Das Wunder von Rom

7. Mai 2011 in Chronik


Michael Hesemann erlebte die Seligsprechung Johannes Pauls II.


Rom (www.kath.net)
Zwei Tage vor der Seligsprechung Papst Johannes Pauls II. sieht alles danach aus, als würde eines der größten Ereignisse in der Geschichte der Ewigen Stadt zu einem Fiasko werden. Immer lauter werden die Stimmen, die dem verstorbenen Papst die Seligkeit absprechen, immer unsicherer scheint es, wie viele Menschen überhaupt kommen werden – die Schätzungen schwanken zwischen 500.000 und 2.5 Millionen. Und die Meteorologen sind sich zu allem Übel noch ziemlich sicher, dass es in Strömen regnen wird.

„Da haben die Herren im Vatikan mal wieder einen richtigen Bock geschossen“, begrüßt mich ein deutscher Vatikankorrespondent beim Mittagessen in der „La Vittoria“, dem Stammlokal vieler „Vaticanisti“, und legt los: „Es gibt keine Karten! Niemand weiß, wie viele Menschen kommen werden! Es wird ein Chaos geben, denn jeder will jetzt auf den Petersplatz“. Ich stimme ihm zu, dass man wohl ziemlich naiv gewesen ist. „Kardinal B. hat bereits die Flucht ergriffen. Der ganze Seligsprechungsprozess ist doch eine Farce. Man hat nicht einmal den Kardinalsstaatssekretär Johannes Pauls II. vernommen, Kardinal Sodano. Alles sollte nur schnell, schnell gehen!“ Sodano war es gewesen, der als Erster forderte, dem Wojtyla-Papst den Titel „der Große“ zu verleihen. Deshalb kann ich mir kaum denken, dass seine Aussage das Ergebnis des Prozesses zum Negativen verändert hätte.

Auf dem Petersplatz laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren. An den Kolonnaden Berninis wurden Plakate mit Bildern aus den 26 Jahren seines Pontifikats angebracht, zudem ein überdimensionales Transparent mit seinem Bild und, in mannshohen Buchstaben, das Motto seines Pontifikats: „Öffnet, ja reißt auf die Tore für Christus!“ Die Vorfreude der Pilger, die gerade eingetroffen sind, liegt in der Luft. Nur der Himmel lässt Böses erahnen, so grau und verdüstert erscheint er in diesem Moment. Ich statte den vatikanischen Grotten einen letzten Besuch ab. Dort stehen noch immer Tausende Schlange, um noch einmal die weiße Marmorplatte zu küssen oder zu berühren, unter der Johannes Paul II. seit 2005 begraben liegt und die jetzt mit Blumen überhäuft ist. Noch am selben Tag soll die Gruft der Päpste für die Pilger geschlossen, das Grab geöffnet werden. In der Basilika selbst ist man damit beschäftigt, die Sebastianuskapelle gleich neben der Pietá des Michelangelo umzugestalten; hier soll der künftige Selige seine endgültig letzte Ruhestätte finden.

Am Samstag Nachmittag bin ich mit Pater Peter Gumpel verabredet, einem heute 87jährigen Jesuiten, der selbst als Untersuchungsrichter („Relator“) den Seligsprechungsprozess von Papst Pius XII. geleitet hat. „Wissen Sie, weshalb alles so schnell ging?“, klärt er mich auf. Ich verneine. „Papst Benedikt selbst wollte seinen Vorgänger so schnell wie möglich selig sprechen. Er hatte sogar die Idee, das sofort zu tun, ohne einen Prozess, doch davon rieten ihm die Kardinäle dringend ab. So bat er die Heiligsprechungskongregation darum, so effizient wie möglich zu arbeiten. Und das ist auch verständlich, denn er hat den verstorbenen Papst so gut gekannt wie nur wenige andere. Er traf ihn ja mindestens einmal die Woche, oft noch häufiger. Während in anderen Fällen der Papst noch von der Heiligkeit eines Kandidaten überzeugt werden muss, stand hier für ihn das Urteil längst fest. Der Prozess war nur noch reine Formsache.“

Schon am Freitag Nachmittag wird mir klar, dass die Meteorologen mit ihrer Vorhersage Recht hatten. Es regnet in Strömen. Unzählige Pakistani, die bei solchem Wetter in Rom wie Pilze aus dem Boden schießen, um verzweifelten Touristen für fünf Euro einen Billigschirm anzubieten, machen das Geschäft ihres Lebens. Wo man hinschaut, blickt man in verzweifelte Gesichter. Es ist unübersehbar, dass sich die Stadt allmählich füllt. Pünktlich um 17.00 Uhr fliehen die Römer aus ihrer Stadt. Der Bürgermeister hat dazu aufgerufen, dass alle Bürger, die sich nicht für die Seligsprechung interessieren, das Wochenende besser in den Bergen oder am Meer verbringen, um dem zu erwartenden Chaos zu entgehen. Zum letzten Mal hat man ähnlich auf den Ansturm der Goten reagiert. So kommt es, dass es in Rom an diesem Wochenende mehr Polen als Einheimische gibt.

Es regnet noch immer am Samstagmorgen, als mich eine deutsche TV-Journalistin interviewt. Auch sie stellt die vielleicht häufigste Frage, die in den letzten Tagen durch Rom gegeistert ist: „Und was ist mit Pater Marcial Maciel, dem Gründer der Legionäre Christi, der ein Doppelleben geführt hat, dem nicht nur gleich mehrere uneheliche Kinder mit mehreren Frauen, sondern auch der sexuelle Missbrauch von Seminaristen, Minderjährigen, ja sogar der eigenen Kinder nachgewiesen wurde? Wie konnten er und seine Bewegung unter Johannes Paul II. so an Einfluss gewinnen?“

„Auch ein Seliger ist nicht unfehlbar“, antworte ich, „auch er ist nicht davor geschützt, von einem Menschen arglistig getäuscht zu werden. Wie oft kommt es vor, dass eine erstaunte Ehefrau etwas über ihren Mann erfährt, was ihr zunächst unvorstellbar erscheint? Wie viele unbescholtene Menschen fallen auf Betrüger und Heiratsschwindler herein? Pater Maciel war so etwas wie ein katholischer Dr. Jekyll und Mr. Hyde – nach außen hin der begnadete Ordensgründer, der im einst antiklerikalen Mexiko den Boden für eine Neuevangelisierung bereitete und die Papstbesuche organisierte, doch hinter der Fassade ein kranker und abgrundtief schlechter Mensch. Doch gleich als die Vorwürfe Rom erreichten, 1997/98, ordnete Johannes Paul II. eine Untersuchung an, die sich nur deshalb hinzog, weil Maciel alles abstritt und es zunächst keine Beweise gab. Erst 2004 lagen 20 Zeugenberichte vor. Da aber war der Papst schon schwer krank – und so oblag es seinem Nachfolger, Benedikt XVI., die Konsequenzen zu ziehen, was dann auch gleich zu den ersten Handlungen seines Pontifikats gehörte.“

Wieder beim Mittagessen sitze ich mit einem anderen Kritiker, einem deutschstämmigen Pater aus Rom zusammen. „Er war ja ein Mann von tiefer Frömmigkeit, aber sein Pontifikat war eine Katastrophe“, beginnt er das Gespräch zum Thema des Tages. Ich schlucke, höre aber weiter zu. „Er hatte die Kurie nicht im Griff, obwohl er schon 400 Polen nach Rom holte, die dann als die ‚polnische Mafia‘ geächtet wurden. Er ließ die Zügel viel zu locker. Ständig wurde eine neue Reise vorbereitet, dann war er weg, dann musste er sich von der Reise erholen und wieder blieb die Arbeit liegen...“ Ich hatte von anderer Seite bereits ähnliches gehört.

Kaum nähere ich mich wieder dem Petersplatz, wird offensichtlich, was Rom in den nächsten Stunden bevorsteht. Überall drängeln sich Menschen, viele mit Rucksäcken und Isomatten ausgerüstet, als würden sie jetzt schon einen Schlafplatz suchen. Doch wenn dies ihr Anliegen ist, dann werden sie enttäuscht. Das Gebiet um den Vatikan, die ganze Via della Conciliazione, soll in der Nacht von Menschen geräumt und bis zum nächsten Morgen abgesperrt werden. Ich nutze die Zeit, um eine Ausstellung zu besuchen, die Papst Benedikt XVI. selbst als Tribut an seinen geliebten Vorgänger in Auftrag gegeben hat. Sie enthält Dutzende Erinnerungsstücke, die von den Stationen seines bewegten Lebensweges zeugen: Das Familienalbum seiner Eltern, Fotos vom jungen „Lolek“, sein Kommunionbild, die Holzschuhe und die Sträflingskleidung, die er als Zwangsarbeiter für die Deutschen tragen musste, das Skapulier, das ihn sein Leben lang begleitete, aber auch sein Kajak und seine Skier, die ihm einst als junger Priester und noch als Bischof von Krakau so viel Freude bereiteten, seine Ernennungsurkunden zum Weihbischof, Erzbischof und Kardinal samt seiner Amtskleidung, die Kniebank und das beeindruckende Christusbild, vor dem er damals in Krakau betete.

Bild- und Tondokumente wecken Erinnerungen an seine ersten Worte als Papst, an das Attentat von 1981, an seine Reisen zu den Völkern, an seinen Abschied im Jahre 2005. Am Rande des Ausstellungsraums steht, von vielen unbeachtet, die Rollbühne, auf der er in seinen letzten Jahren den Petersdom betrat und über deren Haltegriff ich wehmütig streiche. So viele Erinnerungen, so viele Gefühle übermannen mich und lassen die Zweifel verfliegen. „Du bist Petrus“, so lautete der Hymnus bei seiner Amtseinführung, er war der 264. Nachfolger jenes Fischers aus Galiläa, dessen Auftrag, von Jesus selbst erteilt, es war, zum Menschenfischer zu werden. Von administrativen Aufgaben ist in den Evangelien nichts zu lesen.

Doch wer war ein besserer und größerer Menschenfischer als dieser Mann aus Krakau, wer hat mehr Menschen in aller Welt das Evangelium verkündet und sie für Jesus begeistert? Und wer hat, zu einem Zeitpunkt, als Kirche so „out“ erschien wie Volksmusik und Blaskapellen, die Jugend zurück zum Glauben geholt, mit Millionen von ihnen die Weltjugendtage gefeiert? Gewiss, es gab bessere Bürokraten als ihn auf dem Thron Petri, etwa den klugen aber unverstandenen Paul VI., der als „Pillenpapst“ verhöhnt wurde und in den Strudel der 1968er geriet. Eine ganze Generation ging damals der Kirche verloren, weil es ihr einfach nicht gelungen war, die Sprache ihrer Zeit zu sprechen.

Das änderte sich durch Johannes Paul II., den großen Kommunikator, dieses Genie der Inszenierung, das zum ersten globalen Missionar, zum Botschafter der Hoffnung für ein neues Jahrtausend wurde. Ihn konnten keine Mauern halten, auch die nicht des Vatikans. Er liebte die Menschen und die Menschen liebten ihn, und so teilte er mit ihnen die Liebe Christi, die ihn so spürbar ganz und gar erfüllt hatte. Ich greife zum Notizblock, schreibe meine Gedanken auf:

„Ein Mann, der Millionen in die Kirche zurückholte und den Glauben von weiteren Millionen neu entflammte, sie dazu brachte, sich ganz in den Dienst des Evangeliums zu stellen, ein solcher Mann soll kein Heiliger sein? Wer dann? Selig gesprochen wird nicht der (zugegeben ziemlich schlechte) Administrator der römischen Kurie und auch nicht der Theologe Wojtyla, selig gesprochen wird der Menschenfischer Johannes Paul II., der Millionen neue Hoffnung in Christus schenkte und seine Kraft dazu aus einer tiefen, geradezu mystischen Gottverbundenheit schöpfte! Sein unermüdlicher Einsatz für die Verbreitung des Evangeliums, sein entbehrungsreicher, selbstaufopfernder Lebensweg, seine Bereitschaft, jedes Leiden auf sich zu nehmen und trotzdem selbst noch mit letzter Kraft die Türen für Christus aufzustoßen, wo es nur ging - das machte seine Heiligkeit aus!“

Es nieselt noch immer, als ich Samstagabends ins Taxi steige und mich zum Circus Maximus bringen lasse, der einstigen Rennbahn der Cäsaren. Dort soll die feierliche Vigil stattfinden, mit der die Feierlichkeiten zur Seligsprechung eingeleitet werden. Ich bin spät dran. Als ich aussteige und das nasse Grün überquere, begrüßen mich vertraute Klänge. Die versammelte Pilgerschar, um die 300.000 Menschen, haben gerade die Hymne der Weltjugendtage, „Jesus Christ, you are my life“, angestimmt und ich bin überwältigt. Das Bild, das sich mir bietet, treibt mir Freudentränen in die Augen. Sie sind also alle wieder gekommen, um ihn zu feiern, ihn, dem sie so viel zu verdanken haben! Die meisten von ihnen sind jüngere Menschen, Mitglieder der „Generation JP2“, der Generation der Weltjugendtage. „Apage Satanas!“, würde ich all den Kritikern und Zweiflern in diesem Augenblick am liebsten entgegen schleudern, „weiche von mir, Satan!“

Denn warum das alles? Warum sind damals bei seinem Tod spontan über vier Millionen Menschen nach Rom gereist, haben alle erdenklichen Strapazen auf sich genommen, bis zu 17 Stunden geduldig in der längsten Schlange der Welt angestanden, um einige Sekunden lang an seinem aufgebahrten, toten Körper vorbei zu defilieren? Weshalb haben sie auch jetzt wieder all die Hiobsbotschaften von horrenden Hotelpreisen, einer überfüllten Stadt und miserablem Wetter ignoriert, um dabei zu sein, wenn seine Seligsprechung gefeiert wird? Die Antwort ist ganz einfach: Weil jeder, der heute Abend in Rom ist, ihm unendlich viel zu verdanken hat.

Weil er das Leben jedes Einzelnen dieser Millionen einst grundlegend veränderte. Ich bin da keine Ausnahme, auch ich kann sagen, dass dieser Morgen in seiner Privatkapelle der entscheidende Wendepunkt in meinem Leben war. Anderthalb Jahre später saß ich vor ihm auf der Heiligjahrfeier der Journalisten und war bereit, mich und das, was ich kann, fortan ganz in den Dienst seines großen Projektes der Neuevangelisierung Europas zu stellen. So betete ich zu Gott, er möge den Weg dazu frei machen. Ich war damals Chefredakteur eines Magazins. Sechs Wochen später erfuhr ich von einem Kurswechsel der Verlegerin, angesichts dessen es mir zwingend erschien, sofort zu kündigen. Ich habe diesen Ausstieg nie bereut.

Bei der nächtlichen Vigil im Circus Maximus

Und jetzt bin ich wieder in Rom, mit all diesen Menschen, und er lächelt von einer großen Bildplane auf mich herab. Links davon, auf der Bühne, sitzt eine Gruppe von Kardinälen, darunter Stanislaus Kardinal Dziwisz, der heutige Erzbischof von Krakau, der ihm vierzig Jahre lang als Sekretär treu gedient hat. Eine schrecklich laute Moderatorin in einer ziemlich unpassenden weißen Abendrobe präsentiert die Vigil wie eine Show im Berlusconi-Fernsehen. Das Schmunzeln auf dem Gesicht von Kardinal Koch ist unübersehbar, während Dziwisz einen eher betroffenen Eindruck macht. Doch weder die wenig feierliche Aufdringlichkeit der TV-Amazone noch die überdimensionalen gelben Luftballon-Hände, die das römische Pilgerwerk (!) verteilt hat, lassen die Stimmung in Richtung Popkonzert kippen.

Spätestens als die 300.000 Versammelten ihre Kerzen anzünden und den Circus Maximus in ein Lichtermeer verwandeln, weiß man wieder, weshalb man gekommen ist. Als Erster spricht Joaquin Navarro-Valls, der einstige Pressesprecher des Wojtyla-Papstes und drückt aus, was wir alle empfinden: „Danke, Johannes Paul II., für das Meisterwerk, das du mit Gottes Hilfe in deinem Leben vollbracht hast.“ Danach wird Schwester Marie Simon-Pierre Normand interviewt, erzählt von ihrer wunderbaren Heilung, die den Weg zur Seligsprechung endgültig frei machte. Das Gesicht der stillen, fast schüchternen Ordensfrau wirkt zufrieden, ruhig hält die einst an Parkinson Erkrankte das Mikrofon in der Hand. Es war in der Nacht zum 3. Juni 2005, als sie im Gebet Johannes Paul II. um Fürsprache bat, verzweifelt über das Fortschreiten der unheilbaren Krankheit, resigniert, weil es ihr täglich schlechter ging.

Ihm verdanke sie ihr neues Leben, verkündet sie den Hunderttausenden, jetzt sei sie vollständig geheilt. Tosender Applaus, als sie die Bühne verlässt. „Johannes Paul II. kehrt heute zu uns zurück“, verkündet schließlich Kardinal Dziwisz mit kräftiger, klarer Stimme. Er werde jetzt selig gesprochen, weil er schon zu Lebzeiten ein Heiliger war. Nur zweimal habe er ihn wütend erlebt in den vierzig Jahren an seiner Seite: Bei seiner Rede in Agrigent auf Sizilien, als er die Mafia anprangerte, und 2003, als er vor dem fatalen Irak-Krieg warnte.

Fortsetzung folgt!

Foto: © M. Hesemann

Michael Hesemann ist Autor der Papstbiografie "Johannes Paul II. - Erbe und Charisma", Augsburg 2011


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