Der private Reformstau

6. März 2013 in Kommentar


Brauchen wir eine zeitgemäßere Kirche mit der Fähigkeit, die kleinen, schnellen Gerichtsverfahren unserer mündigen Zeitgenossen besser zu überstehen? Ein Gastkommentar von Giuseppe Gracia


Chur (kath.net) Da der Stuhl Petri jetzt leer ist und der neue Papst noch fehlt, werden viele Erwartungen wach. Diese kreisen meist um die Frage, wie man die katholische Kirche zeitgemässer machen kann. Damit sie sich besser ins Konzert der restlichen Gesellschaft einfügt. Damit sie die Fähigkeit erlangt, die kleinen, schnellen Gerichtsverfahren unserer mündigen Zeitgenossen besser zu überstehen.

Ich habe keine solchen Erwartungen an den Papst und gehe davon aus, dass ich für ein gelungenes Christsein von der Kirche nichts fordern muss. Ich denke zum Beispiel an die Selige Mutter Teresa, die vor über 20 Jahren einem Journalisten auf die Frage, was sich in der Kirche ändern müsse, geantwortet hat: „Sie und ich.“

Das beeindruckt mich. Genau wie eine andere Sache. Während der Messe pflegen wir zu beten: „Herr, schau nicht auf unsere Sünden, sondern auf den Glauben deiner Kirche.“ Heute scheint man dabei eher zu denken: „Herr, schau nicht auf die Sünden deiner Kirche, sondern auf meinen Glauben.“

So wäre es konsequent, wirklich einmal in sich reinzuleuchten und etwa zu fragen, wo sich denn der eigene, seelisch-spirituelle Reformstau befindet? Wie kann ich mich als Christ verbessern? Was rät mir dazu der katholische Glaube? Soll ich überhaupt darauf hören? Wenn ich den zurückgetretenen Papst Benedikt XVI. als Bespiel nehme: was hat er gesagt, um mir zu helfen? Als Theologe war er davon überzeugt, dass Vernunft (denkerisch, wissenschaftlich) und Glaube (Anbindung an den liebenden Gott) zusammengehören. Dass eine Vernunft ohne Glaube herzlos, seelenlos wird und ein Glaube ohne Vernunft blind, fanatisch. Darüber lässt sich gewiss nachdenken, diskutieren, streiten.

Aber was ist mit anderen Themen, etwa mit dem Wunsch nach mehr Autonomie und Selbstverwircklichung? Lohnt es sich, hier auf die Kirche zu hören? Eine Autonomie als Selbstzweck lehnt die Kirche allem Anschein nach ab: weil das nicht gottgemäss sein soll und damit auch nicht glücklich machen kann. Ebenso ist eine direkte Selbstverwirklichung nach katholischer Leseart kein gutes Ziel, frei nach Jesus Christus: es wird sich jener Mensch verlieren, der sich gewinnen will, und sich umgekehrt jener gewinnen, der sich in liebender Hingabe verliert. Wäre das nicht ein Ansatzpunkt für persönliche Reformgedanken?

Und was ist mit dem unverzichtbaren Thema Sex? Gerade hier erwartet man von der Kirche, dass sie sich zuerst um ihre veraltete Moral und ihre Missbrauchs-Priester kümmert, bevor sie der Moderne etwas beibringen will. Kann es aber trotzdem sein, dass unsere zeitgemäße Vorstellung von Sex fragwürdig ist? Sex als freier Genuss, als befreiender Selbstkonsum?

Jedenfalls wundere ich mich, wie es möglich war, dass man den Frauen Pille und Abtreibung jemals als Befreiung verkaufen konnte und weiterhin verkauft (nicht zuletzt im Interesse einer entsprechenden Milliardenindustrie). Es ist nämlich gerade die Frau, die ihren Körper seit Jahrzehnten mit Chemie bombardiert, um den angeblich für beide Geschlechter gleich grossen Spass nicht bremsen zu müssen, oder am Ende dazustehen mit einer ungewollten Schwangerschaft. Es ist die Frau, die das Leben eines Ungeborenen vernichten muss, wenn man doch einmal übers Ziel hinausschiesst. Es ist weiterhin meist die Frau, deren Körper kommerzialisiert und als Lustobjekt ausgestellt wird, seit der Trieb als eigenständige Grösse salonfähig gemacht wurde, unabhängig von Liebe und Sehnsucht nach Familie. Und es sind Männer, die am meisten von dieser Entwicklung profitieren. Zugegeben, Film und Fernsehen (mit zu 90% von Männern geschriebenen Drehbüchern) präsentieren gern ebenso befreite, sexhungrige Frauen. In der Realität wollen die Frauen aber meist mehr. Sie suchen die Treue echter Liebe und die Offenheit für Kinder. Und was sagt die katholische Sexualmoral dazu? Jedenfalls ist sie gegen Chemie, wie man weiss. Keine künstlichen, den Naturzusammenhang verfälschenden oder vergiftenden Zusätze. Könnte diese Haltung nicht auch ein Schutz für Frauen und ihre Würde sein?

Zumindest die Erinnerung an eine vergessene, ganzheitliche Vision von Liebe und Sex? Das Plädoyer für einen grünen Weg der Lust, mit natürlicher Empfängnisverhütung? Kann es sein, dass die Kirche eine Art Greenpeace der Sexualität bietet, die sich zu entdecken lohnt?

Jedenfalls werde ich weiterhin über solche Fragen nachdenken, über persönliche, innere Reformen. Dabei freue ich mich über jeden Austausch mit interessierten Menschen. Gerade jetzt, während der Fastenzeit. Gerade dieses Jahr: die Fastenzeit 2013 fällt in die Wochen zwischen dem Konklave in Rom und der Wahl eines neuen Papstes. Ich bin gespannt, wer es sein wird.

Inzwischen denke ich weiter an Mutter Teresa, die mir zeigt, was sich ändern muss. Eine wahre Selige.

Giuseppe Gracia ist Schriftsteller und in einem Teilzeitpensum Medienbeauftragter von Bischof Vitus Huonder in Chur



Foto: © vatican.va/kath.net


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