Missbrauchsopfer nehmen auch geistlich Schaden

12. Dezember 2014 in Deutschland


Wissenschaftliche Auswertung: Das Vertrauen in den Glauben wird erschüttert - Prof. Jörg Fegert: Es gebe keine grundsätzlichen Unterschiede in den Missbrauchsfällen zwischen kirchlichen und nicht-kirchlichen Institutionen.


Berlin/Neu Isenburg (kath.net/idea) Opfer sexuellen Missbrauchs in kirchlichen Einrichtungen tragen nicht nur seelische und gesundheitliche Schäden davon, sondern auch geistliche. Davon berichtete der Fachverantwortliche für die Telefon-Hotline der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Andreas Zimmer (Trier), auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in Berlin. Viele Anrufer hätten ursprünglich „einen sehr vitalen Zugang zur Religion“ gehabt. Der erfahrene Missbrauch habe dieses Vertrauen erschüttert. Was bleibe, sei eine unerfüllte Sehnsucht nach Religiosität und Sinn. Das empfänden viele Opfer als sehr belastend, so Zimmer.

Täter nutzen Einzelsituationen

Bei der Tagung legten Wissenschaftler Auswertungen von zwei großen Missbrauchs-Hotlines vor – dem Telefondienst des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung und der im Jahr 2012 eingestellten Hotline der Bischofskonferenz. Wie die „Ärzte Zeitung“ (Neu Isenburg) berichtet, wurden rund 7.000 Datensätze aus den Jahren 2010 und 2011 ausgewertet. Grundsätzliche Unterschiede in den Missbrauchsfällen zwischen kirchlichen und nicht-kirchlichen Institutionen gebe es nicht, so Prof. Jörg Fegert, Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Ulm. Typischerweise bauten die Täter schleichend ein Vertrauensverhältnis zu den Opfern auf, das sie dann ausnutzten. Sie suchten gezielt Einzelsituationen für ihre Übergriffe, in der Kirche etwa die Beichte, in anderen Einrichtungen zum Beispiel Nachhilfestunden oder Gesangsunterricht. Die kirchlichen Missbrauchsfälle sollen in einem interdisziplinären Forschungsprojekt weiter aufgearbeitet werden. Dabei soll etwa die Frage untersucht werden, ob es besondere Folgen bei Missbrauch in konfessionellen Einrichtungen gebe und ob Unterschiede zwischen Übergriffen von Geistlichen und nicht-ordinierten Angestellten zu erkennen seien.

Sexueller Missbrauch auch bei Protestanten

Zum Teil erst nach Jahrzehnten ans Licht gekommene Missbrauchsfälle gab es nicht nur in reformpädagogischen Einrichtungen wie der Odenwaldschule (Heppenheim) oder dem katholischen Canisius-Kolleg (Berlin). Die schwersten Fälle sexuellen Missbrauchs in der evangelischen Kirche ereigneten sich in den siebziger bis neunziger Jahren in Ahrensburg bei Hamburg. Ein früherer Pfarrer verging sich an Minderjährigen, auch an seinen Stiefsöhnen. Ein Kollege soll die Taten gedeckt und selbst intime Beziehungen zu Jugendlichen unterhalten haben. Die Vorfälle kamen erst 2010 ans Licht.

Zur Vorbeugung und Abwehr nutzt die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland (Nordkirche) unter anderem die Fachstelle „Wendepunkt“ (Elmshorn) als „Unabhängige Ansprechstelle bei Fragen sexualisierter Gewalt und Grenzverletzungen“. Sie steht allen Personen zur Verfügung, die in einer Einrichtung der Nordkirche sexuelle Übergriffe erlitten oder etwas darüber erfahren haben.


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