'Jesus-Taxi! Jesus-Taxi!'

2. September 2012 in Kommentar


Eindrücke und Gedanken über einen Freitag in Jerusalem. Von Victoria Fender / kath.net


Jerusalem (kath.net/vf) Es ist halb sechs Uhr morgens. Die Sonne geht auf über der Altstadt von Jerusalem und spiegelt sich in der goldenen Kuppel des Felsendoms wider. Ich werde vom Muezzin geweckt, der direkt neben dem Österreichischen Hospiz vom Minarett aus zum Morgengebet ruft. Es ist Freitag.
Sobald ich aus der Haustüre auf die Via Dolorosa trete, werde ich von Lärm, Staub und einer dichten Menschenmenge empfangen. Karren werden geschoben, sogar Traktoren fahren auf den flachen Stufen der Gässchen, um rechtzeitig die Ware zu den Händlern zu bringen, die diese dann lautstark anpreisen. Marktschreier ist ein umgangssprachlicher, aber sehr treffender Ausdruck für die Verkäufer: Je lauter, desto besser.

Muslemische Frauen, Kinder und Alte drängen mich in Richtung Stephanstor, denn sie wollen zum Tempelberg, um zu beten. Der Zutritt von Männern ist dort nicht erwünscht, man hat Angst vor Unruhen. Die meisten Frauen sind schwarz verschleiert, ich trage ein Kleid und mein Haar nicht verdeckt. Ich komme mir in meiner Kleidung wie ein Paradiesvogel zwischen Amseln vor, sogar kleine Mädchen sind hier schon verschleiert. Ich werde geschoben und gedrängt, ich weiß nicht, ob ich es schaffen würde, gegen diesen Einbahnstrom anzukommen.

Sobald ich die Stadtmauer hinter mir gelassen habe, wird es wesentlich ruhiger. Vor mir erhebt sich der Ölberg. Ich staune über die Ölbäume im Garten Gethsemane, die tatsächlich aus der Zeit Jesu stammen. Sie sind wohl die einzigen noch lebenden Zeitzeugen.

Ganz in der Nähe befindet sich das Grab Mariens. Sobald ich die steile und lange Treppe tief hinunter in eine Art Grotte steige, schlägt mir intensiver Weihrauchgeruch entgegen. Die Stufen sind übersät von unzähligen Kerzen, das offene Feuer taucht den großen Raum in ein stimmungsvolles Licht. Man sieht sofort, dass dieser Ort besonders den orthodoxen Christen heilig ist. Von der Decke hängen unzählige Lampen, mit Gold, Silber und Kugeln verziert. Im Dämmerlicht erkennt man viele Bilder von der Mutter Gottes, Altäre, Statuen. Eine katholische Kirche mutet dagegen richtig dezent an.

Wenn man den Ölberg weiter erklimmt, sieht man plötzlich mitten in diesem muslimischen Gebiet ein großes Haus, auf dem eine riesige israelische Flagge gehisst wurde. Ein hoher Zaun umgibt den Garten und Kameras filmen jeden, der sich dem Grundstück nähert. Eine deutsche Theologin erzählt mir, dass die Juden hier Schritt für Schritt ihr geliebtes Jerusalem aufkaufen wollen. Deswegen bieten sie Moslems für Grundstücke enorme Summen Geld an. Das hat auch der ehemalige muslimische Besitzer dieses Haus erfahren. Mit so viel Geld könne man ein neues Leben in einem anderen Land beginnen. Er hat sein Haus einem Juden verkauft, das erklärt die israelische Flagge. Zwei Wochen später wurde er tot aufgefunden. Ermordet von Moslems, also von seinen eigenen Leuten, weil er der „feindlichen Religion“ Land übergeben hatte.

Auf dem Rückweg sehe ich Touristen auf einem Kamel über den Ölberg reiten. Der Besitzer eines weißen Esels bemüht sich anscheinend vergeblich um Kundschaft. „Jesus-Taxi! Jesus-Taxi!“, ruft er.

Inzwischen ist es Mittag, die Sonne brennt mit einer Intensität vom Himmel, sodass man freiwillig lange Gewänder und ein Kopftuch trägt; nichts anderes vermag annähernd gleich vor der Hitze zu schützen. Der jüdische Friedhof liegt verlassen vor den Toren Jerusalems, denn wer ihn betritt, muss anschließend vom Rabbi rituell gereinigt werden. Dennoch ist es der Wunsch jedes Juden, dort begraben zu werden, denn nach ihrem Glauben kommt Gott am Ende der Welt zu allererst genau dort auf die Erde und wird die dort Bestatteten als Erste von den Toten auferwecken.

Ich finde im jüdischen Teil der Altstadt ein nettes Restaurant, in dem man Falafel, die bekannten Kichererbsenbällchen, kaufen kann. Hier ist es ganz anders als im muslimischen Viertel der Stadt. Die Menschen eilen in einem Tempo durch die Straßen, als wollten sie keine Zeit verlieren, was gut verständlich ist, denn in der Altstadt gibt es weder Autos noch öffentliche Verkehrsmittel, nicht einmal Fahrräder sieht man hier. Die jüdischen Frauen sind sehr hochgeschlossen und bedeckt gekleidet, viele tragen Kopftuch, Hauben oder gar Perücken, um ihr Haar nicht zu zeigen. Die Männer tragen dunkle Anzüge, weiße Hemden, eine Kippa, oft darüber noch einen Hut und die typischen Schläfenlocken, auch Beikeles genannt. Auffallend sind die vielen Kinder, die – ähnlich gekleidet wie ihre Eltern – immer mit dabei sind.

Nun ist es 16 Uhr nachmittags. Ich eile durch die Via Dolorosa und treffe eine Gruppe Christen, die mit Franziskanern den Kreuzweg Christi beten. Das kann man jeden Tag um 15 Uhr, in den Sommermonaten um 16 Uhr, mitverfolgen. Beeindruckend, diese Prozession so zwischen den anderen Konfessionen zu sehen, sicherlich war das Märtyrium Christi ähnlich, nicht andächtig, sondern schon damals ein Gedränge und Geschrei.

Endlich verlasse ich das Damaskustor und erreiche bald das Saint Louis Hospiz, wo ich eine deutsche Freundin treffe. Sie hilft dort für drei Monate bei der Pflege der Kranken mit, um ein Praktikum für ihr Medizinstudium zu absolvieren. Sie stellt mir ihre Vorgesetzte vor: Schwester Monika kommt aus Düsseldorf, hat vor einigen Jahren ihre Liebe zu Israel und besonders zu dem Saint Louis Hospiz entdeckt, als sie selbst als Volontärin dort arbeitete. Heute ist sie die gute Seele des Krankenhauses, ist Managerin, Krankenpflegerin und betreibt nebenbei auch noch Seelsorge. Schwester Monika erzählt mir mit Begeisterung, dass das Leben in diesem Land zwar ständig von Religionskonflikten begleitet wird, dass sich aber sämtliche Konfessionen miteinander ruhig verhalten, wenn es um Soziales geht. Politik und Religion sind heikle Themen, doch das Menschliche werde groß geschrieben. Dazu erzählt mir die Schwester eine wahre Begebenheit, die sich vor Jahren in diesem Hospiz zugetragen haben soll: Das Krankenhaus lag damals genau an der Grenze zwischen Israel und Jordanien. So geschah es, dass eine ältere Patientin am Fenster des Hospizes stand und ihr Gebiss verlor, es fiel unglücklicherweise aus dem Fenster ins Gebüsch vor dem Krankenhaus und somit über die Grenze nach Israel. Nun war es nicht erlaubt, einfach die streng bewachte Staatslinie zu überschreiten. Eine damals dort arbeitende Nonne setzte alle Hebel in Bewegung und durfte – mit einer weißen Friedensfahne in der Hand und unter Begleitung hochrangiger Militärvertretung beider Staaten – auf den Garten hinaustreten und fand das Gebiss der alten Dame. Zum Beweis für diese Begebenheit zeigte mir Schwester Monika ein schwarz-weißes Foto, das eine freudenstrahlende Klosterschwester, von hochrangigen Herren umringt, mit Gebiss in der Hand zeigt.

Dieses Hospiz ist die letzte Zuflucht für Menschen, unabhängig von ihrer Konfession oder politischen Überzeugung. Hier sterben Juden, Christen und Moslems friedlich nebeneinander, Schwester Monika arbeitet sowohl mit einem Priester, als auch mit einem Rabbi zusammen. Seit das Hospiz 1851 vom französischen Konsulat gegründet wurde, sorgen sich Volontäre, Angestellte und Ordensschwestern um die Patienten und begleiten sie in den letzten Stunden, Tagen oder Wochen ihres Lebens. Das gemeinsame Ziel ist der Dienst am Nächsten.

Nur noch kurze Zeit, dann beginnt der Shabbat! Ich treffe viele Juden, die sich beeilen, rechtzeitig zur Klagemauer zu gelangen. Ich mische mich unter die Israelis und folge ihnen durch die Sicherheitskontrollen auf den großen Platz, wo damals der Tempel gestanden haben soll. Hier empfängt mich eine begeisterte Menge, ich werde mitgerissen von einigen Jugendlichen, die laut singend im Kreis tanzen und Gott preisen. Desto näher ich an die Klagemauer heran will, desto enger wird es. Rechts von diesem jüdischen Heiligtum ist ein kleinerer Teil der Klagemauer für Frauen reserviert, links davon ist ein großer Teil für die Männer. Hier feiern neben traditionell gekleideten ultraorthodoxen Juden auch Israelis in Uniform. Männer haben hier im Heiligen Land einen Wehrdienst von drei Jahren zu absolvieren, Frauen sind zu zwei Jahren verpflichtet. Daran stößt sich aber niemand, die Israelis haben im Laufe der Geschichte gelernt, dass es notwendig ist, sich verteidigen zu können und jeder leistet diesen Dienst am eigenen Land mit einer großen Portion Nationalstolz und Patriotismus. Jeder ist daran gewöhnt, diese jungen Menschen mit dem israelischen Sturmgewehr Galil durch die Straßen flanieren zu sehen. Interessanterweise ist das israelische Heer fast ausschließlich mit jüdischen Soldaten besetzt, obwohl ein Großteil der israelischen Staatsbürger muslimisch ist. Hier wird nicht der Staat verteidigt, sondern das Volk und dessen Religion. Allerdings leisten auch die ultraorthodoxen Juden keinen Wehrdienst; dieses Privileg und auch, dass sie nicht arbeiten müssen, sondern vom Staat finanziert werden, haben sie sich anlässlich der Staatsgründung Israels 1948 vom damaligen Premierminister David Ben-Gurion erkämpft.

Inzwischen ist es schon spät, ich beeile mich, rechtzeitig wieder in meine Unterkunft zu gelangen. Auf dem Rückweg empfängt mich ein überfülltes Damaskustor. Die Moslems sind in Hochstimmung, nach einem langen, heißen Tag ohne Trinken und Essen im Ramadan feiern sie nun umso ausgelassener und freuen sich über den Sonnenuntergang. Es wird gegrillt und gebraten, die Märkte gehen nur so über von frischen Speisen, denn die Nachfrage ist enorm. Es ist dunkel, doch die Festbeleuchtungen der Moslems weisen mir den Weg. Sie erinnern mich stark an amerikanischen Weihnachtsschmuck…

Der Muezzin und das lärmende Getümmel auf den Straßen halten mich noch lange vom Schlafen ab. Hier wird die Nacht zum Tag.


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