Dem Zeitgeist anpassen oder klare Kante zeigen?

15. Juli 2014 in Kommentar


Welchen Einfluss haben Christen noch in Gesellschaft und Politik? Gastbeitrag von Bernd-M. Wehner


Monheim am Rhein (kath.net/kreuz-und-quer.de) „Wie herrlich ist es, dass niemand eine Minute zu warten braucht, um damit zu beginnen, die Welt zu ver­ändern.“ Mit dieser Aussage bringt Anne Frank eine Haltung auf den Punkt, die zeigt, worauf es an­kommt. Es liegt ganz alleine an uns, ob wir uns als Christen in der Gesellschaft engagieren oder ob wir das Feld den anderen überlassen. Wir brauchen nicht zu warten, bis uns jemand dazu auffordert. Denn der christliche Glaube darf sich nicht auf das Religiöse beschränken. Schließlich lebt der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann, wie es der ehemalige Verfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde zu Recht formuliert hat. Deshalb ist es umso notwendiger, dass wir uns als Christen offensiver dafür einsetzen, dass christliche Wertvorstellungen in Staat und Gesellschaft, in Wirtschaft und Arbeitswelt mehr und mehr verwirklicht werden. Streichen wir deshalb Formulierungen wie ‚man müsste’ oder ‚man sollte’, sondern setzen wir uns einfach dafür ein, dass unsere Welt christlicher und somit menschlicher wird.

Wenn wir uns als Christen im Alltag bewähren wollen, dürfen wir allerdings unsere Schätze nicht vergraben, sondern müssen mit ihnen wuchern. Einer dieser Schätze ist die Katholische Soziallehre – unser bestgehütetes Geheimnis. Schließlich suchen gerade in der heutigen Zeit, in der vielfach aus Gleichgültigkeit alles gleich gültig erscheint, die Menschen Orientierung. Als Christen können wir ihnen diese geben. Wir haben ein Menschenbild, das ohnegleichen ist. Denn nur wenn man den Menschen als Ebenbild Gottes sieht, kann man seine menschliche Würde wirklich begründen und sie ohne Wenn und Aber verteidigen. Insofern sollten auch Menschen, die nicht an Gott glauben, froh sein, dass auch ihre Menschenwürde durch dieses christlich geprägte Bild geschützt wird. Denn sie ist keine Erfindung des Menschen, die bei Bedarf mehrheitlich geändert oder gar abgeschafft werden kann.

Lebensschutz – ohne Wenn und Aber

Schließlich zeigt die aktuelle Diskussion um den Lebensschutz, wie schnell man auf eine schiefe Ebene geraten kann. Es ist geradezu absurd, die Beihilfe zur Tötung mit Solidaritätsgefühlen für den Kranken zu verbinden. Wer kann mit Sicherheit erkennen, ob der ‚Wunsch’ sich selbst zu töten, wirklich aus freiem Willen erfolgt? Nicht selten sind es schwere psychische Erkrankungen, die Menschen dazu bewegen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Leben ist aber ein Geschenk, über das wir weder am Anfang noch am Ende frei verfügen können. Gefragt ist eine liebevolle Betreuung bis zum Tod und nicht die Beförderung in den Tod. Dies ist der Schlüssel für eine humane Gesellschaft. Als Christen müssen wir deshalb die irrige Meinung ändern, dass aktive Sterbehilfe eine humane Tat ist, die angeblich von vielen gefordert wird. Wer so denkt, hat noch nie einen Todkranken erlebt, der umsorgt von seinen Angehörigen oder ehrenamtlichen Helfern in Hospizeinrichtungen an der Hand und nicht durch die Hand eines Menschen stirbt.

Ehe und Familie bilden das Fundament für die Gesellschaft

Ein weiteres wichtiges Themenfeld, bei dem wir Flagge zeigen müssen, ist der Bereich Ehe und Fami­lie. Schließlich ist die Familie Grundlage für unsere Gesellschaft. Basis hierfür ist die Ehe zwischen Frau und Mann. Als kleinste Zelle unserer Gemeinschaft vollbringt die Familie Leistungen, die von anderen Institu­tionen nicht erbracht werden können. In ihr erfahren Menschen Geborgenheit und Zuwendung. In ihr können am besten Werte vermittelt und Verhaltensweisen eingeübt werden. In der Familie erhalten Kinder Orientierung für ihr späteres Leben. Leider werden aber mehr und mehr Ehe und Familie in der heutigen Zeit in Frage gestellt. Das bedingungslose Ja ist jedoch für den Zusammenhalt von Menschen der entscheidende Faktor. Deshalb müssen auch die Leistungen der Familie für die Gesellschaft besser honoriert werden. Dies muss sowohl finanziell als auch ideell erfolgen. Familien mit Kindern müssen wieder spüren, dass sie von der Gesellschaft – und hier sind vor allem Politik, Wirtschaft, Medien und Verbände angesprochen – anerkannt und nicht als Exoten belächelt werden. Deshalb darf der Staat nicht in die Familien hineinregieren. Er muss ihnen vielmehr den Entscheidungsfreiraum lassen, den sie brauchen. Das geschieht am besten, wenn man den Familien die Rahmenbedingungen zukommen lässt, die sie benötigen, um ihre Aufgaben erfüllen zu können.

Ethik in der Wirtschaft

Ein Wort auch zur Finanz- und Wirtschaftskrise. Hier hat man zwar wieder die Ethik in der Wirtschaft entdeckt und damit auch den „Ehrbaren Kaufmann“, doch überwiegt inzwischen schon wieder die Ein­stellung nach dem schnellen Gewinn. Mit einer ‚Geiz-ist-geil-Mentalität’ kann man im Einzelfall mal ein Schnäppchen machen, langfristig schadet man aber einer am Menschen orientierten Wirtschaft. Nur wenn der Mensch im Mittelpunkt steht und Werte wie Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit und Maß Leit­schnur für das Handeln in Politik und Gesellschaft sind, kann es eine auf Nachhaltigkeit basierende Wirtschafts- und Sozialordnung geben. Der „ehrbare Kaufmann“ muss nicht nur in aller Munde sein, sondern er muss vor allem praktiziert werden. Von daher passt auch die jetzt gestartete Ökumenische Sozialinitiative der katholischen und evangelischen Kirche genau in die Zeit. So wird hier zu Recht betont, dass wirtschaftliche Aktivitäten, das heißt unternehmerisches Handeln aber auch Transaktionen auf den Finanzmärkten keinen Selbstzweck darstellen, sondern die menschliche Entwicklung insgesamt befördern müssen.

Sonntagsschutz wichtiger denn je

Die zunehmende Arbeitszeit an Sonn- und Feiertagen zeigt, dass der grundgesetzlich geschützte Sonntag immer mehr ausgehöhlt wird. So hat in Deutschland die Sonn- und Feiertagsarbeit in einem erschreckenden Maße zugenommen. Während vor 20 Jahren noch 7,5 Millionen Erwerbstätige gelegentlich, regelmäßig oder ständig von Sonntagsarbeit betroffen waren, ist diese Zahl inzwischen auf elf Millionen gestie­gen. Von daher brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn gerade die junge Generation heute zunehmend über Stress und burn-out am Arbeitsplatz klagt, weil von der Werkbank bis zur Chefetage der Sonntag als Tag des Abschaltens, des Innehaltens und der Ruhe fehlt. Gerade Familien und Beziehungen leiden unter der zunehmenden Arbeitsbelastung und der fehlenden Freizeit.

Mut zur Balance zwischen Arbeit und Freizeit

Die Meldung, dass knapp 75.000 Männer und Frauen in 2012 wegen psychischer Störungen arbeitsunfähig geworden sind und erstmals eine Erwerbsminderungsrente bezogen haben, zeigt, dass der KKV mit seinem Jahresthema ‚Mensch bleib im Gleichgewicht – Mut zur Balance zwischen Arbeit und Freizeit’ den Nerv der Zeit getroffen hat. Deshalb plädieren wir immer wieder für eine Arbeitsphilosophie, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt. Hierzu gehört auch eine Kultur der Unerreichbarkeit – zumindest am Sonntag und im Urlaub. So haben viele Erkrankungen – wie beispielsweise Burn out – seelische Ursachen. Nach Auskunft der Ärzte sind etwa 60 Prozent der heutigen Krankheiten sogenannte Leiderkrankungen. Das heißt: Sie haben ihre Ursachen in einer gestörten Seele, einem instabilen Innenleben, einer fehlenden inneren Balance. Ich wünsche deshalb jedem den Mut, in seiner Freizeit wirklich abzuschalten. Tagträumen ist nicht verlorene Zeit, sondern ein Auftanken für die Seele.

Die Themenpalette, bei denen wir als Christen gefragt sind und wo wir Stellung beziehen müssten, ist riesig. Sie wird uns tagtäglich in den Nachrichten präsentiert. Die Frage ist also: Wie gehen wir als Christen damit um? Legen wir die Hände in den Schoß und sagen, wir können eh nichts ändern? Oder sagen wir: Als Christen sind wir heute mehr denn je gefordert, uns in die Gesellschaft einzubringen. Vergraben wir also nicht unsere Talente, sondern wuchern wir mit ihnen.

Bernd-M. Wehner ist seit Mai 2009 Bundesvorsitzender des KKV (Verband der Katholiken in Wirtschaft und Verwaltung). Bis zu seiner Pensionierung im Jahre 2009 war er bei der Deutschen Tele­kom beschäftigt. Lange Zeit war er dort als Pressesprecher bzw. als Leiter Repräsentation und Stab tätig.


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