Randgebiete... und die Versuchung, die erste Liebe zu vergessen

17. November 2014 in Aktuelles


Franziskus in Santa Marta: Kirche sein bedeutet nicht, sich in einem ‚ekklesiastischen Mikroklima’ zu isolieren. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) „Herr, ich möchte wieder sehen können!“. Das Tagesevangelium vom Montag der 33. Woche im Jahreskreis über die Begegnung Jesu mit dem Blinden in Jericho (Lk 18,35-43) stand im Mittelpunkt der Predigt von Papst Franziskus bei der heiligen Messe in der Kapelle des vatikanischen Gästehauses „Domus Sanctae Marthae“.

Auf Jesus blicken und dabei vergessen, ihn im Armen zu sehen, der um Hilfe bittet, im Ausgegrenzten, der abstoßend ist: der Papst warnte vor dieser Versuchung, der die Kirche in allen Zeitaltern ausgesetzt sei, der Versuchung, sich in ein „ekklesiastisches Mikroklima“ zurückzuziehen, statt die Türen für die gesellschaftlich Ausgeschlossenen zu öffnen.

Der Blinde von Jericho repräsentiere die „erste Klasse von Menschen“, die den Abschnitt aus dem Evangelium charakterisiere. Ein Mann, der nichts zähle, jedoch das Heil möchte: „er will geheilt werden“. So schreie er lauter gegen die Mauer der Gleichgültigkeit, die ihn umgebe, bis er seine Wette gewinne und es ihm gelinge, an die Tür des Herzens Jesu zu klopfen. Dem blinden Mann widersetze sich der Kreis der Jünger, die beanspruchten, ihn zum Schweigen zu bringen, um Störungen zu meiden. Auf diese Weise aber entfernten sie den Herrn von einem Randgebiet:

„Dieses Randgebiet konnte nicht zum Herrn vordringen, da dieser Kreis – aber mit viel gutem Willen, ja? – die Tür zumachte. Und das geschieht häufig unter uns Gläubigen: wenn wir den Herrn gefunden haben, bildet sich, ohne dass wir es merken, dieses ekklesiastische Mikroklima. Das betrifft nicht nur die Priester, die Bischöfe, sondern auch die Gläubigen: ‚Aber wir sind doch jene, die mit dem Herrn sind’. Und weil wir so sehr auf den Herrn blicken, achten wir nicht auf die Bedürfnisse des Herrn: wir achten nicht auf den Herrn, der Hunger hat, den es dürstet, der im Gefängnis ist, der im Krankenhaus liegt. Auf jenen Herrn in der Ausgrenzung. Und dieses Klima ist so schlecht“.

Franziskus beschrieb dann eine Gruppe von Menschen, die sich „auserwählt“ fühle: „Jetzt sind wir die Auserwählten, wir sind mit dem Herrn!“, sage diese von sich. Daher wolle sie dann „diese kleine Welt“ bewahren, indem sie jeden entferne, der den Herrn „störe“, sogar die Kinder“: „sie hatten vergessen, sie hatten – Anmerkung – ihre erste Liebe verlassen“.

„Wenn in der Kirche“, so der Papst, „die Gläubigen, die Priester zu so einer Gruppe werden... nicht kirchlich im Sinn von ‚ekklesial’, sondern ‚ekklesiastisch’, zu einer Gruppe mit dem Privileg der Nähe zum Herrn, dann haben sie die Versuchung, die erste Liebe zu vergessen, jene so schöne Liebe, die wir alle gehabt haben, als der Herr uns berufen hat, als er uns gerettet und zu uns gesagt hat: ‚Ich habe dich so gern’. Das ist eine Versuchung der Jünger: die erste Liebe vergessen, das heißt auch die Randgebiete vergessen, wo ich vorher war, auch wenn ich mich dessen schämen muss“.

Dann gebe es eine dritte Gruppe: das einfache Volk, das Gott aufgrund der Heilung des Blinden lobe. „Wie oft finden wird doch einfache Leute“, so Franziskus, „viele alte Frauen, die auch unter Opfern gehen, um in einem Heiligtum der Gottesmutter zu beten“. Sie forderten keine Privilegien ein, sondern bäten nur um Gnade. Es sei dieses treue Volk, das dem Herrn zu folgen wisse, ohne Privilegien zu fordern, das Volk, das fähig sei, „Zeit mit dem Herrn zu verlieren“, und das vor allen Dingen nicht die „ausgegrenzte Kirche“ der Kinder, der Kranken, der Häftlinge vergesse:

„Bitten wir den Herrn um die Gnade, dass wir alle, die wir die Gnade haben, berufen worden zu sein, uns nie, nie von dieser Kirche entfernen. Nie wollen wir in dieses Mikroklima der ‚ekklesiastischen’, privilegierten Jünger eintreten, die sich von der Kirche Gottes entfernen, die leidet, die um Heil bittet, die um Glauben bittet, die um das Wort Gottes bittet. Beten wir um die Gnade, treues Volk Gottes zu sein, ohne den Herrn um irgendwelche Privilegien zu bitten, die uns vom Volk Gottes entfernen“.


Dem Autor auf Twitter folgen!


© 2014 www.kath.net