Ein gewöhnlicher Krimineller?

15. März 2014 in Kommentar


Was die Causa Hoeneß über uns und unser Gemeinwesen sagt. Ein Gastkommentar von Michael Schäfer.


München (kath.net) Man muss kein Fan von Uli Hoeneß sein, um die Geschwindigkeit zu bewundern, mit der dieser „gewöhnliche Kriminelle“ (SPIEGEL) durch den Verzicht auf alle Ämter und die mögliche Revision in gewisser Weise die Hoheit über sein Leben zurückgewonnen hat. Er konnte nicht verhindern, über Monate hinweg das Objekt der öffentlichen Diskussion zu sein, aber er hat die erste mögliche Ausfahrt genommen, um wieder Subjekt zu sein. Für einige Jahre ein Mensch am unteren Ende der sozialen Leiter, aber eben eine selbstbestimmte und –verantwortliche Person mit „Anstand, Haltung und persönlicher Verantwortung“, wie er in seiner Presseerklärung schreibt.

Ein Journalist, der ihn persönlich kennt, hat in einem Interview auf die Frage, wie Hoeneß im Gefängnis zurechtkommen werde ohne die ihm vertrauten „Großen der Welt“, geantwortet: „Er braucht keine Großkopferten um sich herum. Er wird sich sehr emphatisch für seine Mitgefangenen interessieren.“ Vielleicht muss man sich um die Zukunft des Menschen Uli Hoeneß gar nicht so viele Gedanken machen.

Will man den nun weitgehend abgeschlossenen Skandal unter einer christlichen Perspektive einordnen, so fällt zunächst der Gegenstand auf, um den es geht. Fielen Personen des öffentlichen Lebens früher regelmäßig ihren Sünden gegen das Institut der Ehe zum Opfer, so geht es heute fast immer um Geld und besonders gerne um Steuern.

Dieser Sachverhalt sollte uns das erste Mal aufhorchen lassen. Natürlich verbietet sich für den Christen die Steuerhinterziehung schon deshalb, weil sie fast notwendigerweise mit Akten der Lüge und Unwahrhaftigkeit verbunden ist. Der durch diese Unwahrhaftigkeiten verdeckte Sachverhalt ist moralisch aber keineswegs so eindeutig wie dies etwa beim Ehebruch der Fall ist.

Während das eine ein „intrinsece malum“ ist, also der Verstoß gegen eine absolute Norm, kann die Steuerhinterziehung dies schon deswegen nicht sein, weil die Höhe der auferlegten Steuern variabel ist und von staatlicher Willkür abhängt. Jedem ist klar, dass Steuersätze über 100% Unrecht wären, gegen das man sich auch durch individuelle Entziehung wehren dürfte – wo aber ist die Grenze, unterhalb derer Steuersätze „gerecht“ und damit hinzunehmen sind?

Die Emphase, mit der das Thema Steuern heute mit dem Begriff der Gerechtigkeit verbunden wird, ist ein sicherer Indikator für das unterdrückte Restbewußtsein, dass der staatliche Zugriff auf die persönlichen Einkommen ein hochgradig rechtfertigungsbedürftiger Vorgang ist. Zumal der Schuldenstaat der Gegenwart, der gigantische Lasten auf die Schultern der kommenden Generationen häuft, wenig Grund hat, sich als moralische Super-Autorität aufzuspielen.

Man kann die sich immer weiter ausbreitende Staats- und Steuerfrömmigkeit in Deutschland im Sinne des oben Gesagten als Ausdruck einer immer größeren Liebe zur Wahrhaftigkeit interpretieren – ein Rest an Staatsskepsis bleibt vielleicht dennoch angebracht und wünschenswert. Man sollte nicht vergessen, dass das in diesem Zusammenhang immer wieder zitierte Jesuswort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist“ nicht die Antwort auf die Frage war, ob man Steuern zahlen MUSS, sondern auf diejenige, ob man überhaupt Steuern zahlen DARF. Das ist keine Rechtfertigung zur Steuerhinterziehung, aber vielleicht Anstoß für ein gelegentliches Nachdenken.

Zur Neusortierung in der Hitliste „öffentlicher Sünden“ passt auch das Standardbeispiel, an dem die Verwerflichkeit der Steuerhinterziehung heute meist illustriert wird: „Die hinterziehen Steuern und anderswo fehlt das Geld für die Kitas.“ Nicht mehr das verhungernde Kind in der „Dritten Welt“ oder der Sozialhilfeempfänger sind das Ideal sinnvoller Verwendung von Steuergeldern, sondern das unverzichtbare und mit Rechtsanspruch versehene Schmiermittel zur Durchökonomisierung der Gesellschaft und zur Verwandlung möglichst aller Menschen in jederzeit verfügbare Arbeits- und Konsumkräfte.

Mag man über die moralische Bewertung von Steuerangelegenheiten unter Christen sehr legitim unterschiedlicher Meinung sein, ist ein anderes Charakteristikum der „Angelegenheit Hoeneߓ weitaus besorgniserregender: die Art der öffentlichen Berichterstattung. Es besteht kein Zweifel, dass den Medien in einer freien Gesellschaft die wichtige Aufgabe zukommt, öffentliche Vorgänge und auch das Gebaren öffentlicher Personen kritisch zu begleiten und immer wieder auch durch Offenlegung von Dingen der Gerechtigkeit auf die Sprünge zu helfen. Rechtfertigt dies aber ein monatelanges, sensationslüsternes mediales Trommelfeuer, bei dem Schritt für Schritt privateste Dinge ins grelle Licht der Scheinwerfer gezerrt werden?

Weiter: Wären die Medien in dem Augenblick, in dem die staatliche Gerechtigkeit in Form staatsanwaltlicher Ermittlungen ihren Lauf nimmt, nicht sogar verpflichtet, die Scheinwerfer herunterzuregeln? Was bedeutet der alte Grundsatz, dass ein Angeklagter bis zur rechtskräftigen Verurteilung als Unschuldiger zu gelten hat, heute noch? Was sind im konkreten Fall verfassungsmäßige Rechte wie der Appell an die nächste Instanz noch Wert, wenn sie nur um den Preis weiteren monatelangen medialen Dauerfeuers zu haben wären? Ist es wirklich akzeptabel, dass weite Teile der Medienwelt sich darin überbieten, dem Angeklagten jeden positiven Charakterzug abzusprechen und ihn in eine Art Monster zu verwandeln?

Man kann auch diese Fragen unterschiedlich beantworten – Christen sollten sie sich auf jeden Fall stellen.

Aber versuchen wir noch ein wenig tiefer zu graben. Der vielleicht irritierendste Aspekt der „Causa Hoeneߓ (man könnte weitere Namen anführen: Wulff, Schwartzer, Tebartz van Elst) ist die ins Auge springende Gnadenlosigkeit, mit der Fälle dieser Art in der Öffentlichkeit verhandelt werden. Gnadenlosigkeit aber ist das Gegenteil von Barmherzigkeit und diese ist nicht erst seit Papst Franziskus die christliche Tugend schlechthin.

Sie fällt uns heute vielleicht deshalb so schwer, weil ihr, sofern sie echt im christlichen Sinne ist, die Einsicht korrespondiert, dass der Mensch ein „erbärmliches“ Wesen ist. Und dies nicht in abstrakter Weise – nein: Ich bin erbärmlich, Du bist erbärmlich und unsere Nächsten sind es auch; wir alle, die wir uns an der öffentlichen Exekution eines „Großkopferten“ delektieren. Millionen Deutsche leisten Schwarzarbeit oder nehmen sie in Anspruch (der wirtschaftliche Gesamtschaden wird von der Bundesregierung auf dreistellige Milliardenbeträge pro Jahr beziffert); millionenfach wird Prostitution und Pornographie „konsumiert“ – um nur zwei Beispiele herauszugreifen.

Wir betrügen das Gemeinwesen und wir brechen die Ehe, wir lügen und reden schlecht über unseren Nächsten. Niemand würde es überstehen, wenn sein Leben unter dem Licht der Fernsehscheinwerfer moralisch seziert würde. Wir alle sind erbärmlich und bedürfen der Barmherzigkeit; der Barmherzigkeit des gekreuzigten Gottessohnes und der Barmherzigkeit unserer Mitmenschen.

Die Gnadenlosigkeit so mancher öffentlicher Hatz ist wohl nur die Kehrseite dieser Verdrängung und diese Verdrängung ein Charakteristikum unserer Gesellschaft, die keine christliche mehr sein will und keine christliche mehr werden kann, solange die Einsicht in unsere individuelle Erbärmlichkeit nicht wieder Teil unseres öffentlichen Bewußtseins wird.


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