben, dass schließlich alle Dinge wieder ins Geleise kommen“22. Vertrauen auf die göttliche Vorsehung bedeuten also nicht Unsicherheit oder Wankelmütigkeit, sondern demütiges Feststehen in der Wahrheit, die uns Christus offenbart hat.


Abschließend warnt Newman vor einer Untugend, die im älteren Bruder schlummerte und die immer wieder an die Herzen der Christen klopft: die Unzufriedenheit, die schnell zu Herzenshärte führt: „Nehmen wir uns in acht vor Unzufriedenheit ...; und da wir hören müssen, was in der Welt vor sich geht, wollen wir uns dabei vor allen unbeherrschten, lieblosen Gefühlen gegen jene hüten, die anders denken oder uns widerstehen. Beten wir für unsere Feinde; versuchen wir, die Menschen für so gut zu halten, als man sie mit Fug und Sicherheit ansehen kann; freuen wir uns über alle Anzeichen der Reue oder alle Merkmale guter Grundsätze bei denen, die auf der Seite des Irrtums sind. Seien wir versöhnlich“23. Zufriedenheit und Mitfreude: diese Haltungen bewahren uns davor, hartherzig wie der ältere Bruder zu werden. Sie schenken Gelassenheit und Zuversicht.

3. Der barmherzige Vater

Newman spricht in den beiden Predigten aus dem Jahr 1831 kaum vom barmherzigen Vater. In anderen Ansprachen zeichnet er aber ein wunderbares Bild des Vaters, etwa in der Predigt zum Thema „Die besondere Vorsehung, im Evangelium geoffenbart“ vom 5. April 183524, mit der wir diese Überlegungen abrunden wollen.

Newman beginnt diese Ansprache mit dem Verweis darauf, dass die Menschen vor dem Kommen Christi „mit gewissen gelegentlichen Fingerzeigen von Gottes Obsorge für die einzelnen“, aber „zum größten Teil ... nur ... über seine allgemeine Vorsehung“ belehrt wurden25, also mit seiner allgemeinen Sorge für die Welt. Das Evangelium zeigt uns dagegen klar, dass „Gott diese besondere Obsorge jedem von uns angedeihen lässt“26.

Freilich scheint die Offenbarung über diese besondere Vorsehung zunächst mit einigen Schwierigkeiten für unseren Verstand verbunden zu sein. Newman erinnert daran, dass wir Christen uns oft wie die anderen Menschen vom Strom des weltlichen Lebens treiben lassen und wenig Vorstellung von der Vorsehung haben: „Wir begreifen, dass Gott nach einem großen Plan wirkt; aber wir können die wunderbare Wahrheit nicht lebendig erfassen, dass er die einzelnen sieht und an sie denkt. Wir können nicht glauben, dass er wirklich allgegenwärtig ist, dass er, obgleich unsichtbar, überall ist, wo wir sind... Wir wissen, dass er im Himmel ist, und vergessen, dass er auch auf Erden ist“27. Dieser Mangel an Glauben ist für Newman der Grund, „warum die meisten Menschen so profan sind. Sie führen leichtfertige Reden und spotten über Religion; sie gestatten sich, lau und gleichgültig zu sein...; und dies, weil sie keine Ahnung von einer Wahrheit haben, die sie andererseits keineswegs zu leugnen beabsichtigen, nämlich dass Gott sie sieht“28.

Weiter erklärt Newman, wie diese Schwierigkeiten zunehmen, wenn die Menschen in irdische Nöte geraten. Dann werden sie oft von den anderen im Stich gelassen und „sie verzagen, weil sie sich die liebende Güte und die Gegenwart Gottes nicht lebendig vergegenwärtigen. Sie finden keinen Trost in einer Wahrheit, die für sie keine Wirklichkeit, sondern eine Meinung ist“29. Der Glaube an die göttliche Vorsehung ist ihnen fremd „und vermindert nicht ihr Leid, denn sie haben ihr Herz nicht fühlen lassen, dass er ein barmherziger Gott ist, der sich um sie persönlich kümmert“30.

Ausgehend vom Evangelium zeigt Newman im Hauptteil der Ansprache, „dass das eigentliche Kennzeichnen der ... Güte unseres Herrn ihre Zartheit und Rücksichtnahme ist“31. Wie aber können wir diese Merkmale dem allmächtigen Schöpfer zuerkennen? Wie kann sich der gerechte und heilige Gott persönlich um jeden einzelnen kümmern? Newman antwortet: „Damit wir verstehen möchten, dass er trotz seiner geheimnisreichen Vollkommenheiten die einzelnen besonders kennt und berücksichtigt, hat er das Denken und Fühlen unserer eigenen Natur angenommen, die, wie wir alle wissen, solcher persönlicher Zuneigung fähig ist“32. Gott ist uns in seinem Sohn Jesus Christus ganz nahe gekommen, in ihm leuchtet seine Barmherzigkeit und liebevolle Fürsorge gegenüber jedem einzelnen in einzigartiger Weise auf: „Dies könnte veranschaulicht werden ... an dem zartfühlenden Benehmen unseres Herrn gegenüber Lazarus und seinen Schwestern, oder an seinen Tränen über Jerusalem, oder an seinem Verhalten gegenüber Sankt Petrus vor und nach seiner Verleugnung, oder gegen den zweifelnden Thomas, oder an seiner Liebe zu seiner Mutter oder zum heiligen Johannes“33.

Auch das Verhalten Jesu gegenüber Fremden, die sich an ihn wandten, kann uns Vertrauen einflößen: „Allheilig, allmächtig wie er ist und sich gezeigt hat, konnte er trotz seiner göttlichen Majestät eine zartfühlende Anteilnahme für alle bekunden, die sich ihm nahten; als ob er auf keines seiner Geschöpfe einen Blick werfen könnte ohne die überfließende Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die es mit Wohlgefallen betrachtet und einfach sein Glück und sein Bestes wünscht“34. Newman erwähnt in diesem Zusammenhang etwa die Liebe Jesu zum reichen Jüngling (vgl. Mk 10,21) sowie sein Mitleid gegenüber dem Aussätzigen, den er heilte (vgl. Mk 1,41). In diesen und anderen Erzählungen berichtet uns das Evangelium nicht nur von einem unveränderlichen Schöpfer, sondern auch von einem mitfühlenden Behüter, einem Helfer und Heiland, einem Freund, der sich um die Menschen kümmert.

An dieser Stelle der Predigt spricht Newman den Hörer direkt an und schenkt uns einen herrlichen Lobpreis auf die Vorsehung Gottes: „Gott sieht dich persönlich, wer immer du bist. Er ruft dich bei deinem Namen (vgl. Jes 43,1). Er sieht dich und versteht dich, weil er dich geschaffen hat. Er kennt, was in dir ist, alle deine eigenen besonderen Gefühle und Gedanken, deine Anliegen und Neigungen, deine Stärke und deine Schwäche. Er erblickt dich am Tag deiner Freude und am Tag deiner Trauer. Er nimmt Anteil an deinen Hoffnungen und Versuchungen. Er kümmert sich um alle deine Befürchtungen und schmerzvollen Erinnerungen, um all das Auf und Ab deines Gemütes. Er hat sogar die Haare deines Hauptes und die Ellen deiner Leibeslänge gezählt. Er umgibt dich und trägt dich auf seinen Armen; er hebt dich auf und setzt dich nieder. Er nimmt auch auf deinem Antlitz wahr, ob es lacht oder weint, ob es gesund oder kränklich ist. Er schaut mit Zartgefühl auf deine Hände und Füße; er hört deine Stimme, das Pochen deines Herzens und selbst deinen Atem. Du liebst dich selbst nicht mehr, als er dich liebt... Du bist nicht nur sein Geschöpf..., du bist ein Mensch, erlöst und geheiligt, an Sohnes statt angenommen, begnadet mit einem Anteil jener Herrlichkeit und Glückseligkeit, die von ihm ohne Unterlass zu seinem Eingeborenen hinströmt. Du bist erwählt, sein Eigentum zu sein... Du bist einer von denen gewesen, für die Christus sein letztes Gebet darbrachte, das er mit seinem kostbaren Blut besiegelte. Welch ein Gedanke ist das, ein Gedanke, fast zu groß für unseren Glauben!“35.

In dieser Predigt zeichnet Newman in herrlichen Worten das Bild eines barmherzigen Gottes, der sich um jeden einzelnen liebevoll kümmert, ohne dabei in ein banales oder zu menschliches Denken zu verfallen. Er ruft uns abschließend auf: „Bemühen wir uns also mit Hilfe seiner Gnade, recht zu begreifen, wo wir stehen und wie er sich uns gegenüber verhält; wie überaus liebevoll und barmherzig er ist und doch trotz all seines Erbarmens nicht um Haaresbreite die ewigen Grenzen der Wahrheit, Heiligkeit und Gerechtigkeit überschreiten“36.

Schlusswort

In den Predigten, die wir betrachtet haben, spricht Newman vom faszinierenden Weg der Nachfolge Christi und von der Bedeutung des Glaubens an die Vorsehung Gottes. Ein solcher Glaube, der im Vertrauen auf die barmherzige Liebe des Vaters gründet, kann in uns stets neu die echte Bußgesinnung wecken, die den verlorenen Sohn heimwärts führte. Er vermag uns vor der Herzenshärte des älteren Bruders zu bewahren, die ihn daran hinderte, sich für die barmherzige Liebe zu öffnen und sich mit seinem Bruder zu freuen. Vertrauen, Buße, Dankbarkeit und Mitfreude prägen das Leben jener Christen, die das Gleichnis von den zwei Söhnen und dem barmherzigen Vater nicht nur kennen, sondern auch in ihrem Leben verwirklichen. P. Dr. Hermann Geißler FSO

Pater Dr. Hermann Geißler FSO / © Internationales Zentrum der Newman-Freunde Via Aurelia 257, 00165 Rom

Anmerkungen
1 Joseph Ratzinger/Benedikt XVI., Jesus von Nazareth, Band I: Von der Taufe im Jordan bis zur Verklärung, Freiburg 2007, 242.
2 Franziskus, Ansprache bei der Generalaudienz, 11. Mai 2016.
3 John Henry Newman, Predigten. Gesamtausgabe, Band III, Schwabenverlag, Stuttgart 1951, 102-114.
4 Ebd., 103.
5 Ebd., 104f.
6 Ebd., 106.
7 Ebd.
8 Ebd., 109f.
9 Ebd., 110.
10 Ebd., 110f.
11 Ebd., 111f.
12 John Henry Newman, Predigten, Gesamtausgabe, Band III, Schwabenverlag, Stuttgart 1951, 115-126.
13 Ebd., 115.
14 Ebd., 116.
15 Ebd., 117.
16 Ebd.
17 Ebd., 119.
18 Ebd., 119f.
19 Ebd., 121f.
20 Ebd., 122.
21 Ebd., 123.
22 Ebd., 124f.
23 Ebd., 125f.
24 John Henry Newman, Predigten. Gesamtausgabe, Band III, Stuttgart 1951, 127-141.
25 Ebd., 127.
26 Ebd., 128.
27 Ebd., 129.
28 Ebd., 129f.
29 Ebd., 130.
30 Ebd., 131.
31 Ebd., 132.
32 Ebd., 133.
33 Ebd., 133f.
34 Ebd., 136f.
35 Ebd., 138f.
36 Ebd., 141.

Seligsprechung von Kardinal Newman - Hl. Messe mit Papst Benedikt vom 19. Sept. 2010



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Lesermeinungen

 Stefan Fleischer 25. Oktober 2017 

Solche Predigten fehlen uns heute

Predigten über die "bedingungslose" Barmherzigkeit Gottes sind heute keine Mangelware. Aber Ermahnungen, wie sie hier besonders im ersten und zweiten Teil vorkommen, sind eher selten. Dabei wäre sie gerade heute besonders nötig.


2
 

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