Experte: Ukrainische Maidan-Identität nicht mehr zerstörbar

9. April 2014 in Weltkirche


Lemberger Kirchenhistoriker: Kirchen haben zum friedlichen Verlauf der Demonstrationen wesentlich beigetragen


Kiew (kath.net/KAP) Die vergangenen Monate der Maidan-Proteste sind für die Ukraine ein bleibendes Kapital, das selbst die drohende Gefahr weiterer russischer Militäraktionen nicht zerstören kann. Diese Einschätzung hat der Lemberger Kirchenhistoriker Oleh Turiy im Interview mit "Kathpress" geäußert. "Die Tatsache, dass die Mehrheit der Ukrainer unter schwierigen Umständen so lange für Menschenwürde und Menschenrechte eingetreten ist und ein Volk, das zusammenhält, sichtbar wurde, kann nicht einfach verschwinden", so der Vizerektor für Forschung der Ukrainischen Katholischen Universität Lemberg. Er hob besonders die zentrale Rolle und die Zusammenarbeit der Kirchen der Ukraine während der Proteste hervor.

"Die Kirchen der Ukraine sind wesentlich involviert beim Aufbau dessen, was wir hier 'bürgerliche Gesellschaft' nennen", betonte Turiy. Nachdem sie sich schon beim Zerfall der Sowjetunion und bei der Bildung der ukrainischen Demokratie engagiert hätten, sei auch die aktive Beteiligung der Kirchen an den Maidan-Protesten mit deren Eintreten "für Menschenwürde, für demokratische Entwicklung und somit für eine bessere Zukunft" für die meisten Ukrainer eine "Selbstverständlichkeit" gewesen.

Als wichtigen Verdienst der Kirche auf dem Maidan bezeichnete der Kirchenhistoriker den Gewaltverzicht auf Seiten der Demonstranten: "Die Menschen waren nach den monatelangen Protesten und den blutigen Zwischenfällen äußerst verärgert. Die Kirchenvertreter haben dazu motiviert, dass der Friede gewahrt bleibt." Gelungen sei dies vor allem im direkten Gespräch mit den Menschen vor Ort.

Neues Miteinander

Beigetragen haben die jüngsten Ereignisse laut Turiy auch zur Verständigung zwischen den Kirchen des Landes. Hätten die verschiedenen religiösen und christlichen Traditionen der Ukraine im Lauf der Jahrhunderte auch manchmal "gegeneinander" und vor der Unabhängigkeit 1991 auch strikt getrennt gelebt, habe man seither gelernt, in bestimmten und wichtigen Fragen gemeinsam aufzutreten. Turiy: "Große Dialogprozesse oder Planungen waren dazu nicht notwendig." Spätestens seit der "Orangenen Revolution" und ihren Protesten gegen Wahlfälschung habe man somit zu einem "Modus operandi" gefunden.

Anders als vor zehn Jahren seien die aktuellen Proteste jedoch in erster Linie nicht gegen eine Sache, sondern für ein gemeinsames Anliegen gewesen, hob der Lemberger Professor hervor. Dass die Ukrainer heute ihre eigene Meinung bildeten, ihre eigene Würde verspürten und für ihre Rechte kämpften, ziehe sich wie ein roter Faden durch die jüngste Geschichte des Landes und vereine seine Bewohner. Vom Westen werde dieser Aspekt kaum wahrgenommen und von Russlands Präsident Wladimir Putin nicht verstanden, so Turiy. "In Russland gibt es ja keine bürgerliche Gesellschaft." Putins Politik zeugt in den Augen Turiys von Angst vor einer Beispielwirkung der ukrainischen Demokratie und Unabhängigkeit auf Russland.

Appell des Friedens

In der Ukraine zögen derzeit alle Kirchen an einem Strang, so die Darstellung des Kirchenhistorikers. Selbst der Interimsleiter der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats, Metropolit Onufry, forderte Putin angesichts der zunehmenden Spannungen per Brief dazu auf, die Ukraine zu respektieren und keinen Krieg anzuzetteln. Zudem hielt er die Priester an, Nahrung und Medikamente zur Unterstützung der ukrainischen Armee zu sammeln, was eine Pflicht sei "nicht nur als Bürger, sondern auch als Christen".

Er selbst hoffe weiter auf eine friedliche Lösung, so Turiy, auch wenn die Zeichen der jüngsten Tage darauf deuten würden, "dass Russland nicht mit der Krim zufrieden ist und eine weitere aggressive Politik gegenüber der Ukraine führt".

Bischöfe vor Wahlen zurückhaltend

Zurückhaltung der ukrainischen Kirchen erwartet der Lemberger Geschichtsexperte hingegen im Vorfeld der für den 25. Mai angesetzten ukrainischen Präsidentschaftswahlen. "Selbst jene Kirchen, die sich früher stark politisch engagiert haben, dürften sich diesmal von direkten Wahlempfehlungen distanzieren, um somit eine freie Wahl der Kandidaten zu unterstützen", so seine Prognose. Schließlich habe man aus der Geschichte gelernt, welche negativen Folgen parteipolitische Einmischung mit sich bringen könne.

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