Ordnung für Fortschritt: Eine Denkschrift aus berufener Feder

12. Oktober 2011 in Buchtipp


Wolfgang Ockenfels: „Was kommt nach dem Kapitalismus?“ Eine Rezension von Franz Norbert Otterbeck.


Köln (kath.net) In sieben Kapiteln, Hauptteilen, nimmt sich Wolfgang Ockenfels (siehe Foto), ein katholischer Vordenker der CDU, Dominikaner und Professor, die aktuelle Frage vor: „Was kommt nach dem Kapitalismus?“ Dramatisch bewahrheitet sich in diesen Tagen bereits das erste Thema: „Nach der Krise ist vor der Krise.“

Damit ist nicht gemeint, dass der Kapitalismus naturnotwendig von Krise zu Krise eilt, nur um die Reichen zu bereichern. Sondern es geht darum, dass die Ordnungspolitik ihre Hausaufgaben macht. Also riskiert Ockenfels von Neuem einen Ruf zur Ordnung.

Es fehlt weiterhin an Subsidiarität, Solidarität und so: Gemeinwohl. Das ordnungspolitische Programm der einstmals sozialen Marktwirtschaft sei auch in den Wirtschaftswissenschaften so gut wie vergessen. (Hinter den Wirtschaftskrisen verbirgt sich also auch eine Krise der Wirtschaftswissenschaft. Es fehle schon an der Ordnung der Begriffe (vgl. Seite 9).

Oder mit Karl Kraus gesagt: „Ich habe nicht Soziologie studiert und weiß auch nicht, dass der Kapitalismus an allem Schuld ist.“ Und gegen Karl Marx gesagt: Sein Geburtshaus in Trier besuchen vor allem noch wissbegierige Chinesen (vgl. S. 156).

Reinhard Marx zitiert Ockenfels nicht, mit guten Gründen. „Das Kapital“ ist nämlich nicht die Hauptsache. Die soziale Verkündigung der Kirche müsste daher dringender bei den „intermediären Gewalten“ wieder Boden gewinnen (Familien, Verbände, Parteien…) als im kirchlichen Beschäftigungssektor selbst, über den deutsche Bischöfe milde Aufsicht führen.

Markant: „Eine aussterbende Gesellschaft macht gerne Schulden. Und Kinder, die nicht mehr geboren werden, müssen die Schulden nicht mehr begleichen.“ Wegen solcher Sätze sollte das sozial-ethische Memorandum von Ockenfels am besten sofort allen Bundestagsabgeordneten zugestellt werden. Schulden haben durchaus etwas mit Schuld zu tun, wie schon Kardinal Höffner bemerkte (S. 12 ff.). „Keine Kinder, keine Rente. Aber auch: Ohne Kinder kein Wachstum.“

Ob die Geschichte bereits das Ende des „Kapitalismus“ eingeläutet habe, lässt der Verfasser noch vorsichtig offen. Aber der Vorsorge dienlich sind Gedanken über eine Zukunft „danach“ jedenfalls. „Das banale kapitalistische Credo lautet: Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht. Oder vornehmer, akademischer ausgedrückt: Die Summe der realisierten Einzelinteressen ergibt das Gemeinwohl“ (S. 32).

Bei aller berechtigten Kritik, die auch kapitalistisch beherrschte C-Parteien mit einschließt, spart Ockenfels „die Kirche und das liebe Geld“ nicht aus. Ein Thema, an das Kardinal Lehmann gerade wegen der Freiburger Rede des Papstes lieber nicht heranwill: Je mehr Mittel, desto mehr Zweck?

„Auf der anderen Seite: Not lehrt leider nicht nur beten, sondern auch fluchen. Wir kennen auch die Habsucht der Habenichtse und den Neid der Besitzlosen. Es gibt nicht nur eine verschämte Armut, sondern auch eine unverschämte Armut, vor allem jene aus Trägheit“. Auch das darf mal gesagt werden.

Aber: „Gott ist und bleibt der Ureigentümer aller Dinge. Wir sind eigentlich nur Verwalter, die Rechenschaft schulden. Erst dann dürfen wir uns Freunde Gottes nennen, wenn wir fest auf Gott bauen“ (S. 48 f.). Wie nur die christliche Existenz in der Gesellschaft bewahrheiten?

Erstens: „Der Mensch ist von seiner Natur aus auf Arbeit angelegt, also soll er arbeiten – und muss gleichzeitig dazu berechtigt sein“ (S. 56). Das erst umzusetzen kostet alle Politik schon viel Kraft, die „wir“ anscheinend nicht haben. Der christlich erweiterte Arbeitsbegriff umfasst allerdings auch die Mitarbeit an der kreatürlichen Wahrheit, an ihrer Erlösung (Laborem exercens, Nr. 27).

Zweitens: „Der Staat „muss also zunächst all das unterlassen, was die Eigeninitiative lähmt und die Bereitschaft zur Selbsthilfe schwächt“ (S. 66). So würde die Freiheit als Verantwortung gelebt.

Drittens: Ein „Klosterkommunismus“ eignet sich als Zielvorstellung für die Weltgesellschaft nicht (vgl. S. 74 f.). Vielmehr käme es darauf an, den Signalen aus Rom mehr Gehör zu schenken. Die Kultur der gratuità, die Benedikt XVI. 2009 vorschlug (vgl. S. 160), hat aber bislang kaum Initiativen zur Ausführung gefunden. Gierig waren in der Krise von 2008 ja vor allem immer „die andern“.

Was aber unterscheidet die Gier vom berechtigten Eigeninteresse? „Der ‚Neue Markt‘ sieht inzwischen sehr alt aus“, meint Ockenfels. Und: „Der Börsenspieler ist einem Trinker vergleichbar, der erst beim crash aufhören kann“ (S. 81 f.). Also: „Moralisch zweifelhaft erscheint der Spekulant, der den Bezug zur realen Wirtschaft vermissen lässt und als habgieriger Hasardeur die Börse betritt wie einen Spielsalon.

In einem positiven Sinn bedeutet Spekulation jedoch soviel wie kluge Berechnung, umsichtiges, vorsichtiges Handeln..“ (S. 85). So notwendig ein effektiv heilsamer Ordnungsrahmen für die Märkte der Zukunft fraglos schon seit vorgestern ist: Die einzelne menschliche Person war nie rettungslos verloren; hallo Nachbar: auch Rechtschaffenheit ist machbar.

Aber: „Wer das Vertrauen ruiniert hat, muss mit Kontrollen rechnen. Wer alles aufs Spiel gesetzt hat, soll nicht auf Kosten anderer den dicken Wilhelm markieren“ (S. 87). Die Aussage eines Bankers, er verrichte „Gottes Werk“, als er mittels der Krise hohe Bonuszahlungen produzierte, gehe entschieden zu weit „und grenzt an eine Blasphemie, die sogar einem Calvinisten übel aufstößt“ (S. 93). Goldman Sachs als „Gottesstaat“? Ockenfels hält Maß in der Kritik, da er, ein Sozialethiker alter Schule, nicht nur die Strukturen, sondern auch die Moral im Blick hat, privat wie öffentlich. Das Stakkato seiner bonmots strengt bisweilen an, bleibt aber in der Tendenz ebenso heiter wie aufklärend.

Diese Feldforschung nimmt dann auch den demographischen Faktor in den Blick: „Die betagte Gesellschaft will ihren Spaß haben, ist aber des Kämpfens müde und der Risiken überdrüssig. Nicht gerade die besten Voraussetzungen für eine innovative Marktwirtschaft, die sich der internationalen Konkurrenz zu stellen hat“ (S. 97).

Die strukturelle Mehrheit der Alten lasse die deutsche Demokratie, ihre Republik zur besitzkonservativen Gerontokratie erstarren. (Der Leser fragt sich: Die DDR sah doch vor 1989 auch schon sehr alt aus?) Vielleicht kann die ordoliberale Schule, an deren Erkenntnis-Kraft der Autor im letzten Drittel seines Buches innovativ erinnert, das große Verhängnis doch noch wenden.

Neoliberalismus in einem guten Sinn bleibt wohl doch ein glaubwürdiges Angebot, sofern ihm glücken kann, auch supranational, durch die Sozialfunktion des Rechts strukturiert zu werden. Dazu wäre noch viel zu sagen. Jedenfalls könnten so Freiräume für eine, jawohl, auf Liebe gegründete Kultur geschaffen werden. Ein Gerücht geht längst um in Europa: „Politik? Geht nur noch mit der Bergpredigt“; und keinesfalls gegen sie. Die Silbe „EU“ in euangelion weist griechisch auf das Gute der Osternachricht hin.

So würde ich gern Ockenfels die Ehrenbezeichnung als ein „Eucken-Fels“ zumuten, frei nach dem großen Marktforscher. Bene scripsisti! Denn gut hat er gesprochen vom Evangelium inmitten der sozialen Aspekte des Katholizismus. Danke für den Ordnungsruf! Mit darin auch diese Erinnerung: „Jede Zeit und Kultur scheint die ihr gemäße Form von Ungerechtigkeit hervor zu bringen … Mit dem Naturrecht im Rücken darf man sich die Frage erlauben: Wie gerecht ist eigentlich ein Gesetz?“ (S. 113). Näheres dazu – dringend zu diskutieren – regte Benedikt XVI. vor dem Bundestag an.

Hochlöblich mithin der Hinweis des Verfassers (S. 158-163), allen Nachrufen zur Unzeit zum Trotz, dass unser glücklich regierender Papst auch, wiewohl die Sozialdoktrin allgemein verständlich mit Natur und Vernunft argumentieren soll, um die Einordnung der sozialkatholischen Fingerzeige in das heutige Gesamt der kirchlichen Sendung besorgt ist: Christliche Gesellschaftslehre wäre losgelöst von der Theologie wirklich nicht relevant.

Das ist kein Integralismus. Niemand will einen ständigen Diakon als Börsenpräses, der jede einzelne Transaktion genehmigen muss, auch nicht als inoffiziellen Mitarbeiter des Eurosystems. Aber die legitime Beziehung der (richtigen) Eigengesetzlichkeit weltlicher Dinge zur sozialen Königsherrschaft des Kreuzes Christi, die moderieren „die Seinen“ im Auftrag der Heiligkeit Unseres Herrn.

Christsein ist immer nur „unpolitisch“ politisch. Ein Weltdienst, der zu was nützen soll, wäre ohne „re-ligio“ rückhaltlos. Solche Praxis der Freiheit aller wäre mehr als eine bloße Ideologie von Engagement; was nichts gegen die Lohnfindung von Caritasgeschäftsführern sagen soll. In diesem Umfeld lässt Ockenfels freilich Räume für weiterführende Beiträge offen. Den kurzen Textabschnitt über die Subsidiarität (S. 126-129), sehr wichtig für jede öffentliche Erörterung der öffentlichen Fragen, könnte man bald zu einem Rede-Entwurf für den Bundespräsidenten ausbauen.

„Schon lange vor Marx haben katholische Intellektuelle den Kapitalismus kritisiert. Und die spätere, inzwischen erlahmte katholische Sozialbewegung hat ihn sozialpolitisch einzuhegen versucht“ (S. 157). Das war national und in Europa nicht ohne Erfolg. Aber schlägt jetzt die Stunde einer sozialen Marktordnung der Weltwirtschaft? Oder tun sich Abgründe auf? Die Entscheidung wird dem globalen Gemeinwohl in brennender Sorge zur Stunde abgefordert werden. Die Papstkritiker deutscher Zunge sollten angesichts dessen einen Augenblick innehalten und der „letzten Friedensinstanz“ (S. 175) etwas zutrauen. Benedictus, qui venit in nomine Domini.


Wolfgang Ockenfels
Was kommt nach dem Kapitalismus?
Augsburg (St. Ulrich) 2011,
175 Seiten
ISBN 978-3-86744-177-3
17,80 €

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