‚…und er weinte über die Stadt und die Welt.’

5. September 2009 in Buchtipp


Exklusiv auf kath.net: Neue Leseproben aus dem Roman Father Elijah des kanadischen Bestsellerautors Michael D. O'Brien.


Linz (www.kath.net)
Hier lesen Sie jeden Samstag im Sommer exklusiv auf Kath.Net Abschnitte aus dem 13. Kapitel aus dem internationalen Erfolgsroman Father Elijah des kanadischen Autors Michael O’Brien, übersetzt von Gabriele Kuby.

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9. Folge
Er erzählte ihr die Geschichte.
„Er hießt Pawl Tarnowski. Er war einer der hasidei umot hoalam – wir nannten sie die gerechten Heiden. Er riskierte sein Leben, um mich zu verstecken. Er teilte das bißchen Essen mit mir, das er hatte. Er wollte nichts dafür haben.“
„Wie großartig!?“

„Er hatte die Seele eines Einsiedlers, ein frommer Katholik. Einer, der Bücher liebte. Das hier war ein Buchladen. Er hat vor dem Krieg auch selbst ein paar Dinge veröffentlicht.“
„Sind Sie sicher, daß er den Krieg nicht überlebt hat?“
„Ja.“
„Wie starb er?“
„Er wurde in Oswiecim vergast. In Auschwitz.“
„Wissen Sie Einzelheiten?“
„Wir wurden verraten. Ganz plötzlich, keine Zeit nachzudenken, keine Zeit, etwas zu besprechen. Er opferte sein Leben für mich.“

Elija erzählte von der letzten Nacht, die er im Haus der Weisheit verbracht hatte.
„Er hatte sich dem Bösen in den Weg gestellt, verstehen Sie, wie ein Bollwerk, und er nahm die volle Zerstörungswucht, die mir gegolten hat, auf sich. Er tat das für einen Jungen, der nicht einmal eine Wertschätzung für das hatte, woran er glaubte; er tat es, damit ich das Leben hatte.“

„Warum hat er das getan?“
„Ich weiß es eigentlich nicht. Er war eine Art Philosoph – ein junger Mann zwischen dreißig und vierzig mit einer viel versprechenden Zukunft – aber für ihn war das Leben nur so gut wie die Prinzipien, nach denen er lebte. Für sie starb er ebenso wie für mich.“
„War er Ihr Freund?“
„Ja, gewissermaßen. Ich war erst siebzehn. Wie ein solcher Mann eben mit einem Halbwüchsigen befreundet sein kann.“

„Wie meinen Sie das?“
„Er war alt, so wie ich alt geworden bin, aber doch anders. Er muß etwas Schweres erlitten haben, ich habe nie erfahren, was es war. Vielleicht eine verlorene Liebe. Er hat ein interessantes kleines Theaterstück geschrieben, das ich vor ein paar Jahren zufällig entdeckt habe. Es wurde nach dem Krieg in Ostdeutschland von einem ehemaligen Wehrmachtsoffizier veröffentlicht, der es ihm gestohlen hatte. Pawel hat alles verloren.“
„Alles außer seinen Prinzipien.“

„Das ist wahr. Übrigens hat der Plagiator am Ende seines Lebens bereut und alles öffentlich gestanden. Sein Ruf war damit ruiniert. Das Buch wurde kürzlich auf Polnisch veröffentlicht unter dem Namen seines wirklichen Autors.“
„Wie heißt das Stück?“
„Andrei Rublev. Es ist eine imaginative Darstellung des Lebens des berühmten russischen Ikonen-Malers. Haben Sie davon gehört?“
„Nein.“

Elija seufzte. „Wie sollten Sie auch. Es ist außerhalb der polnischen literarischen Kreise kaum bekannt. Wahrscheinlich ist es kein großes Werk, aber er hat es mit Herzblut geschrieben. Es handelt von der Suche nach Schönheit und Liebe in einer gefallenen Welt.“
„Ein oft behandeltes Thema in der Literatur.“
„Das Lieblingsthema von ernsthaften Schriftstellern.“

„Man könnte sogar sagen, das Lieblingsthema des menschlichen Herzens.“
„Das ist wohl wahr.“
Sie deutete zum zweiten Stock. „Da oben haben Sie gelebt?“
„Noch einen Stock darüber, versteckt in der Mansarde.“
„Glauben Sie, man würde uns hinein lassen?“
„Ich war vor ein paar Tagen oben.“

„Ist es noch so wie früher?“
„Die Deutschen haben die Altstadt zerstört, aber sie wurde akribisch rekonstruiert. Es ist wie früher und doch nicht so.“
„Sie sind nicht der Gleiche.“
„Ja und nein.“
„Ich würde es gerne sehen, wenn ich darf.“

„Anna, mir wäre es lieber, heute nicht wieder hinauf zu gehen. Ich mußte das allein anschauen. Es würde sich verändern, wenn ich mit Ihnen hinauf ginge. Können Sie das verstehen?“
„Ich glaube schon.“
Er schaute zum blau-schwarzen Himmel über den Dächern empor.
„Was fühlen Sie?“ fragte sie.

„Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Vor allem Taubheit. Bedauern, daß ein guter Mensch umkam. Dankbarkeit. Und Schuld, weil ich durch sein Opfer lebe – die üblichen Konflikte, die Überlebende der Shoah in sich tragen.“
„Ist das alles? Sonst nichts?“
„Ich fühle – wie soll ich es Ihnen sagen – ich fühle, daß dieser Mann, den ich kaum kannte, mir Freiheit gab. Damals war ich noch sehr jung und habe nicht wirklich verstanden, was er mir geschenkt hat. Jetzt verstehe ich es besser.“

„Ist es nicht eigenartig, daß Sie sich am Ort Ihrer Gefangenschaft so frei fühlen, während sie sich im Kulturpalast unterdrückt fühlten, wo doch jedes zweite Wort Freiheit war!“
Er schaute zur Mansarde hinauf und flüsterte: „Ja, das ist es.“
„Es ist spät geworden“, sagte sie, wir sollten zum Hotel zurückkehren.“
In der Lobby des Marriott dankte sie ihm für den Nachmittag.
„Ich werde Sie nicht wieder sehen“, sagte er. „Alles Gute für Ihre Vorträge. Ich werde für Sie beten.“

„Dafür brauchen Sie nicht zu beten. Denken Sie nur ab und zu an mich.“
Sie gaben sich die Hand, und sie verschwand im Fahrstuhl.
Der Portier winkte gab ihm ein Zeichen.
„Hier sind einige Dinge für Sie. Eine Dame hat sie abgegeben.“
Es war eine Nachricht von der Krankenschwester Smokrevs. Sie teilte ihm mit, der Graf habe ihr am Abend vor seinem Tod aufgetragen, die beiliegenden Gegenstände dem Priester aus Israel zu übergeben.

Elija ging in sein Zimmer und setzte sich aufs Bett. Er öffnete eines der Pakete. Darin fand er eine verbeulte Blechdose voller handgeschriebener Seiten. Das andere Paket enthielt die Ikone des heiligen Michaels aus der Apokalypse.
Pawel Tarnowski gibt Ihnen dieses Geschenk, hatte der Graf gesagt. Sie können es nicht ablehnen.

Er starrte auf diese Gaben, bis der Abendhimmel schwarz geworden war und Sterne am Himmel standen.
Dann setzte er sich an den Sekretär und schrieb:

Lieber Herr Präsident,
das Leben des Menschen ist etwas Kleines, ab er hält es in seinen Händen und wenn er es einem anderen schenkt, dann ist es das Größte der Welt. Ich kenne Ihre Pläne für die Zukunft nicht. Ich weiß nicht sicher, ob Ihre Vision sich als richtig erweisen wird oder als schwerer Fehler. Aber ich habe gelernt, daß eine Gabe, die nicht auf absoluter Liebe gründet, nur zu dem Berg verletzter Leben beiträgt, der in unseren Zeiten angehäuft wurde.

Der Eine, der mein Leben ist und durch den ich lebe, würde zu Ihnen sprechen, wenn Sie Ihn hören wollten. Er würde Ihnen sagen, daß kein Mensch die Welt retten kann, am wenigsten dadurch, daß er eine gefallene Menschheit vor sich selbst rettet. Es gibt nur einen einzigen Christus. Er und nur Er ist der Retter der Welt. Er, der Gott ist, sah in der Gleichheit mit Gott nicht etwas, nach dem man greifen konnte, vielmehr entleerte er sich und nahm die Gestalt eines Sklaven an. Und in der Gestalt eines Menschen demütigte er sich und wurde gehorsam bis zum Tod.

Hochachtungsvoll.
Vater Elija Schäfer

Er steckte den Brief in einen Umschlag, adressierte ihn an den Präsidenten, c/o Kongreßverwaltung im Kulturpalast. Der Portier versprach, er werde dafür sorgen, daß der Brief seinen Adressaten erreiche.

Er ging in sein Zimmer zurück und setzte sich ans Fenster, in einer Hand die Blechdose, in der anderen die Ikone. Im Zimmer wurde es dunkler, während die Lichter der Stadt nach und nach aufflammten, bis sie ihm wie ein großes, grell erleuchtetes Schlachtfeld erschien, auf dem Drachen und weiße Pferde in einer wirren Schlacht aufeinander stießen.

Er schaute hinaus auf die Landschaft der Zerstörung, reglos und empfindungslos. Als er die Ikone gegen seine Brust drückte, zerbarst die Schale um sein Herz und er weinte über die Stadt und über die Welt.


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