Der säkulare Rechtsstaat braucht Religion!

23. Mai 2014 in Kommentar


Ich möchte auf einige Missverständnisse eingehen, die häufiger im Themenkreis Staat und Kirche zu Tage treten. Von Georg Dietlein (f1rstlife)


Köln (kath.net/f1rstlife/gd) „Wie gut vertragen sich Staat und Religion?“ Diese Überschrift, mit der ein Beitrag von Jasmin Hutter überschrieben ist, regt zum Denken an. Möglicherweise schweifen unsere Gedanken dabei in Richtung Osten, wo wir auf muslimische Gottesstaaten treffen, die uns mit ihren religiösen Gesetzen (Scharia) in Angst und Schrecken versetzen. Möglicherweise denken wir aber auch an prominente Gegenbeispiele, etwa das nationalsozialistische Deutschland oder die DDR, in der Religion nicht viel zu sagen hatte. Im Gegenteil: Die Machthaber der NS- und der SED-Diktatur versuchten, völkische bzw. sozialistische Gegenreligionen aufzubauen, die ein Leben in Fülle und Glück verheißen sollten. Wie dieses Spiel ausgegangen ist, wissen wir alle.

Ich möchte in sieben Punkten auf einige Missverständnisse eingehen, die häufiger im Themenkreis Staat und Kirche zu Tage treten.

1. Das Herz von Religion ist nicht die Vermittlung von Werten, sondern der Glaube.

Wenn man heute eine Umfrage über das „Wesen des Christentums“ machen würde, würden vermutlich „christliche“ Werte an erster Stelle genannt: Menschenwürde, Freiheit, Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Angesichts dessen muss man sich die Frage stellen: Sind dies wirklich eminent „christliche“ Werte? Könnte sich nicht auch ein Atheist oder Humanist mit diesen Werten anfreunden? Was also ist das spezifisch Christliche daran? Und worin besteht nun das unterscheidend Christliche, wenn es nicht diese Werte sind?

Eine Religion auf ihre Werte einzudampfen, würde das Herz dieser Religion einschmelzen. Werte, Moral und religiöse Vorschriften sind immer „nur“ Konsequenz und Folge von Religion, Folge des Glaubens. Im Zentrum des Christentums steht keine Moral, sondern eine Person: Jesus Christus, der Sohn Gottes. An seiner frohen Botschaft von Gott, dem Evangelium, richtet sich alles aus. Christ zu sein bedeutet nicht, bestimmte Werte oder moralischen Vorschriften anzuerkennen, sondern auf Jesus Christus zu hören und mit ihm in Freundschaft zu treten. Wesentlich für das Leben eines Christen sind hier die Sakramente, durch die wir unmittelbar mit Gott in Kontakt treten können.

2. Der säkulare Rechtsstaat ist an sich nicht religiös, aber auch nicht anti-religiös.

Spätestens seit der Weimarer Republik gibt es in Deutschland keine Staatskirche mehr. Der Anspruch der weltanschaulichen und religiösen Neutralität des Staates ist Konsequenz der Erfahrungen aus der Reformationszeit, dem Dreißigjährigen Krieg, der Französischen Revolution und der Kaiserzeit. Immer wenn der Staat Einfluss auf die Kirche oder die Kirche Einfluss auf den Staat zu nehmen versuchte, führte dies zu unbefriedigenden Ergebnissen. Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses und die Autonomie der Religionsgemeinschaften in ihren eigenen Angelegenheiten sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Der säkulare (weltliche) Rechtsstaat ist an sich nicht religiös, aber auch nicht anti-religiös. Er respektiert die Ausübung der Religionsfreiheit, räumt Religionsgemeinschaften besondere Rechte ein und fördert Religion.

3. Der säkulare Rechtsstaat ist vielmehr sogar auf Religion angewiesen!

Vom Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde stammt das berühmte Diktum: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots, zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“

Der säkulare Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht schaffen kann. Er ist darauf angewiesen, dass seine Bürgerinnen und Bürger bestimmte Werte und Grundanschauungen, teilen. Dies muss er voraussetzen und kann er nicht hoheitlich einfordern. Der Staat kann etwa kaum auf die Einstellung der Bürgerinnen und Bürger zu Ehe und Familie Einfluss nehmen. Er lebt aber von Ehe und Familie. In gleicher Weise gilt dies für Religionen und Weltanschauungen. Zahlreiche empirische Studien belegen einen engen Zusammenhang von Glaube und Moral, von Religion und Wertvorstellungen. Anders gesagt: Eine „Gesellschaft ohne Gott“ (Andreas Püttmann) führt zum Moralverfall.

4. Trennung von Staat und Kirche bedeutet nicht: Laizismus.

Staat und Religion bzw. Kirche sind in Deutschland nicht strikt getrennt, sondern arbeiten in einzelnen Bereichen auch zusammen. Man denke an Bekenntnisschulen, Religionsunterricht, Militärseelsorge, die Mitsprache der Kirche bei der Berufung von Theologieprofessoren, das staatliche Feiertagsrecht, die Kirchensteuer und Staatsleistungen an die Kirche. Diese Kooperation hilft nicht nur der Kirche, sondern liegt auch im Interesse des Staates. Viele seiner Bürgerinnen und Bürger sind nämlich religiös – in Deutschland sind immerhin über 60 Prozent der Bevölkerung christlich – und möchten ihre Religion auch ausüben, ohne sich dafür in eine Parallelkultur zurückziehen zu müssen. Die gleichberechtigte Förderung von Religionen macht den Staat nicht bereits parteiisch, vielmehr trägt sie sogar dazu bei, dass der Staat neutral bleiben kann. Ein ausgewogenes Verhältnis von Staat und Kirche ist geprägt von Trennung einerseits, Kooperation andererseits.

5. Recht nimmt Maß an Gerechtigkeit, nicht an Moral.

Auch wenn der Staat auf Religion, Moral und Wertanschauung angewiesen ist, ist sein Recht keineswegs religiös oder moralisch. Eine Vermengung von Recht und Moral wäre das Ende des säkularen und freiheitlichen Rechtsstaates. Jede staatliche Rechtsnorm, die Freiheitsrechte einschränkt, braucht eine Rechtfertigung. Diese aber kann niemals aus religiösen oder moralischen Ansprüchen hervorgehen, sondern allein aus Gerechtigkeit und Naturrecht. Der Schutz von Ehe und Familie oder der Schutz des ungeborenen Lebens beruhen etwa nicht auf moralischen Ansprüchen der Kirche, sondern gehen hervor aus dem Naturrecht, das wir als dem Menschen vorgegeben und als der menschlichen Natur eingeschrieben vorfinden. Dass der Mensch auf Ehe und Familie hin geschaffen ist, lässt sich etwa ablesen an der Bipolarität von Mann und Frau, ihrer natürlichen Fähigkeit, Nachwuchs hervorzubringen und dem Anspruch der Menschenwürde, die auf Verbindlichkeit, Treue und Nachhaltigkeit aus ist. Insofern wurzeln auch religiös anmutende Rechtsvorschriften nicht in Moral, sondern in Gerechtigkeit. Moral muss der Staat voraussetzen. Gerechtigkeit kann er – zumindest ansatzweise – schaffen.

6. Gleichheit bedeutet keine Gleichmacherei.

Damit sind wir bei einer strittigen Diskussion, die der säkulare Rechtsstaat über sich ergehen lassen muss: Wenn in Deutschland Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stehen (Art. 6 GG), andererseits der allgemeine Gleichheitssatz Geltung hat (Art. 3 GG), muss der Staat dann nicht Ehe und alternative Lebensformen, etwa die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft, gleichbehandeln? Hierzu sollten wir kurz reflektieren, was mit dem allgemeinen Gleichheitssatz gemeint ist: Der Staat muss Gleiches gleich und Ungleiches ungleich behandeln. Die Ehe und die bloße Verlobung sind etwa etwas völlig Ungleiches. Daher werden sie auch ungleich behandelt. Aber auch die Ehe zwischen Mann und Frau und die Lebenspartnerschaft zwischen zwei Männern oder Frauen sind nicht vollständig deckungsgleich. Zwar übernehmen auch in der Lebenspartnerschaft zwei Personen verbindlich Verantwortung füreinander. Im Gegensatz zur Ehe können diese allerdings keine Kinder hervorbringen. Die Ehe ist natürlicherweise offen für neues Leben und umfasst so zumindest die Potenzialität von Nachkommenschaft. Aber auch mit Blick auf Adoption von Kindern unterscheiden sich Ehe und Lebenspartnerschaft wesentlich: Studien zeigen, dass sich Kinder und Jugendliche dort besser entwickeln, wo sie ein männliches und weibliches Elternteil haben. So lernen sie beide Geschlechter besser kennen und können so ihr natürliches Verhältnis zum männlichen und weiblichen Geschlecht besser einüben.

7. Europa hat christliche Wurzeln.

Angesichts des wachsenden Einflusses nicht-christlicher Religionen und Weltanschauungen in Deutschland und Europa ist von einer multikulturellen Gesellschaft die Rede. Wer sich einzelne Viertel großer europäischer Städte anschaut, findet diese These ganz plastisch bestätigt. Wir leben in keiner christlichen Einheitsgesellschaft. Und dennoch: Europa ist nach wie vor stark christlich geprägt. In der EU bekennen sich über 80 Prozent der Einwohner zum christlichen Glauben. Die Geschichte Europas ist unbestritten christlich geprägt. Bis hin zur EU und zum Grundgesetz lassen sich deutliche christliche Wurzeln nachzeichnen. Insofern macht es Sinn, den Sonn- und Feiertagsschutz und andere christliche Bräuche in unserem Land nicht zu bekämpfen, sondern zu bewahren. Sie machen unsere Kultur aus und bereichern unser Land.

Georg Dietlein, freier Mitarbeiter bei kath.net und Moderator bei K-TV, ist 21 Jahre alt. Er hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht. Nach Abschluss seiner Studien in Rechtswissenschaften und Betriebswissenschaft wird er in das Kölner Priesterseminar eintreten.

kath.net-Buchtipp:
Unter dem Geheimnis des Kreuzes
Betrachtungen zum Kreuzweg
Von Georg Dietlein
212 Seiten;
2014 Pneuma Verlag
ISBN 978-3-942013-23-9
Preis 20.60 EUR

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