'Da war das Santo Subito nur die logische Folge'

29. April 2011 in Chronik


„Hier war ein Mystiker versunken in sein Zwiegespräch mit Gott! Seit dieser Begegnung bestand für mich kein Zweifel mehr, dass dieser Papst ein Heiliger war.“ Dies sagte Michael Hesemann im KATH.NET-Interview. Von Yuliya Tkachova


Düsseldorf (kath.net) Der Papstbiograf und Historiker Michael Hesemann (Johannes Paul II., Erbe und Charisma) äußerte sich im Interview zur bevorstehenden Seligsprechung des Wojtyla-Papstes und die Einwände der Kritiker:

Yuliya Tkachova: Herr Hesemann, Sie sind Johannes Paul II. mehrmals persönlich begegnet. Was hat Sie bei diesen Begegnungen am meisten fasziniert?

Ich hatte das Glück, dass mir mehrere persönliche Begegnungen mit diesem großen Papst gewährt wurden. Das ist natürlich nichts verglichen mit den täglichen Begegnungen, über 26 Jahre lang, die mein Co-Autor Arturo Mari als Leibfotograf Johannes Pauls II. hatte. Aber sie gaben mir die Möglichkeit, etwas vom Geheimnis und Charisma des Jahrtausend-Papstes zu erfassen. Nichts – und, um ehrlich zu sein, keine einzige Erfahrung oder Begegnung in meinem bestimmt nicht allzu langweiligen Leben – lässt sich jedoch vergleichen mit jenem 17. Dezember 1998, als ich eingeladen wurde, der Morgenmesse des Heiligen Vaters in seiner Privatkapelle beizuwohnen. Danach sollte ich ihn in seiner Bibliothek treffen und ihm meinen Forschungsbericht zur Reliquie der Kreuzesinschrift Jesu überreichen. Als ich die Kapelle betrat, war ich überwältigt. Es war, als sei alles von Licht erfüllt, als sei die Heiligkeit dieses Augenblicks physisch wahrnehmbar: Hier war ein Mystiker versunken in sein Zwiegespräch mit Gott! Seit dieser Begegnung bestand für mich kein Zweifel mehr, dass dieser Papst ein Heiliger war.

Tkachova: Johannes Paul II. stand 26 Jahre lang an der Spitze der katholischen Weltkirche. Was sind für Sie die drei bedeutendsten Ereignisse dieses langen Pontifikats?

Das bedeutendste Ereignis seines Pontifikats war zweifellos sein Sieg über den Kommunismus. Dieser Mann hat, ohne dass eine einzige Kugel abgefeuert wurde, ein Regime gestürzt, das fast eine halbe Milliarde Menschen unterdrückte. Und schon muss ich mich korrigieren: Es wurden schon Kugeln abgefeuert, die dabei eine zentrale Rolle spielten, und zwar auf ihn. Durch das Papstattentat von 1981 wurde Johannes Paul II. zum Instrument der göttlichen Vorsehung. Er begriff, dass er der Papst war, von dem die Offenbarung von Fatima sprach und er tat, was die Gottesmutter durch Lucia, das einzige überlebende der drei Seherkinder, erbeten hatte: Die Weihe Russlands und der Welt an ihr unbeflecktes Herz, denn dann würde Russland sich bekehren, aufhören, „seine Irrtümer auf der ganzen Welt zu verbreiten“. Das tat Johannes Paul II. 1984; innerhalb eines Jahres danach kam Michail Gorbatschow an die Macht, sieben Jahre später war die Sowjetunion Geschichte. Seitdem kann niemand mehr bestreiten, dass Gott auch heute noch in die Geschichte eingreift. Tatsächlich ergibt der ganze Lebensweg Karol Wojtylas, seine bitteren Erfahrungen mit dem Terror der Nazis, die zu seiner Berufung in das Priesteramt führten, seine Rolle als Erzbischof von Krakau, der mutig dem kommunistischen Regime trotzte und schließlich seine Wahl zum Papst nach dem erschreckend kurzen Pontifikat seines Vorgängers, einen viel tieferen Sinn, wenn man ihn vor diesem Hintergrund sieht.

Dann ist natürlich das Heilige Jahr 2000 zu nennen. Schon bei seiner Wahl zum Papst hatte ihm Kardinal Wyszynski, der große Primas der polnischen Kirche, prophezeit: Du wirst die Kirche in das Dritte Jahrtausend führen! Das tat er und er hat die Kirche bereit für dieses neue Jahrtausend gemacht, vor allem indem er die Jugend in die Kirche zurückholte. So gehören ja heute noch die Weltjugendtage zu den schönsten Hinterlassenschaften seines Pontifikats.

Und dann natürlich sein Sterben, als er vor den Augen der Welt zum Schmerzensmann wurde und unserer oberflächlichen Zeit mit ihrem Jugend- und Schönheitswahn trotzte, als er durch die Öffentlichkeit, die er kreierte, dafür plädierte, Alter, Krankheit und Sterben eben nicht zu verdrängen, sondern die Alten, Kranken und Sterbenden in die Gesellschaft, in unsere Gemeinschaft, zurückzuholen. Was folgte war ein wahres Wunder – ich werde nie vergessen, was damals in Rom los wahr, ich war ja auch dabei, als buchstäblich Millionen kamen, um sich von ihm zu verabschieden. Da war das „Santo Subito“, der Ruf nach einer schnellen Heiligsprechung, nur die logische Konsequenz.

Tkachova: Immer wieder wird von der großen Kontinuität zwischen Johannes Paul II. und Benedikt XVI. gesprochen. Worin liegt diese Kontinuität?

Die Kontinuität besteht schon darin, dass der Mann, den Johannes Paul II. eigens nach Rom berief, um die vielleicht wichtigste Aufgabe im Vatikan zu übernehmen, nämlich die Definition des christlichen Glaubens, jetzt Papst ist. Johannes Paul II. war ein großer Mystiker und Kommunikator, aber er war nie ein großer Theologe im eigentlichen Sinn; dazu brauchte, deshalb schätze er Ratzinger. Insofern ist die Kontinuität in erster Linie theologischer Natur. Aber auch sonst gibt es keinen großen Bruch zwischen den Pontifikaten. Im Gegenteil, Benedikt XVI. setzt ja alle Traditionen, die Johannes Paul II. begründet hat, wie die Weltjugendtage, die Weltfamilientreffen, die Papstreisen etc. konsequent fort.

Tkachova: Und wo sehen Sie die deutlichsten Unterschiede?

Nun, zunächst einmal waren Karol Wojtyla und Joseph Ratzinger ganz unterschiedliche Menschen; der eine war leutselig und emotional, war ein großer Kommunikator, ein Meister der Inszenierung, der andere fast schüchtern, sehr bescheiden, dabei aber ein genialer Gelehrter. Zum Glück hat Benedikt XVI. nie versucht, seinen Vorgänger zu imitieren. So hat jedes Pontifikat seine eigene Note: Die Amtszeit Johannes Pauls II. war der Mission gewidmet, die Benedikts XVI. dem Lehramt. Bei ihm stehen der Kampf gegen den Relativismus, aber auch die Ökumene im Zentrum. Der Pole war kämpferischer, ein Mann der großen Gesten, für viele geradezu provokant, während der Deutsche die leisen, feinen, subtilen Töne und Gesten schätzt.

Tkachova: Die rasche Seligsprechung Johannes Pauls II. wird auch kritisiert. Ist das alles nicht ein bisschen schnell gegangen?

Umgekehrt gefragt: War nicht die Heiligkeit dieses Mannes schon zu Lebzeiten offensichtlich? Natürlich muss ein kirchlicher Seligsprechungsprozess ordnungsgemäß und mit aller notwendigen Gründlichkeit stattfinden. Doch ich denke, dessen waren sich alle Beteiligten bewusst. Da ist es eher gut und wohltuend, festzustellen, dass auch im Vatikan effizient und konzentriert gearbeitet werden kann. Immerhin hatte man ja doch sechs Jahre Zeit. Franz von Assisi etwa wurde nicht einmal zwei Jahre nach seinem Tod bereits heiliggesprochen, bei Mutter Teresa lagen ebenfalls sechs Jahre und ein Monat zwischen dem Tod und der Seligsprechung. Ich denke, es ist gut und richtig, auch Personen zur Ehre der Altäre zu erheben, die nicht in ferner Vergangenheit gelebt haben, sondern an die wir uns noch gut erinnern können und die schon deshalb ein viel unmittelbareres und realistischeres Vorbild im Glauben sind.

Tkachova: Aber zwei Kritikpunkt werden immer wieder genannt. Einer davon ist sein sehr offener Umgang mit den Weltreligionen, nicht nur in Assisi. In Damaskus soll er sogar den Koran geküsst haben, eine Schrift, in der die Göttlichkeit Jesu geleugnet wird.

Also, ob er den Koran tatsächlich küsste, steht nicht einmal fest, denn es gibt davon weder Fotos noch Filmaufnahmen. Als er den Schrein mit Reliquien Johannes des Täufers in der ehemaligen Kathedrale von Damaskus, die heute eine Moschee ist, aufsuchte, überreichte ihm der Vorsteher dieser Moschee als Geschenk einen Prachteinband des Korans. Auf den vorhandenen Bildern sieht man dann, wie der Papst das Geschenk hoch hält und sich leicht vorbeugt. Doch was immer er damals getan hat, es war lediglich eine Geste des Friedens und des Respektes vor dem Glauben des Anderen. Hätte er das Geschenk zurückgewiesen, hätte er einen Eklat provoziert, rund 800 Millionen Moslems zu Feinden gehabt und die Lage der Christen in den muslimischen Ländern extrem verschlechtert. Also war er gut beraten, das Buch anzunehmen und – der Koran ist den Moslems bekanntlich heiliger als alles andere – es respektvoll zu behandeln.

Wenn er diesen Koran tatsächlich geküsst hat, dann war das kein Zeichen der Verehrung, sondern ein Friedenskuss! Und das entsprach dem Geist der Bergpredigt, dem Auftrag Jesu, nicht als Provokateure, sondern als Friedensstifter aufzutreten! Das gilt übrigens auch für die Gebetstreffen 1986 und 2002, wo es natürlich nicht um Synkretismus, sondern um Dialog, um Versöhnung und die Verurteilung von Gewalt ging. Wir Christen müssen doch Zeichen für das Gute setzen, ganz wie es schon die Apostel taten! Der hl. Paulus hat die Athener auch nicht dadurch brüskiert, dass er ihr Heidentum anprangerte, sondern nach einem noch so kleinen gemeinsamen Nenner gesucht, der zum Aufhänger für seine Areopag-Predigt wurde. Er fand ihn in einem heidnischen Altar, der dem „Unbekannten Gott“ geweiht war. In diesem Sinne ist jede Religion, so viele Irrtümer sie auch enthalten mag, zunächst einmal ein Ausdruck der Sehnsucht der Menschen und Völker nach dem wahren, ihnen noch unbekannten Gott. Es ist dann an uns, ihnen diesen Gott, der sich in Jesus von Nazareth offenbart hat, zu zeigen!

Tkachova: Der zweite Kritikpunkt ist noch brisanter. Johannes Paul II. wird vorgeworfen, im Umgang mit dem Gründer der Legionäre Christi, Pater Marcial Maciel, zu lax und zu tolerant gewesen zu sein, bei ihm gewissermaßen „beide Augen zugedrückt“ zu haben.

Sicher ist: Johannes Paul II. glaubte an das Gute im Menschen und er war kein Freund von Gerüchten; aus seiner Zeit in Polen wusste er, wie viele Lügen dort von den Kommunisten in die Welt gesetzt wurden, um gute, mutige Kirchenmänner zu diskreditieren. Er hatte Pater Marcial, den Gründer der „Legionäre Christi“ als solchen erlebt. Marcial hatte die Papstbesuche in Mexiko bestens vorbereitet, dazu beigetragen, dass die ursprünglich antiklerikale Stimmung im Lande überwunden wurde, und sorgte mit seiner Bewegung für jungen, begeisterten Priesternachwuchs. Da erschien es zunächst unbegreiflich, dass dieser Mann ein Doppelleben geführt haben könnte, wie erstmals 1997 behauptet wurde. Trotzdem reagierte der Vatikan; 1999 begann Kardinal Ratzinger mit einer gründlichen Untersuchung der Vorwürfe, mit deren Ergebnissen Marcial 2002 konfrontiert wurde. Als er damals kategorisch alle Anschuldigungen zurückwies, stand es zunächst einmal „Aussage gegen Aussage“. Trotzdem wurde von Ratzinger weiter ermittelt, bis dann Ende 2004 zwanzig Zeugen gefunden waren, die Marcial der Lüge überführten. Nur weil die Erkrankung und der Tod Johannes Pauls II. „dazwischen kamen“, blieb es Kardinal Ratzinger als Papst überlassen, den mittlerweile 86jährigen, schwerkranken Pater im Mai 2006 quasi „in die Wüste zu schicken“ und das zurecht. Denn mittlerweile wissen wir: Pater Marcial war so eine Art katholischer „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“, eine auf tragische Weise gespaltene Persönlichkeit, deren verborgene Seite abgrundtief krank war. Aber alles, was man Johannes Paul II. dabei vorwerfen kann, ist, angesichts der Schwere der Vorwürfe zunächst einmal nach sicheren Beweisen verlangt zu haben, bevor er einen alten Mann öffentlich anklagte!

Tkachova: Die letzte und wohl wichtigste Frage aber ist: was macht Johannes Paul II. als Vorbild im Glauben aus?

Er war ein Mann des Gebetes, der tiefen, mystischen Versenkung, der eucharistischen Frömmigkeit und der Liebe zur Gottesmutter. Vor allem aber war sein Glaube geerdet, ja volkstümlich. Statt die Volksfrömmigkeit gering zu achten, wie es die moderne Theologie gerne tut, verlieh er ihr höchste kirchliche Anerkennung, indem er in der ganzen Welt zu den Schreinen des Volkes Gottes pilgerte und sie dadurch zu Heiligtümern der Weltkirche machte. Er hat uns so reich beschenkt, etwa durch die Wiederentdeckung des Rosenkranzes, dem er die fünf lichtreichen Geheimnisse hinzufügte. Aber auch durch die Verehrung der Göttlichen Barmherzigkeit, die er aus seiner Heimatstadt Krakau in die ganze Welt trug und die zum Siegel seines Pontifikats wurde; nicht umsonst kehrte er am Vorabend des von ihm eingeführten Barmherzigkeitssonntags in das Haus des Vaters zurück, nicht umsonst findet seine Seligsprechung an eben diesem Tag statt. Ich denke, es werden noch Generationen vom Erbe dieses Jahrtausendpapstes zehren – und es wird der Tag kommen, an dem er als „Johannes Paul, der Große“ in die Geschichte eingehen wird.

Kath.net-Buchtipp:
Michael Hesemann, Arturo Mari
Johannes Paul II. - Erbe und Charisma
Pappband, 160 Seiten, davon 32 Seiten farbiger Bildteil
EUR 17,50


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Foto: © Michael Hesemann.
Bei einer Privataudienz 1998 überreichte Michael Hesemann dem Papst eine antike Pilgeröllampe aus Jerusalem.


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