Trauern um ein kleines Baby? Abtreibung und die Heiligkeit des Lebens

18. April 2013 in Interview


„Früher oder später werden wir nicht mehr dabei haltmachen, Ungeborene zu töten“, erläutert die pro-life Autorin Jennifer Hartline im Interview. Von P. Bernhard Speringer ORC / St. Josephsblatt


Suffolk-Goldach (kath.net/St. Josephsblatt) „Es ist keineswegs einfach neben Eltern zu stehen, deren Kind vor ihren Augen stirbt, dennoch empfand ich es jedes Mal als eine Ehre, als ein Privileg, wenn ich beim letzten Atemzug eines Babys dabei war, selbst wenn jedes Herz im Raum - inklusive meinem eigenen – durch diesen Schmerz gebrochen wurde.“ Dies sagte Jennifer Hartline (Foto) im Interview über ihre Erfahrungen als geistliche Betreuerin auf einer Intensivstation von Neugeborenen. Hier wurzelt die Leidenschaft, mit der sie sich für das Lebensrecht der ungeborenen Kinder einsetzt. Hartline warnt: „Das ist das Traurige, dass die Abtreibungsgesellschaft sich selbst abschafft. Denn früher oder später werden wir eben nicht mehr dabei haltmachen, Ungeborene zu töten.“


P. Bernhard Speringer: Jennifer, du bist in den USA bekannt als eine der kompromisslosesten Journalisten und Autoren, wenn es um das Lebensrecht der Ungeborenen geht. Woher kommt diese Leidenschaft im Kampf für das Recht der Ungeborenen?

Jennifer Hartline: Ich hatte einmal einen wunderbaren Job. Fast zwei Jahre arbeitete ich im „Loma Linda Universitäts Kinder Krankenhaus“, eines der besten Krankenhäuser für Kinder den Vereinigten Staaten. Ich hatte das Glück, als geistliche Betreuerin der Intensivstation für Neugeborene zugeteilt zu werden. Das ist eine der größten Abteilungen dieser Art im ganzen Land, welche die schwierigsten Fälle schwer kranker Kinder von ganz Nordamerika betreut. Es ist das erste Krankenhaus, das Herztransplantationen an Kindern durchgeführt hat und auch ein eigenes Trauma-Zentrum besitzt. Es ist ein unglaublicher Ort.

Leben und Tod sind dort immer und überall anzutreffen. Ich habe dort fast alles erlebt. Die schlimmsten Fehlbildungen an Babys; die ernsthaftesten und schwerwiegendsten Erkrankungen; tragische Lebensverhältnisse, herzzerreißende Trauer, überfließende Freude.

Ich war damals eine junge, alleinstehende Frau ohne eigene Kinder, daher konnte ich mir nicht im Geringsten vorstellen, was die Eltern rund um mich alles durchmachen mussten.

Ich habe jeden Tag einfach mein Bestes gegeben und ihnen Unterstützung, Gebet, Hoffnung und Begleitung angeboten.

Und ich habe gelernt in den dunkelsten Stunden, Zeuge ihres Leides und ihrer Trauer zu sein und nicht davon zu laufen.

Ich habe gelernt „den Schmerz auszuhalten“ und bei den Leidenden zu bleiben.

Der Tod ist ein Teil des Lebens, und da das Leben mit Ehrfurcht behandelt werden soll, gilt das gleiche auch für den Tod.

Es ist keineswegs einfach neben Eltern zu stehen, deren Kind vor ihren Augen stirbt, dennoch empfand ich es jedes Mal als eine Ehre, als ein Privileg, wenn ich beim letzten Atemzug eines Babys dabei war, selbst wenn jedes Herz im Raum - inklusive meinem eigenen – durch diesen Schmerz gebrochen wurde.

P. Bernhard: Diese Nähe zu kranken und sterbenden Babys erklärt gut deinen jetzigen Einsatz für die Hilflosesten in unserer Gesellschaft. Vielen bist du ein „Dorn im Auge“, weil du die Wahrheit schreibst – auch wenn sie vielen äußerst lästig ist. Gab es schon bei deiner Tätigkeit als geistliche Betreuerin in Loma Linda Unverständnis und Widerstand?

Jennifer: Widerstand nicht, da ich v. a. mit den Eltern zu tun hatte. Unverständnis eher, wie man sich für eine „solche“ Aufgabe entscheiden kann und dennoch nicht verzweifelt oder an Gott irrewird.

Ich erinnere mich: Einmal war ich die einzige Person, die da war, um zu weinen. Ein kleiner Bub wurde zu früh geboren und hatte mehrere Geburtsfehler. Seine zutiefst erschütterten Eltern schafften es nicht bei ihm zu sein und ihn, als er starb, zu halten. Sie fragten mich, ob ich das für sie übernehmen könnte. Sie nannten ihn Thomas. Also saß ich in einem Schaukelstuhl und habe das Baby in meinen Armen gewiegt, bis es langsam starb. Thomas hatte fast keinen Brustkorb, daher konnte ich sein Herz ganz genau unter der dünnen und fast transparenten Haut sehen. Ich beobachtete wie es immer langsamer und langsamer schlug und er seine Augen nicht mehr öffnete.

45 Minuten habe ich den kleinen Thomas im Arm geschaukelt, ihm vorgesungen und ihm gesagt, dass er geliebt wurde. Ich war sehr traurig für seine Eltern, nicht nur weil sie ihren Sohn verloren hatten, sondern auch weil sie die Möglichkeit, diese paar Minuten mit ihm zu verbringen und ihn zu lieben, einfach nicht genutzt hatten. Für sie war es ein zweifacher Verlust. Ich wünschte, ich hätte mehr getan um sie zu überreden, ihrer Angst nicht nachzugegeben und bei Thomas zu bleiben.

Ich werde Thomas niemals vergessen und mich an diese 45 Minuten immer dankbar erinnern. Sie waren heilig und ein Geschenk für mich.

P. Bernhard: Ein Geschenk für dich?

Jennifer: Ja, ich habe in meinen Händen perfekte Babys gehalten – Babys, die in der 16. oder 18. Schwangerschaftswoche gestorben sind – und ihre Schönheit bewundert. Ich habe gelernt, wie entscheidend und bedeutend es für deren Eltern war, sie zu sehen, sie zu halten, ihnen einen Namen zu geben und in der gleichen Art und Weise zu trauern, wie sie es auch für ein anderes Familienmitglied getan hätten.

Aber ja, dieses Kind war ebenso ein Mitglied der Familie!

Ich habe auch regelmäßig Fotos für die trauernden Eltern gemacht. Vielfach habe ich dem Baby einen Pulli angezogen, den Freiwillige genau für diesen Zweck gestrickt haben. Eine kleine Haube, Babyschuhe, eine weiche Decke – und so wurde ein wundervolles Bild eingefangen.

Mit weichem Ton habe ich auch Abdrücke der Füße oder Hände gemacht. Ich drückte die zierlichen, zarten Füßchen sanft in den Ton ein, um davon einen Abdruck, als Trost für die trauernden Eltern zu machen, die ihr Kind nie wieder halten würden.

P. Bernhard: Kann man sagen, dass in dieser Zeit für dich die Heiligkeit und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens zu einer ganz persönlichen Realität geworden ist – einer Realität, aus der du heraus heute ganz entschieden und mutig, fast kämpferisch schreiben kannst – trotz der Angriffe der Abtreibungslobby?

Jennifer: Gewiss. Wer vor dem Tod keine Ehrfurcht hat, kann auch vor dem Leben keine Ehrfurcht haben. Das ist das Traurige, dass die Abtreibungsgesellschaft sich selbst abschafft. Denn früher oder später werden wir eben nicht mehr dabei haltmachen, Ungeborene zu töten.


Manche werden vielleicht meine Antworten unnatürlich oder „gruselig“ finden, aber das ist sie keinesfalls. Ehrfurcht vor dem Menschen, sowohl im Leben als auch im Tod, ist heilend und erhebend und ist einer unserer guten Antriebe, wenn sie nicht systematisch durch eine unmenschliche Psychologie erstickt werden.

P. Bernhard: Du erinnerst dich gewiss an die Unmenschlichkeit, mit der der republikanische Präsidentschaftskandidat Rick Santorum und seine Familie von der Öffentlichkeit anlässlich des Todes ihres Sohnes Gabriel behandelt wurden? Ihr Sohn Gabriel Michael war mit nur 20 Wochen Schwangerschaft eine Frühgeburt und starb zwei Stunden nach seiner Geburt. Rick und seine Frau nahmen das Kind mit nach Hause, um gemeinsam mit ihren damals anderen drei Kindern von ihm Abschied zu nehmen. Sie wurden dafür von Kommentatoren verspottet und lächerlich gemacht.

Jennifer: Ja, ich erinnere mich. Karen [Santorum] und ich sind gute Freundinnen. Ich bewundere diese starke Frau. Sie schrieb damals, nach Gabriels Tod, ein Buch über ihre Erfahrungen. (Letters to Gabriel: The True Story of Gabriel Michael Santorum) Wir wurden damals Zeugen der aktuellen Anzeichen und Hinweise für diese Unmenschlichkeit in unserer Gesellschaft.

Ist es nicht widersprüchlich, wenn unsere Kultur des Todes, die sich für Abtreibung und Euthanasie einsetzt, es überhaupt nicht anrüchig findet, wenn ein kleines Kind im Mutterleib in Stücke gehackt wird, in Panik geraten, wenn sie mit dem natürlichen Tod eines Mitmenschen konfrontiert werden?

Diese Leute sind beunruhigt, wenn eine Mutter oder ein Vater mit Zärtlichkeit, Ehrfurcht und Küssen ihr verstorbenes Kind umarmt. Wir haben keine Ehrfurcht vor dem Leben und deswegen fehlt uns auch die Ehrfurcht vor dem Tod und im Tod.

Die Gesellschaft findet es befremdend und unangebracht, dass Eltern den anderen Kindern erlauben, ihren kleinen Bruder nach seinem Tod zu sehen, ihn zu halten und Zeit mit ihm zu verbringen, weil sie sagen, dass dieses Kind keine Person, kein voller Mensch ist, weniger Wert als du und ich.

Sie können es einfach nicht zulassen, dass sich diese Ansicht, ein zu früh geborenes Baby sei tatsächlich ein menschliches Wesen mit Körper und Seele – als Trend durchsetzt.

Was würde nur passieren, wenn wir tatsächlich erkennen würden, dass diese Kleinen im Mutterleib nicht nur gefühllose Gewebeanhäufungen sind?

P. Bernhard: Was können wir daraus lernen? Was kann unserer „Kultur des Lebens“ daraus lernen?

Jennifer: Wie die Familie Santorum den kleinen Gabriel behandelt hat, ist für unsere Gesellschaft nicht normal und für die extremen Abtreibungsbefürworter abartig, weil Gabriel in ihren Augen keinen Wert hatte.

Der Fernsehmoderator Alan Colmes machte das sehr klar, als er sich mit Häme und Spott auf die Stunden von Gabriels Tod und die Trauer der Familie Santorum stürzte indem er im Fernsehen – um politisch zu punkten – über Gabriel als ein „Etwas“ sprach.

Gabriel war aber kein „Etwas“ ohne Wert und Bedeutung. Er war ein kleines Baby, ein Bub, ein Sohn, der geliebt wurde und in den Augen Gottes und seiner Eltern kostbar war.

Jene, die fanatisch für die Abtreibung eintreten, waren verärgert darüber, dass Rick und Karen ihren Sohn eben nicht als eine zu entsorgende Sache ohne Belang ansahen und ihn nicht empfindungslos zum medizinischen Abfall gaben. Sie haben Rick als „eigenartig und sonderbar“ und als „Mann mit zweifelhaftem Urteilsvermögen“ bezeichnet.

P. Bernhard: Was geschieht, wenn wir die Argumentation der Abtreibungsbefürworter zu Ende denken?

Jennifer: Die Frage ist dann: Was können wir als Nächstes erwarten?

Leben, das im Mutterleib schon keinen Wert hat, wird auch nicht plötzlich an Wert gewinnen, wenn es sich außerhalb des Mutterschoßes befindet.

Wenn sie den Körper vor der Geburt zerstören und töten, warum sollten sie ihm nach der Geburt Liebenswürdigkeit bezeigen? Warum sollte man das liebevoll behandeln, das man als Gefahr für die eigene Freizügigkeit und der eigenen „Rechte“ sieht? Warum sollte man riskieren in das Gesicht eines Menschen zu schauen, den man als weniger wert als sich selbst erachtet, als weniger würdig zu leben?

Diese Reaktion der Abtreibungslobby ist nur allzu logisch, und deshalb hoffentlich auch für uns alle ein Alarmzeichen. Jene, die Rick und Karen Santorum gemein kritisiert haben, weil sie dem Leben und dem Tod ihres Sohnes in Ehrfurcht begegnet sind, haben vor aller Welt offenbart, was sich hinter ihren Fassaden verbirgt: ein herzloses Nichts.

Wenn man einem ungeborenen Baby die Menschlichkeit aberkennt, dann kann man das auch bei jedem Beliebigen.

Keiner, der über das, was die Familie Santorum getan hat, spottete, befürchtet, dass sie selber abnorm sind oder ein unzuverlässiges Urteilsvermögen hätten.

Sie befürchten eher, dass der Respekt für das Leben eines „Fötus“ sich durchsetzten könnte. Sie befürchten, dass der winzige Körper eines Babys als heilig und würdevoll angesehen werden könnte und dass – Gott bewahre – das Baby selbst als ein Mensch gesehen werden könnte. Sie haben Angst davor, dass das Trauern um ein kleines Baby hinterfragt, ob die Ermordung eines Babys im Mutterschoß auch wirklich ein legitimiertes Recht sein kann.

P. Bernhard: Was hat Gabriel Santorum uns hinterlassen?

Jennifer: Das Leben von Gabriel Santorum war zu kurz, aber seine Bedeutung wird man lange spüren. Er wird weiterhin Zeugnis ablegen für die unveränderbare Wahrheit, dass das menschliche Leben heilig ist und das Kind im Mutterschoß jeder von uns hätte sein können und jeder von uns sein kann.


Jennifer Hartline (Foto), Autorin, stammt aus Suffolk (Virginia) in den USA und ist Ehefrau und Mutter von drei wundervollen Kindern. Sie schreibt regelmäßig über Themen des katholischen Glaubens und des alltäglichen Glaubenslebens auf der weltgrößten katholischen Internet-Agentur „catholic online“.
Herzlichen Dank für die Übersetzung des Artikels aus dem Englischen an Mag. Heidemarie Wagner

Foto Jennifer Hartline: © catholic online
Dieser Beitrag erschien zuerst in englischer Sprache in „Catholic online“.
Die deutsche Übersetzung wurde im St. Josephsblatt (Nr.8/2013) veröffentlicht.

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