Das stille Schisma

20. August 2007 in Schweiz


Was Schweizer Katholiken von katholischen Schweizern trennt – von Christian Ruch / Stimmen der Zeit.


München (www.kath.net)
Die Feststellung, dass sich die römisch-katholische Kirche in den deutschsprachigen Ländern angesichts von Priestermangel, Gläubigenschwund und Reformstau in einer Krise befinde, ist ebenso wohlfeil wie abgedroschen.

Im Fall der Schweiz tragen jedoch auch die strukturellen Eigenheiten des Staatskirchenrechts dazu bei, dass an der Basis ebenso wie an der Kirchenspitze eine tiefsitzende Frustration festzustellen ist, für den die jeweils andere Seite mehr oder weniger explizit verantwortlich gemacht wird.

Mehr noch: In der Schweiz prallen mittlerweile zwei völlig unterschiedliche ekklesiologische Ansätze aufeinander, die je länger desto weniger miteinander vereinbar scheinen. Im Grund genommen ist ein „Kampf der zwei Linien“ zu beobachten, der vielleicht schon schismatische Züge angenommen hat, auch wenn dies so (noch) nicht offen ausgesprochen wird.

Denn während die Bischöfe und die sogenannten „romtreuen“ Katholiken ein eher traditionelles, weltkirchlich orientiertes Konzept vertreten, das am hierarchischen Aufbau der Kirche und damit selbstverständlich auch am Primat des Papstes festhält, ist an der Basis – und dies gilt auch und gerade für viele pastoral und liturgisch Tätige – der Wunsch nach Veränderung hin zu einer ortskirchlich zentrierten und demokratisch strukturierten Kirche, die in drängenden Fragen wie der Frauenordination auch den nationalen Alleingang nicht scheuen würde, geradezu mit Händen zu greifen.

Diese ortskirchlich zentrierte und demokratisch strukturierte Kirche ist durch die Eigenheiten des schweizerischen Staatskirchenrechts teilweise bereits Realität – trotzdem oder gerade deshalb werden immer wieder radikale Reformen gefordert.

Das „Luzerner Manifest“

Jüngster Ausdruck der Frustration an der Basis und ihres Drängens, die Probleme unabhängig von Rom anzupacken, ist das „Luzerner Manifest“ vom 28. Oktober 2006, in dem nicht nur die Gleichberechtigung von Männern und Frauen in der Kirche gefordert, sondern mehr oder weniger unverhohlen dazu aufgerufen wird, Personal auch unabhängig von der Erteilung einer bischöflichen Missio zu rekrutieren:

„Wir ermutigen die Kirchgemeinden dazu, ihre Verantwortung dem Evangelium gegenüber, ihre Mündigkeit und ihr Recht wahrzunehmen, Frauen und Männer in pastorale Leitungsfunktionen zu wählen, die der Gemeinde persönlich, fachlich, spirituell und sozial kompetent zu dienen vermögen.“( zitiert nach www.luzerner-manifest.ch/manifest.html)

Die von mehr als 100 Personen unterzeichnete Erklärung fand naturgemäß nicht die Zustimmung der Bischöfe und offizieller kirchlicher Kreise. Der Aufruf, Personen auch ohne Missio einzustellen, könne „kein Weg des geschwisterlichen Miteinanders sein“, und solche schismatische Tendenzen gäben zu „großer Sorge“ Anlass, so Felix Gmür, Sekretär der Schweizerischen Bischofskonferenz (SBK).

Wenige Wochen später reagierte auch der Basler Bischof Kurt Koch auf die Resolution, und dies schon um einiges schärfer als der Sekretär der Bischofskonferenz. Besonders erzürnt hat ihn offenbar die Erklärung der Manifest-Initiant(inn)en, dass es, „obwohl wir eine Weltkirche sind, ... keinen Grund“ gebe, „dass die Bischöfe dringende Reformen verhindern. Die Bedürfnisse eines Landes können niemals zur gleichen Zeit die gleichen eines anderen Landes sein. Die Schweiz könnte in dieser Hinsicht eine Vorreiterrolle einnehmen. Das Zentrale unseres Glaubens, die Nachfolge Jesu, bleibt trotz Reformen unangetastet.“

Dazu Koch: „Wenn man das ,Luzerner Manifest‘ beim Wort nimmt, kann es letztlich nicht anders interpretiert werden denn als Zumutung an uns Schweizer Bischöfe, uns von der Weltkirche abzuspalten.“ Dies sei jedoch „ungeheuerlich“. Koch weiter: „Hinter diesem Verhalten dürften sich Tendenzen verbergen, die aus der katholischen Kirche in der Schweiz eine Nationalkirche machen möchten.“

Ein Dorf namens Röschenz

Der Tonfall des Luzerner Manifests zeigt ebenso wie Kochs harsche Reaktion, wie angespannt, um nicht zu sagen vergiftet das innerkirchliche Klima inzwischen schon ist. Dies dürfte nicht zuletzt an einem Konflikt liegen, der einerseits noch unabsehbare Folgen haben könnte, anderseits aber auch die ganze Misere des staatskirchenrechtlichen Konstrukts in der Schweiz deutlich werden lässt.

Auf den schon seit Jahren mal schwelenden, dann wieder offen ausgetragenen Konflikt selbst soll hier nur kurz eingegangen werden: Nachdem der aus Deutschland stammende Pfarradministrator der Gemeinde Röschenz südwestlich von Basel Bischof Koch mehrmals öffentlich hart attackiert hatte, wurde er am 22. Oktober 2005 vom Dienst suspendiert; kurz zuvor war ihm bereits die Missio entzogen worden.

Nach Rechtsauffassung der Bistumsleitung hätte die Kirchgemeinde Röschenz den Pfarradministrator daraufhin entlassen müssen. Dies geschah jedoch nicht; vielmehr solidarisierte sich die Kirchgemeinde mit ihrem Priester und versteht es bis heute, sich auf äußerst geschickte Weise in den Medien als Opfer bischöflicher Willkür und den Konflikt zwischen Pfarradministrator und Bischof als eine Art Kampf David gegen Goliath darzustellen.

Die Schweizer Medien folgen weitgehend dieser Sichtweise. Inzwischen wies die Synode des Kantons Basel-Land zwar die Kirchgemeinde Röschenz an, den Pfarradministrator zu entlassen, doch die Kirchgemeinde zog gegen diese Anweisung vor Gericht.

Nur einen Tag nach der Suspendierung wandte sich Bischof Koch brieflich an die Seelsorgenden seines Bistums und beklagte, daß der Priester – der ungeachtet der Suspendierung, dafür aber mit dem Segen seiner Gemeinde weiterhin seelsorgerisch wirkt – „in seinem schismatischen Handeln vom Kirchgemeinderat Röschenz auf eine für mich und den Bischofsrat völlig unverständliche Weise unterstützt“ werde: „Gegenüber staatskirchenrechtlichen Institutionen habe ich als Bischof aber überhaupt keine Weisungsbefugnisse. Diese sind staatliche Institutionen, freilich mit kirchlichem Zweck.

Selbst dann, wenn staatskirchenrechtliche Institutionen ihre Kompetenzen überschreiten und ihrem kirchlichen Zweck zuwider handeln, wie dies beim Kirchgemeinderat Röschenz eindeutig der Fall ist, bleibt der Bischof ohne jede kirchenrechtliche Möglichkeit.“

Kirchenrecht versus Staatskirchenrecht oder: Die Quadratur des Kreises

Kochs Klage über fehlende Weisungsbefugnisse und kirchenrechtliche Möglichkeiten gegenüber staatskirchenrechtlichen Institutionen benennt genau genommen schon den Kern des Konflikts: Das weltweit einzigartige „duale System“ aus einem Nebeneinander von kirchen- und staatskirchenrechtlichen Institutionen und Strukturen verschafft den Schweizer Kirchgemeinden ein – von Kanton zu Kanton verschieden – großes Maß an Autonomie, auch und gerade gegenüber der Kirche selbst, schränkt aber gerade dadurch die Autonomie der Kirche insgesamt ein.

Da die Schweizer Bundesverfassung die Regelung des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat den Kantonen überläßt (Art. 72 BV), gibt es in der Schweiz kein einheitliches Staatskirchenrecht. In der Deutschschweiz wurde die Anerkennung der römisch-katholischen Kirche als öffentlich-rechtliche Körperschaft an die Bedingung geknüpft, vergleichbar zu den reformierten Landeskirchen demokratisch legitimierte Institutionen zu schaffen.

Damit wurden parallel zu den Instanzen der Kirche, wie sie das Kirchenrecht vorsieht, legislativ und exekutiv wirkende staatskirchenrechtliche Körperschaften eingerichtet. Das Besondere an ihnen ist, dass diese Institutionen nicht nur eine konsultative Funktion haben, sondern für die Verwaltung eines Großteils der Kirchensteuereinnahmen und die personellen Angelegenheiten zuständig sind.

Dem rebellischen Pfarradministrator von Röschenz kommt daher zugute, dass er nicht vom Bistum, sondern von seiner Kirchgemeinde angestellt wurde und damit auch nur von ihr in einem arbeitsrechtlich relevanten Sinn entlassen werden kann.

„Sonderfall Schweiz“

Dieses System fördert eine sehr starke Autonomie der Kirchgemeinde, die in der Schweiz schon immer stark verankert war und in der großen Autonomie der politischen Gemeinden ihr Pendant findet. Ausdruck dieser kirchlichen Autonomie ist etwa, dass ein Großteil der Kirchensteuereinnahmen vor Ort beziehungsweise bei der Kantonalkirche verbleibt.

Von den rund 140 Millionen Schweizer Franken Kirchensteuern, die beispielsweise im Kanton Zürich eingezogen werden, bleiben den Gemeinden cirka 110 Millionen, 30 Millionen gehen an die kantonal-landeskirchliche Körperschaft, von diesen 30 Millionen wiederum rund eine Million an die Römisch-katholische Zentralkonferenz (RKZ) und das Bistum Chur.

Man kann zur Sinnhaftigkeit dieses speziell schweizerischen Dualismus sicher stehen, wie man mag – zutreffend dürfte jedoch in jedem Fall die Feststellung sein, dass er zwar der politischen Tradition der Schweiz Rechnung trägt, dem hierarchischen Kirchenverständnis des Katholizismus aber natürlich diametral zuwiderläuft und gewissermaßen zwei völlig verschiedene ekklesiologische Konzepte unter einen Hut zu bringen versucht.

Diese Quadratur des Kreises hat weitreichende Folgen, denn es wird, zumindest von vielen kirchlich engagierten Laien, etwas als selbstverständlich angesehen, was – wenigstens aus Sicht der Kirche und ganz bestimmt aus Sicht des Vatikans – gar nicht selbstverständlich, sondern lediglich nolens volens als „Sonderfall Schweiz“ zu akzeptieren ist.

Der „Kampf der zwei Linien“ besteht, wie es Daniel Kosch [Generalsekretär der RKZ, Anm. d. Red.] sehr treffend formuliert hat, genau genommen aus einem Konflikt zwischen Schweizer Katholiken und katholischen Schweizern:
Schweizer Katholiken halten die kirchenrechtlich vorgesehenen Strukturen für „ausreichend“ und sehen die staatskirchenrechtlichen Körperschaften daher als „staatliche Zwangsjacke“. Katholische Schweizer hingegen wollen die orts- und kantonalkirchlichen Instanzen mit möglichst weitreichenden Kompetenzen ausstatten; es gelte „das Prinzip: Wer zahlt, befiehlt. Eine Weisungsbefugnis des Papstes oder des Bischofs wird zumindest in der Tendenz als Fremdeinmischung empfunden.“

Kosch – als Generalsekretär der RKZ naturgemäß ein Befürworter des „dualen Systems“ – sieht die Funktion der staatskirchenrechtlichen Institutionen darin, demokratische Prinzipien in der Pastoral „zur Geltung (zu) bringen, sich für mehr Partizipation und Synodalität, für Gewaltentrennung und Transparenz sowie für Mitentscheidungsrechte aller Angehörigen des Volkes Gottes ein(zu)setzen und auf der Ebene der Gemeinden, der Ortskirchen und der Gesamtkirche für entsprechende Reformen des Kirchenrechtes und für einen entsprechenden Stil von Pastoral und Kirchenleitung ein(zu)treten“ (D. Kosch: Staatskirchenrechtliche Strukturen im Dienst der Kirche (II), in SKZ 172).

Kritiker des „dualen Systems“ wie der Jurist Franz Xaver von Weber sehen in ihm dagegen den Versuch, basierend auf der Verfügungsgewalt über die Kirchensteuern am Kirchenrecht vorbei moderne beziehungsweise modernistische Kirchenkonzepte durchzuboxen, obwohl theologische Fragen nicht in die Kompetenz der staatskirchenrechtlichen Körperschaften fielen.

Welche Macht diese mittlerweile besäßen, zeige auch der Umstand, dass sie von staatlicher Seite zunehmend als kirchliche Repräsentanz angesehen würden und es gemäß einem Urteil des Schweizer Bundesgerichts nicht möglich sei, aus der Kirchgemeinde auszutreten, ohne die Kirche als solche verlassen zu müssen. Dieses Urteil stelle einen Verstoß gegen die Religions- und Bekenntnisfreiheit dar (Vgl. dazu F. X. v. Weber, Das staatskirchliche System als institutionalisierte Krise, in: SKZ 172).

Ähnlich argumentiert Martin Grichting, Vizeoffizial des Bistums Chur: „Das neuerdings vorgetragene Ansinnen, die Kirchgemeinden und ,Landeskirchen‘ als kanonische Institutionen anzuerkennen“, bedeute nichts anderes als „der Kirche zuzumuten, sie solle sich die verquere ,Ekklesiologie‘ zu eigen machen, welche die Kirche in zwei sich souverän gegenüberstehende ,Machtblöcke‘ spaltet, die dann ,einvernehmlich‘ nach Lösungen suchen sollen.

Wenn ,Verhandeln und Vereinbaren‘ schließlich der Weg sein soll, diese Einvernehmlichkeit herzustellen, ist leicht zu ermessen, wie es um den angeblich dienenden Charakter der staatskirchenrechtlichen Organisationen tatsächlich bestellt ist.“ (M. Grichting, Mittelalterliche Wurzeln des Schweizer Staatkirchenrechts, in: SKZ 172)

Das staatskirchliche System der Schweiz sei zumindest hinsichtlich der katholischen Kirche „wohl eines der unfreiesten in der freien Welt“. Es gelte daher, „die Verdoppelung der Institutionen abzuschaffen und die Kirchensteuerhoheit derjenigen Institution zu überlasen, für welche die Kirchensteuern auch geschaffen wurden, nämlich der Kirche selbst“ (v. Weber, SKZ 172).

Das Menetekel von Chur

Daß den Gegnern des „dualen Systems“ vor allem die Verfügungsgewalt der staatskirchenrechtlichen Körperschaften über die Kirchensteuern ein Dorn im Auge ist, hat seinen guten Grund: Als 1990 der in liberalen Kreisen verhaßte Koadjutor des Bistums Chur, Wolfgang Haas, zum Bischof ernannt wurde, fror die Synode der Zürcher Kantonalkirche die Beiträge an das Bistum ein und schloß den Generalvikar von den Sitzungen der Zentralkommission (Exekutive der Kantonalkirche) aus(Vgl. Wolfgang Haas: Bischof ohne Volk – Volk ohne Bischof. Dokumentation u. kritischer Kommentarder Ereignisse rund um den Fall Haas, hg. v. M. Amherd (Zürich 1991)).

Mit der Gründung eines eigens für Haas neugeschaffenen Erzbistums Vaduz entschieden die staatskirchenrechtlichen Instanzen die zermürbende Machtprobe letztendlich für sich.

Dieser schwere innerkirchliche Konflikt wird von Befürwortern und Gegnern des „dualen Systems“ auch heute noch völlig unterschiedlich wahrgenommen: Für die „romtreuen“ Schweizer Katholiken ist er insofern eine Art Menetekel, als „die Kantonalkirchen die Kompetenzabgrenzungen“ seit dem Sieg der Zürcher Kantonalkirche „immer weniger“ beachten würden (v. Weber, SKZ 172).

Für die eher kirchenkritischen katholischen Schweizer ist der Konflikt dagegen nach wie vor ein fast romantisch verklärter gemeinsamer Kampf, der „ein unwahrscheinliches Solidaritätsbewußtsein geweckt“ habe (Amherd (A. 14) 24).

Angesichts der Empörung, die das Kirchenvolk im Bistum Chur und vor allem im Kanton Zürich erfaßte, fällt es nicht schwer zu verstehen, warum das Bistum Basel nun so empfindlich auf die Ereignisse in Röschenz reagiert – denn was geschähe, käme es zu einem vergleichbaren Solidaritätsbewußtsein weit über Röschenz und den Kanton Basel-Land hinaus? Müßte Bischof Koch dann nicht ebenfalls die finanzielle Entzugsmacht der staatskirchenrechtlichen Körperschaften fürchten?

Die katholische Kirche in der Schweiz – ein Laienparadies?

Das „duale System“ birgt aber noch auf anderen Gebieten Konfliktpotential, so etwa auf den Ebenen der Liturgie und Pastoral. Stark begünstigt durch die Gemeindeautonomie und den auch in der Schweiz notorischen Priestermangel wirken Laien, das heisst in diesem Fall theologische und religionspädagogische Fachkräfte beiderlei Geschlechts so stark am Gemeindeleben mit, daß Liturgie und Pastoral ohne sie in vielen Fällen gar nicht mehr denkbar wären.

Es kommt nicht von ungefähr, daß deutsche Theologinnen und Theologen so zahlreich in die Schweiz auswandern: Hier finden sie – zumindest auf der für sie relevanten Ebene der Kirchgemeinde – noch halbwegs gesunde kirchliche Finanzen, keine drohende Arbeitslosigkeit durch Stellenstreichungen und eine Fülle an Gestaltungsmöglichkeiten vor, von denen sie in Deutschland nur träumen konnten.

Zumindest für die pastoral Tätigen von der anderen Rheinseite ist die katholische Schweiz also tatsächlich so etwas wie ein Laienparadies. Mittlerweile ist die starke Präsenz der Deutschen in vielen Schweizer Gemeinden allerdings so unüberseh- und vor allem unüberhörbar geworden, dass Geistliche „schon das gefährliche Wort ,Überfremdung‘“ gebrauchen (L. Karrer, Mangel an theologischem Nachwuchs in der Schweiz?, in: SKZ 174).

Die Freiräume ermöglichen zwar manches Experiment, doch haben sie gerade deshalb nicht nur positive Seiten – denn wenn die Liturgin einer Gemeinde dem vierjährigen Mädchen an der Hand seiner Mutter bei der Kommunionausteilung mit einer geradezu verblüffenden Selbstverständlichkeit eine Hostie in die Hand drückt, in einer anderen Gemeinde reformierte Gottesdienstbesucher allen bischöflichen Ermahnungen und Verboten zum Trotz ausdrücklich zum Kommunionempfang eingeladen werden und in einer dritten Gemeinde im Rahmen der kirchlichen Erwachsenenbildung Kurse in „karmischer Astrologie“ angeboten werden (Diese drei Beispiele beruhen auf persönlichen Erfahrungen des Autors.), könnte der Eindruck entstehen, daß sich so manche Schweizer Pfarrei dank Gemeindeautonomie und faktisch oft kaum beschränkter Laienfreiheit in einer theologischen Schieflage befindet.

Zu beobachten ist auch, daß sich viele pastoral Tätige inzwischen mit dem „kleinen Glück“ des „erfahrungsintensiven“ Geschehens vor Ort zufrieden zu geben scheinen. „Statt des intellektuellen Diskurses belieben mehr erlebnishafte Events, Symbole und Zugehörigkeiten sowie assoziative Metaphern, Symbole und Allegorien“; daß dabei die theologische Qualität schnell auf der Strecke bleiben kann, liegt nahe.

In zahlreichen Gemeinden haben sich Laien innerhalb wie außerhalb der Pastoral vom theologischen Diskurs abgekoppelt und pflegen viel lieber das, was der in Fribourg wirkende Theologe Leo Karrer unlängst als eine Art kirchgemeindliches „Biedermeier“ bezeichnet hat: Einen „Rückzug in den privaten Bereich und in anonyme Kommunikation (Internet ...)“; in die „schnelle punktuelle Problemlösung“ und „Selbstthematisierung (zum Teil in der wehleidigen Rolle des Opfers) und vor allem auch im kirchlichen und theologischen Bereich der Rückzug in die Pflege des eigenen Gärtchens, wo es noch ,für mich stimmt‘.“

Oft ist diese Haltung nicht zuletzt Ausdruck der Frustration über die angebliche Reformunfähigkeit und -willigkeit der Schweizer Bischöfe. Da „die da oben“ ja sowieso nichts ändern wollten und würden, macht man es sich wenigstens in der eigenen Kirchgemeinde gemütlich. Insofern stellen die Initianten des Luzerner Manifests mittlerweile wohl schon eine nur noch kleine, engagierte Minderheit innerhalb der Kirche dar. Der Rest hat resigniert.

Von der Gemeindeautonomie zum Kirchturmegoismus

Das Klima des „biedermeierlichen“ Pfarreilebens in vielen Kirchgemeinden hat noch eine andere Folge: Sie verschärft den durch die Fiskalhoheit der Gemeindeautonomie ohnehin schon latent vorhandenen „Kirchturmegoismus“. Für das, was sich in der Nachbargemeinde, im Bistum oder gar in der Weltkirche abspielt, interessiert man sich kaum. In der Schweiz, so klagte Bischof Koch unlängst, gebe es den „Affekt, daß die Kirche in der Schweiz etwas so besonderes ist, daß sie sich eigentlich von der Weltkirche loskoppeln will“.

Es gehe darum, „ob man sich für die Weltkirche interessiert, oder ob man sich in einer Art ,splendid isolation‘ von der Weltkirche losgelöst betrachtet“. Unter dieser Isolation leiden zunächst einmal die Aufgabenbereiche auf diözesaner und nationaler Ebene, denn daß für sie dringend mehr Geld zur Verfügung stehen müßte, wenn zum Beispiel die kirchliche Medien- und Bildungsarbeit in Zukunft nicht noch größeren Schaden nehmen soll, wird vielerorts nicht (ein)gesehen.

Dies verhindert wiederum, daß landesweit – etwa im Bereich des Religionsunterrichts – neue Konzepte entwickelt werden können, die letztendlich allen zugute kämen – wobei angesichts der jetzigen Strukturen in vielen Kirchgemeinden fraglich wäre, ob man einen solchen Service überhaupt zur Kenntnis nehmen, schätzen und nutzen würde. Die Gemeindeautonomie geht so weit, daß sich die Katechese, Pastoral und Liturgie nicht nur von Ort zu Ort stark unterscheiden, sondern man sich auch von eigenen Mißerfolgen nicht beirren läßt.

Daß zum Beispiel im Bistum St. Gallen mit der Firmung ab 18 Jahren („Firmweg 18+“) ein möglicherweise erfolgversprechenderes Konzept verfolgt wird, wollen einige Aargauer Gemeinden partout nicht wahrnehmen und erst recht nicht wahrhaben; deshalb halten sie lieber an ihren eigenen Firmwegen fest, die sich jedoch angesichts der inzwischen weitgehend fehlenden religiösen Sozialisation vieler Jugendlicher längst als untauglicher Flop erwiesen haben.

Angesichts der dramatischen Entkonfessionalisierung weiter Bevölkerungskreise, die Bischof Koch zu der Behauptung veranlaßte, daß „die katholische Kirche ... als Volkskirche in der Schweiz an einem toten Punkt angelangt“ sei, sollte es sich eigentlich keine Kirchgemeinde mehr leisten, allein an den Symptomen herumzudoktern und zu glauben, das Rad im Alleingang neu erfinden zu können.

Denn auch in der Schweiz verlieren die beiden großen Kirchen kontinuierlich an Terrain, die römisch-katholische von 49,4 Prozent der Wohnbevölkerung im Jahr 1970 auf 41,8 Prozent im Jahr 2000. Gleichzeitig stieg der Anteil der Menschen ohne Zugehörigkeit zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft von 1,1 Prozent auf 11,1 Prozent:

„Die Ergebnisse der Volkszählung 2000 machen deutlich, daß der bei den beiden größten Gruppen zu beobachtende Abwärtstrend, der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einsetzte, anhält und sich sogar noch verstärkt hat ... Dies ist umso bemerkenswerter, als die Einwohnerzahl in der Schweiz in diesem Zeitraum um über eine Million zugenommen hat.“ (C. Bovay u. R. Broquet, Eidgenössische Volkszählung 2000: Religionslandschaft in der Schweiz(Neuchâtel 2004))

Zwar mögen diese Zahlen auf den ersten Blick nicht dramatisch erscheinen, doch ein Blick nach Basel zeigt, wohin die Reise gehen könnte: 1975 betrug die Zahl der römisch-katholischen Kirchenmitglieder des Kantons Basel-Stadt 90.000, mittlerweile sind es nur noch 31.000. Außerdem muß berücksichtigt werden, daß die Kirchen auch in „qualitativer“ Hinsicht nicht mehr sorglos sein können:

„Das Bekenntnis einer Person zu einer Kirche oder einer anderen religiösen Gemeinschaft zeugt weder von der exklusiven Loyalität gegenüber dieser Gruppierung, noch davon, dass die Glaubensinhalte der angegebenen Gruppierung bekannt sind und gelebt werden.“ (Bovay (A. 24) 99)

Diese tiefe Krise in der gesellschaftlichen Akzeptanz der Kirche wird jedoch vielerorts lieber ausgeblendet, als daß man sich gemeinsam daran machen würde, Neues auszuprobieren und aus den Mißerfolgen der Nachbarn zu lernen. Zudem wird dabei oft übersehen, daß die Herausforderung für die kirchgemeindlichen Strukturen auch schon aus den eigenen Reihen herrührt, nämlich in Gestalt der neuen kirchlichen Bewegungen.

Herausforderung durch die „Movimenti“

Wenn es noch so etwas wie ein „weltkirchliches Bewußtsein“ gibt, ist es oft bei jenen Schweizer Katholiken zu finden, die sich als dezidiert bischofs- und lehramtstreu verstehen. Der Umstand, daß nicht die ohnehin wenigen, von ihnen verehrten Priester, sondern die in ihren Augen suspekten Laien und die kirchenkritischen katholischen Schweizer tonangebend sind, hat nicht wenige Schweizer Katholiken von der eigenen Kirchgemeinde entfremdet und in die Arme zumeist konservativer innerkirchlicher Bewegungen, den sogenannten „Movimenti“ getrieben.

Mancherorts ist es schon zur Ausbildung von Parallelstrukturen zwischen Movimenti und Pfarrgemeinde gekommen, die mitunter ein nicht geringes Konfliktpotential beinhalten. „Gläubige in den Pfarreien sind kirchenkritischer; eine Papstverehrung und eine Bischofstreue, wie sie in den Bewegungen vorkommt, ist dem durchschnittlichen Pfarreirats- und Kirchenpflegemitglied in der Deutschschweiz unangenehm.“

Die Schweizer Bischöfe dagegen scheinen mehrheitlich Gefallen an den Movimenti zu finden: Als 1999 rund 200 Mitglieder aus 25 Bewegungen zum ersten Mal ein landesweites Treffen abhielten, waren immerhin auch drei Bischöfe anwesend.

Die bischöflichen Sympathien sind durchaus nachvollziehbar, denn innerhalb der Movimenti wird weitaus weniger beziehungsweise überhaupt keine Kritik an der Kirchenleitung laut; stattdessen fokussieren sich die in ihnen engagierten Schweizer Katholiken auf Spiritualität und Frömmigkeit. Darüber hinaus verfügen sie natürlich auch nicht über die finanzielle Entzugsmacht der staatskirchenrechtlichen Körperschaften.

Drohendes Schisma – bereits Wirklichkeit?

Angesichts der schwelenden beziehungsweise offenen Konflikte innerhalb des Schweizer Katholizismus ist zu fragen, ob das Schisma, vor dem Bischof Koch mit Bezug auf die Ereignisse in Röschenz und das Luzerner Manifest warnte, nicht schon längst Wirklichkeit geworden ist. Wenn ausgerechnet die Kommunikationsbeauftragte der überwiegend von Katholiken getragenen Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) meint, den Papst als „Depp“ bezeichnen zu müssen, zeigt dies, wie weit die Gehässigkeiten bereits gediehen sind.

Verbindet Schweizer Katholiken und katholische Schweizer wirklich noch mehr als ein gegenseitiges Mißtrauen und Unverständnis? Sollten sich nicht beide Seiten rasch darauf besinnen, die Konflikte nicht weiter zu verschärfen, sondern nach einem gemeinsamen Weg aus der Krise der Kirche zu suchen, könnte aus dem Schisma in den Köpfen und Herzen schon bald ein faktisches Schisma werden.

Die Gegner des „dualen Systems“ wittern jedenfalls Morgenluft: Das von Papst Benedikt XVI. approbierte Schreiben des Päpstlichen Rats für die Gesetzestexte zum sogenannten „Kirchenaustritt“ als Formalakt vom 13. März 2006 wird von ihnen so interpretiert, daß es jetzt möglich sei, aus den staatskirchenrechtlichen Körperschaften auszutreten und trotzdem katholisch zu bleiben.

Somit werde auch das oben erwähnte Bundesgerichtsurteil hinfällig und das Schreiben aus Rom beende „die Diktatur des Money-Katholizismus“, frohlockte die „Katholische Volkspartei Schweiz“.

Fest steht, daß es Leidtragende dieses langfristig unhaltbaren Zustands schon jetzt gibt: Es sind in erster Linie die in einer Gemeinde tätigen Priester, die sich zwischen dem Gehorsam gegenüber ihrem Bischof und der Loyalität gegenüber der Kirchgemeinde, ihrem Arbeitgeber, laufend entscheiden und dabei sehr oft faule Kompromisse schließen müssen. Daß dies der ohnehin schon ramponierten Glaubwürdigkeit der Kirche nicht gerade zuträglich ist, versteht sich von selbst.

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