Gottesvergessenheit und Sexualität

18. Dezember 2014 in Kommentar


Unzeitgemäße Gedanken zu einem biblischen Zusammenhang veröffentlichte der Passauer Bischofs Stefan Oster SDB auf der Bistumsseite.


Passau (kath.net/Bistum Passau) 1. Eine der wiederkehrenden Kernfragen: Welcher Sex ist recht vor Gott?

Die Debatten in und außerhalb der Kirche zum Thema Sexualität und allem, was damit zusammen hängt, reißen nicht ab. Sie scheinen in medialen Wellenbewegungen immer neu auf die Kirche zuzurollen – in wechselnden Themen: Mal sind es die wiederverheirateten Geschiedenen, mal der Zölibat, mal der Umgang der Kirche mit Menschen, die homosexuelle Neigungen haben – um nur die am meisten diskutierten Themen aufzugreifen. Und ist es nicht paradox? Da nimmt sich der Papst mit der Bischofssynode des Themas der Familie an und das Wesentliche, was Monate vor, während und nach der Synode vordringlich zum Thema wird, sind zwei Menschengruppen, die gerade nicht in Verhältnissen leben, die den Normalfall von Familie bilden: Wiederverheiratete Geschiedene und Homosexuelle. In beiden Fällen geht es aber im Kern der Debatte letztlich um die Praxis gelebter Sexualität, die nicht dem entspricht, was die Kirche in diesem Bereich seit jeher für Weisung und Willen Gottes hält.

Und man muss es ehrlich sagen, auch im Blick auf viele andere Themen, die immer neu diskutiert werden: Ein Kernproblem, eine Kernfrage, um die es sich dann ausgesprochen oder unausgesprochen immer wieder dreht, hängt tatsächlich genau damit zusammen: Was sagen der Glaube, die Schrift, die Tradition, die Kirche über menschliche Sexualität? Und vor allem, was sagen sie über recht vollzogene sexuelle Praxis, die dann dem entspricht und gerecht wird, was Christen für den Willen Gottes und seine Offenbarung halten? Die Tatsache, dass die Kirche hier in ihren Antworten immer ziemlich klar war, ist deshalb beständiger Stein des Anstoßes, beständiger Stachel im Fleisch. Die öffentlichen Einwände dagegen gehen konsequent immer in die Richtung nach einer Forderung von veränderter Lehre über genau diese Frage: Welcher Sex ist recht? Die Argumente: „Die Zeiten haben sich geändert, die Menschen haben sich geändert, die Gesellschaft hat sich geändert, die Beziehungsformen haben sich geändert, die Einsichten über die Sexualität des Menschen haben sich geändert, also muss sich endlich auch die Lehre der Kirche ändern.“

Freilich, die Tatsache, dass das Thema und seine Klarheit bereits in der Hl. Schrift schon so präsent ist, weist eher das Gegenteil nach, nämlich dass es im Christentum bereits von Anfang an eine heftig angefragte Lehre war und nicht erst heute. Auch in der Zeit der Entstehung des christlichen Glaubens stehen dessen Lehren über menschliche Sexualität quer zu vielem von dem, was in der damaligen Gesellschaft, vor allem in einer griechisch-römisch geprägten Kultur, aber auch in einem jüdischen Kontext (hier etwa die Möglichkeit zur Mehrehe) gängig oder möglich war.

2. Ist die Kirche sexfixiert?

Der Kirche wird heute häufig vorgeworfen, sie sei manchmal allzu fixiert auf das Sexthema. Dabei scheint es mir auch hier eher umgekehrt. Wann etwa hat der durchschnittliche Kirchgänger zuletzt eine Predigt gehört, in der der Pfarrer so mutig war, die Sexualmoral der Kirche tatsächlich und wahrhaftig und ohne Abstriche zu erläutern oder sich dazu zu bekennen? Es passiert vermutlich eher in seltenen Ausnahmen. Ist es also nicht eher anders herum? Ist nicht die Gesellschaft eher so fixiert auf sexuelle Liberalisierung, dass ihr gerade die Kirche mit ihrer vermeintlich sturen Beharrung so sehr ein Dorn im Auge ist, dass sie das immer und immer wieder, vor allem medial zum Thema machen muss? Und das, obwohl sich der größere Teil derjenigen, die diese Themen medial so sehr ventilieren, für die wirklichen Kernthemen des kirchlichen Glaubens in der Regel kaum mehr interessieren: Erlösung, Sündenvergebung, Versöhnung mit Gott, Kreuz, Auferstehung....?

Der mediale, der öffentliche und gesellschaftliche Druck auf die Kirche wächst also oder er kommt eben wellenartig wieder. Gleichzeitig sinken bei uns die Mitglieder- und Kirchenbesucherzahlen; gleichzeitig auch geht man durch verschiedene Krisen der Glaubwürdigkeit (vgl. Missbrauch, Limburg, Kölner Krankenhausaffäre etc.). Und so neigen wir als Kirchenverantwortliche vielleicht allzu leicht zu der Ansicht, wir könnten endlich einmal „punkten“, wenn sich am innerkirchlich im Grunde wenig geliebten Sexthema endlich mal ein paar, wenigstens kleine „Fortschritte“ zeigen könnten.

3. Was sagen Schrift, Tradition und der Glaube?

Aber wie befragen wir die Möglichkeit von vermeintlichen „Fortschritten“ auf diesem Gebiet? Wie befragen wir, welche Formen gelebter Sexualität gut und recht sind in Gottes Augen? Wir blicken auf das Evangelium und erkennen: Es gibt im Grunde keine einzige Form vollzogener Sexualität außerhalb der Ehe, die von der Hl. Schrift nicht entweder Unzucht oder Ehebruch genannt würde. Wir lesen aber auch, dass das Thema in der Schrift immer wieder prominent behandelt wird. Und wir lesen vor allem, dass da ein geheimnisvoller Zusammenhang hergestellt wird zwischen dem, wie Gott den Menschen sieht und will einerseits und sittlicher und sexueller Reinheit andererseits (vgl. Mt 5,28, Eph 5,3f, 1 Kor 6, 18-20, Röm 1,21ff, 1 Thess 4,3f, Hebr 12, 14ff). In der Bergpredigt preist Jesus die Menschen selig, die ein reines Herz haben, sie würden Gott schauen (Mt 5,8), um nur wenige Zeilen später zu sagen, dass schon der lüsterne Blick auf eine Frau eben dieses Menschenherz in seiner Reinheit eintrübe und in eine quasi ehebrecherische Verfassung bringe (Mt 5,28)!

Gott will den Menschen seinem Sohn ähnlich machen. Er will ihm die Gnade und Kraft schenken, ein heiliges Leben zu leben. Dabei ist Heiligkeit freilich nicht misszuverstehen als eine Art religiöser Leistungssport, gepaart mit außergewöhnlichen Anstrengungen in der Übung der Tugenden. Heiligkeit ist zunächst das Erfülltsein des Menschen mit Gottes Gegenwart, das Geschenk überfließender Gnade, die aus ihm, aus Gott selbst kommt. Erst sekundär folgt aus dieser Erfahrung des Beschenktseins von Gott und des Lebens aus dieser Gegenwart die Fähigkeit, in der Freiheit des Christenmenschen gut und selbstlos, also auch tugendhaft zu leben.

4. Das Kernproblem: Gottesvergessenheit

Aber meines Erachtens rühren wir genau hier am entscheidenden Problem: Es ist das Ernstnehmen der Gegenwart Gottes. Und zwar zuerst in seiner Heiligkeit, Majestät, abgründigen Unterschiedenheit von jedem Geschöpf. Er ist der Schöpfer des Alls, er ist der Herr aller Welten. Und er gibt uns die Erlaubnis, ihm nahe zu kommen. Israel hat gewusst, dass solches Näherkommen gefährlich ist. Der Israelit des Alten Bundes wusste, dass er grundsätzlich vor Gottes Angesicht vergehen musste (Ex 33,20); und ganz besonders dann, wenn er sich Gott in einer unangemessenen Weise näherte. Die zahlreichen Reinigungsvorschriften des Volkes für den Vollzug des Kultes hatten eben auch diesen Ursprung, nämlich das Bewusstsein, dass man dem Heiligen Israels nur nahen kann, wenn man selbst rein, heil, ganz ist, eben reingewaschen (z.B. Ex 30,20-21). Das Anliegen Jesu liegt auch ganz auf dieser Linie, aber er weiß, dass die Fülle an Vorschriften, dass „das Gesetz“ dazu tendiert, veräußerlicht verstanden zu werden: „Ich wasche mich (äußerlich), dann bin ich schon rein.“ Doch bereits die Propheten des Alten Bundes kündigen einen neuen Bund an, einen der ein „neues Herz“ (Ez 36,26) schenken will, einen Bund, in dem der Mensch seinen Gott nicht nur durch veräußerlichtes Ritual und Gesetz kennt, sondern persönlich, von Herz zu Herz. Die Taufe des Neuen Bundes rettet uns, sagt der Autor des ersten Petrusbriefes: Und „sie dient nicht dazu, den Körper von Schmutz zu reinigen, sondern sie ist eine Bitte an Gott um ein reines Gewissen aufgrund der Auferstehung Jesu Christi“ (1 Petr 3,21). Freilich: Es bleibt auch im Neuen Bund derselbe, majestätische Gott, der ganz Andere. Aber Jesus macht in seiner Person deutlich, dass eben dieser andere, der furchteinflößende, der Herr des Alls zugleich der Allliebende ist, derjenige, der sich abgründig niederbeugt, konkret zu jedem von uns, der sich klein macht, um den Menschen wieder aufzurichten zu sich selbst und zurück in seine Beziehung zum Vater. In jeder Hl. Messe feiern wir Wandlung. Christus wandelt sich der Welt ein – in den Gestalten von Brot und Wein. Aber er tut es, um uns zu wandeln und zu neuen Menschen zu machen. Lassen wir es zu, halten wir das überhaupt für möglich?

Und genau hier liegt meines Erachtens unser Problem: Der Glaube daran, dass Gott in Christus wirklich da ist, dass er uns real und schon in diesem Leben, berühren, heilen, verwandeln kann in ein neues, besseres, gottbezogenes und gottgefälliges Leben, dieser Glaube scheint in unseren Breiten in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr zu verdunsten. Wie viele glauben wirklich noch, dass Christus das Leben eines Einzelnen tatsächlich im Hier und Jetzt spürbar erneuern kann? Wie viele glauben wirklich noch, dass sie durch Christus „neu geboren“ (Joh 3,3) sind, tatsächlich „ neue Schöpfung“ (2 Kor 5,17) sind? Und zwar so, dass sie es an realen und konkreten Lebensvollzügen festmachen können? Die Schrift ist aber voll davon, dass die Brüder und Schwestern jetzt wo sie den Glauben angenommen haben, ihrem alten Leben entronnen sind, ihrer Gefangenschaft in solchen Bedürfnissen, Trieben und Egoismen, die auf alles mögliche, aber nicht auf Gott hin orientiert waren (vgl. 1 Petr 1,14; 2 Petr 1,9, Hebr 10,32; 1 Thess 1,9; Kol 3,7; Eph 4,17-20 u.a.). Wer hat in volkskirchlichen Breiten, in denen der Glaube von Jahr zu Jahr, von Generation zu Generation schwindet, denn noch die reale Erfahrung von Bekehrung und wer hätte konsequent auch noch zusätzlich das Bestreben, kraft einer geduldigen, beständigen, alltäglichen Bekehrung mit der Hilfe Gottes ein neuer Mensch, ein echter Christ zu werden? Einer, der Gott, der Christus kennt, der ihm wirklich nachfolgen, der sein Kreuz tragen will? Einer, der von ihm die Fülle und die Freude erwartet und diese nicht leicht verwechselt mit den Freuden, die nur diese Welt gibt? All das ist Kern einer christlichen Anthropologie und des christlichen Menschenbildes, von dem wir – ohne diesen Kern wahrzunehmen - all zu schnell und damit oft auch allzu weich gespült in unserem gesellschaftlichen Diskurs reden.

Wer hätte denn noch wirklich Ehrfurcht vor der Gegenwart Gottes in einem Gotteshaus? Wer fällt hier wirklich angesichts seiner Gegenwart noch voller ernsthafter Demut auf die Knie, weil er weiß, wer Gott ist und wer er selbst im Verhältnis zu diesem Gott ist? Und wer blendet umgekehrt nicht gerne die Tatsache aus, dass der vermeintlich so liebe Jesus in etwa einem Drittel seiner Worte im Neuen Testament Gerichtsworte spricht oder Gerichtsgleichnisse erzählt? Es sind Worte, in denen er den Menschen zur Entscheidung auffordert für ihn und zwar ganz und entschieden. Wer müht sich denn noch „mit Furcht und Zittern“ (Phil 2,12) um sein Heil, wie es Paulus nahe legt, weil nach der Schrift und aus der Sicht Jesu völlig ohne Zweifel die Möglichkeit besteht, auch verloren zu gehen? Viel mehr aber noch ist Paulus von der Hoffnung getragen, dass er, der Allmächtige, uns aus Liebe zu neuen Menschen machen will und schon damit begonnen hat.

In dem Augenblick aber, wo alle diese Erfahrungen eben keine mehr sind, nicht mehr nachvollziehbar sind, nicht mehr im Kirchenvolk erlebt, erzählt, tradiert werden, in dem Augenblick kann es im Grunde auch gar nicht mehr sein, dass wir einen Anspruch von Gott selbst an uns wahrnehmen. Einen Anspruch von dem, der uns heiligen will. Der Anspruch wird verdünnt und reduziert auf ein nur mehr gedachtes Gesetz, und von hier ist der nächste Schritt nur ein ganz kleiner, der dann sagt: „Das gedachte Gesetz hat sich die Kirche aus-gedacht, um uns zu knechten. Und jetzt wo die Zeiten sich ändern, muss sie das Gesetz auch ändern!“ Der Anspruch, in der Kirche durch Gottes Gegenwart geheiligt zu werden, ist fast gänzlich in Vergessenheit geraten. Gutes Leben ist jetzt, was alle gut finden; die Gesellschaft als Messlatte für einen, hoffentlich nicht allzu zu anspruchsvollen Humanismus. Und nur die Kirche ist dann schlecht und von gestern, weil sie uns unser gutes, heutiges Leben nicht gönnt!

Wenn diese Diagnose zutrifft, dann können auch wir Amtsträger uns nicht aus der Verantwortung nehmen. Es ist nämlich ein Grundgesetz des geistlichen Lebens, dass das spirituelle Niveau einer christlichen Gemeinschaft oder Gemeinde - nicht nur aber auch - vom geistlichen Leiter abhängt. Ich habe den Verdacht (und schließe mich ein): Womöglich haben wir selbst die leidenschaftliche, gläubige Proklamation und Deutung der Gegenwart Gottes nicht allzu intensiv gepflegt - und vielleicht auch gar nicht mehr recht geglaubt? Und womöglich haben wir auch die Liturgie nicht allzu oft derart mit den Gläubigen gefeiert, dass unser Beten darin sehr real und voll liebender Ehrfurcht und Freude auf diese Gegenwart bezogen wäre.

5. Der Wille Gottes für jeden: Verwandlung und Heiligung des ganzen Menschen, einschließlich seiner Sexualität durch göttliche Liebe

Die Heiligung, in der Gott uns sich ähnlich machen will, ist vor allem eine Heiligung in und durch Liebe. Und Gott als unsere Antwort auf seine Liebe mit ganzem Herzen und ganzer Seele und allen Gedanken zu lieben und den Nächsten wie uns selbst ist die „Erfüllung des ganzen Gesetzes“ (vgl. Mt 22,40), es ist die Erfüllung dessen, wozu der Mensch in Gott geschaffen ist. Aber die Liebe, um die es hier geht, ist in der Tiefe absichtslos, sie ist umsonst. Und man kann Gott auch nur lieben, wenn man ihn kennen gelernt hat, so wie er sich uns eben in Christus zu erkennen gibt; wenn man in einem Leben der Suche nach Gott, im Gebet, im Meditieren der Schrift wirklich immer wieder auf ihn selbst gestoßen ist. Eine Liebe, die aus Gott kommt, meint dann den anderen Menschen wirklich um seinet- und um Gottes Willen. Sie manipuliert nicht hintergründig und will den Geliebten nicht wie einen Besitz „haben“. Zu dieser Liebe will uns Gott nach dem Zeugnis der Schrift befähigen und die Schrift erklärt auch, dass da der ganze Mensch dazu gehört, mit Leib und Seele und Geist.

Deshalb ist die menschliche Sexualität in diese Bewegung der Heilung und Heiligung mit hineingenommen und bleibt gerade nicht davon unberührt. Und von diesem Anspruch her gibt es von Gott bejahte und konkret vollzogene sexuelle Aktivität in ihrer ganzheitlichen Zielrichtung auch nur ganz oder gar nicht. Das heißt nur und ausschließlich in einer Ehe zwischen einem Mann und einer Frau, mit der Offenheit auf Lebensweitergabe, mit Verbindlichkeit und Treue und der Sorge um das gegenseitige Wohl der Ehepartner – bis zum Lebensende wenigstens eines der Partner. Katholische Christen glauben ja, dass Gott in und durch Christus diese Kraft zur Treue schenken kann und will, ja dass er darin selbst als der Treue gegenwärtig ist und bleibt. Das ist, knapp gesagt, der Inhalt dessen, was sie Sakrament nennen. Sie glauben auch, dass Christus darin die Kraft und Schönheit der Sexualität auch reifen lassen und ebenfalls tiefer und heiler machen will. Immer mehr weg von der Möglichkeit bloßer Triebabfuhr oder Triebbefriedigung, hin zu einer ganzheitlichen Erfahrung, in der der eine ganze Mensch in Leib und Seele auf den einen Partner ebenfalls als ganzen Menschen liebend ausgerichtet ist und bleibt.

Das Bemerkenswerte ist also: Schon für den konkreten Weg der Ehe sieht Gott einen Weg der Verwandlung vor – und zwar auch der Sexualität der Partner und ihrer Ausrichtung und Integration. Ehrliche Liebe, die sich von Gott begnadet weiß, verwandelt, heilt und integriert auch das sexuelle Begehren, die Sehnsucht, die Bedürfnisse. Wie gesagt, alles das setzt voraus, dass ich überhaupt an die Gegenwart Christi in meinem Leben glaube und vertraue, dass er mein Leben schon jetzt verwandeln kann und will und wird. Unser christliches Nachdenken über Sexualität hat nur unter dieser Voraussetzung überhaupt Sinn! Anders werden Christen in dem, was sie über Sexualität sagen, gar nicht (mehr) verstanden werden können. Schon gar nicht in stark säkularisierten Zeiten.

Und Christen, die diesen Hintergrund sehen, müssten ihrerseits auch ein mitgehendes Verständnis dafür aufbringen können, dass diese Debatten in gottvergessenen Zeiten immer wieder aufbrechen und womöglich auch noch intensiver werden. Denn dort, wo es Gott nicht mehr gibt, dort ist (nach einem herausfordernden Wort Dostojewskis) im Grunde alles erlaubt, aber in sittlichen Fragen insbesondere das, was mehrheitlich Zustimmung findet. Zustimmende Mehrheit ist freilich noch kein hinreichendes Kriterium für Wahrheit. Das Problem ist nur: Wo Gott „fehlt“ , dort gibt es auch gar keinen letzten Orientierungspunkt mehr als entscheidendes Wahrheitskriterium. Und in so einem Fall scheint dann Mehrheit eben doch meist der plausibelste Bezugspunkt.

Das erste in der christlichen Verkündigung – auch über diese Themen – wäre also aus meiner Sicht nicht zuerst die Bekanntgabe von moralischen Vorschriften, sondern das Hineinhelfen in die Berührung mit der Gegenwart eines Gottes, der uns liebt und dem es gerade deshalb nicht egal ist, wie wir leben und zwar auch als sexuelle Wesen.

6. Was ist mit denen, die nicht heiraten wollen oder können?

Analoges zu dem, was eben über christliche Ehe gesagt wurde, gilt nun aber auch für diejenigen, die an Christus glauben, die seine Realpräsenz in unserer Welt bejahen, und beispielsweise keinen Partner finden oder etwa einen gleichgeschlechtlichen Partner ersehnen, weil sie Menschen mit homosexuellen Neigungen sind. Die Kirche hat stets daran festgehalten, dass der Glaube an die heiligende Gegenwart Christi, dass der Weg in beständiger Verbundenheit mit ihm selbst hilft, aus dieser Kraft zu leben und sein Leben so zu gestalten, dass es dem Willen Gottes gemäß ist. Christus verwandelt und heilt unsere Sexualität hinein in ein Leben vor ihm und mit ihm selbst. In ein Leben, das von ihm auch die Kraft bezieht, sich selbst und seine sexuelle Kraft verwandeln zu lassen in eine Liebe, die der Seinen ähnlich ist – die im rechten Sinn verstanden immer absichtsloser und lauterer wird. Ehrlicher, tiefer Glaube kann also beispielsweise dem Single helfen, ein froher Single zu bleiben und er kann dem Menschen mit homosexueller Neigung helfen, auch ohne die volle sexuelle Erfahrung erfüllt zu leben bzw. sich von Gott in ein Leben hinein führen zu lassen, das seinem Willen entspricht. Und er kann auch einem von seinem Partner getrennt lebenden Verheirateten die Kraft geben, diese Situation mit ihm zu tragen. Und all das ist nicht zuerst eine moralische Forderung, das ist nach der Überzeugung von Schrift und Tradition und von zahllosen geistlichen Menschen zuerst ein Geschenk. Wir sprechen von Gnade, von der zuvorkommenden geschenkten Gnade, die dem Menschen Kraft und Vertrauen schenkt, dass er seinen Weg mit seinem Gott gehen kann, auch und gerade dann, wenn es ein Kreuzweg ist.

Freilich ist es auch ein Weg, auf dem keiner von Anfang an fertig ist. Jeder ernsthaft geistlich Suchende, zumal die Erfahrenen, wissen, dass der Weg mit Gott und auf ihn hin ein Ringen bleibt, ein Reifen, ein Suchen, auch ein Kampf. Und auch auf diesem Weg wird und kann es Versagen und Scheitern geben. Gott will ja auf unser Ringen und tiefstes Sehnen nach ihm und auf unser Herz viel eher schauen als auf die Schuld. Und er vergibt immer neu jedes Versagen, das aufrichtig vor ihn gebracht wird.

7. Die reale Anwesenheit Gottes reduziert auf ein abstraktes Kirchengesetz

Ich bin daher der Ansicht, dass der Glaube an die reale Gegenwart des Herrn und ihre real verändernde Kraft der alles entscheidende Aspekt ist. Steht dieser Glaube fest in vielen Herzen der Menschen, wird das Verständnis für die Lehre der Kirche zur menschlichen Sexualität verständlich sein und ebenso fest stehen. Verdunstet er aber, dann verdunstet mit ihm auch das Verständnis für das, was Bekehrung, Umkehr, Gnade, Heiligung des Lebens bedeuten. Der Verlust des Beichtsakraments ist dann eine weitere notwendige Folge. Und zugleich damit verschwindet ebenfalls notwendig das Verständnis für die von Gott geschenkte Fähigkeit und Herausforderung, seinem Gebot gemäß Sexualität zu leben und von ihm verwandeln zu lassen. Die Folge ist: Ein von Gottes Präsenz losgelöstes, bloßes „Gesetz der Kirche“ wird dann automatisch wie ein Stachel im Fleisch meiner sexuellen Bedürfnisse betrachtet, das zuerst knechten und nicht befreien will. Der Ruf nach Veränderung wird dann von selbst immer lauter: „Nicht mehr Gott will und kann mich verwandeln, sondern ich will ein ärgerliches Gesetz so gewandelt wissen, dass es mir und meiner Lebensweise nun passt.“ Der Glaube an die Realpräsenz, an die konkrete Vergebung der Sünden und das ernsthafte Ringen um sittliche Qualität des menschlichen Lebens auch in sexueller Hinsicht bilden damit einen unauflöslichen Zusammenhang.

Umgekehrt kann man sagen: Eine beständig vorgetragene Anfrage an die Lehre des kirchlichen Glaubens zur Sexualität ist damit bewusst oder unbewusst zugleich eine Anfrage an die Überzeugung von der verwandelnden Gegenwart Gottes in unserem Leben. Denn wenn er, Gott selbst, und seine Präsenz aus der persönlichen Wahrnehmung und dem kollektiven Gedächtnis der Menschen oder einer Gesellschaft endlich verschwunden ist, dann kann der Mensch gerade in diesem Bereich endlich und erst recht tun, was er will und bleiben, wie er ist.

Das sind meines Erachtens einige geistliche Hintergründe und Zusammenhänge dafür, dass die Wellen des gesellschaftlichen Diskurses über die Sexuallehre der Kirche bei abnehmendem Glauben mit zunehmender Frequenz auf uns zurollen werden. Der kirchliche Stachel im buchstäblichen Fleisch liberalisierter Sexualität will endlich beseitigt werden. Und als Christen werden wir solchen Wellen aus meiner Sicht mit Sicherheit nicht dadurch fruchtbar begegnen können, dass wir der Vielzahl der Bedürfnisse in einer glaubensloser werdenden Welt entgegenkommen und ein paar Lockerungen zulassen. Denn es ist vorhersehbar: Man wird dann mehr nicht ruhen, bis endlich alles gleich-gültig ist. Die hier angesprochenen Themen samt ihren medial vorgetragenen Forderungen wären nur ein Anfang, der dem Zeugnis der Schrift und der Überlieferung zwar schon klar widerspricht. Aber wenn die Tür erst einmal im Namen vermeintlicher Barmherzigkeit geöffnet ist, dann wird wohl kaum ein Thema und am Ende womöglich auch nicht einmal manche sexuelle Perversion im selben Namen ausgespart bleiben. Die Geschichte der Internet-Pornographie und ihrer Ausbreitung dürfte hier ruhig als Lehrstück dienen, aber damit verbunden auch die gesellschaftlichpolitische Geschichte sexueller Liberalisierung in vielen Ländern der Welt. Freilich, nicht jede gesellschaftliche Liberalisierung ist schon in sich schlecht, vor allem dann nicht, wenn sie Heucheleien überwindet. Aber umgekehrt gilt noch mehr, dass längst nicht jede Liberalisierung automatisch sinnvoll und gut wäre, nur weil sie liberal ist: „ Ihr seid zur Freiheit berufen, Brüder. Nur nehmt die Freiheit nicht zum Vorwand für das Fleisch, sondern dient einander in Liebe!“, sagt Paulus (Gal 5,13).

8. Die nötige Umkehr scheint heute allzu weltfremd.

Der stimmigere und notwendigere Weg aus meiner Sicht heißt biblisch Bekehrung, also die erneute Hinwendung zum Gott des Lebens, um ihn tiefer im Glauben zu finden und überzeugender zu bekennen, dass Gott in Christus real gegenwärtig ist und bleibt; dass er uns wahrhaftig liebt und unser eigenes konkretes, oft erbärmliches Leben tatsächlich verwandeln will und kann.

Und um gleich auf die Frage zu antworten, ob das alles nicht ein wenig weltfremd sei? Ja, natürlich, weil es von der Erfahrung ausgeht, dass Gott selbst dieser Welt und womöglich auch vielen Menschen in seiner Kirche ziemlich fremd geworden ist. Nicht von sich, von Gott selbst her, denn er will ja nach dem Zeugnis der Schrift uns nahe sein. Aber von uns Menschen her bedeutet Säkularisierung auch, dass der innere Abstand der Menschen von Gott heute offenbar wieder größer geworden ist. Paulus sieht das genau, die Problemlagen bleiben nämlich von der menschlichen Konstitution her betrachtet, weitgehend konstant: Die Menschen, schreibt Paulus, haben Gott zwar irgendwie „erkannt, ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt. Sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert.“ (Röm 1,21f) Die Folge: „Darum lieferte Gott sie durch die Begierden ihres Herzens der Unreinheit aus, so dass sie ihren eigenen Leib durch ihr eigenes Tun entehrten.“ Der tatsächliche Hintergrund zur Debatte um die sexuelle Liberalisierung in der Kirche ist also aus meiner Sicht zuerst geistlicher Natur, weshalb dann auch die Antworten auf die angesprochenen Fragen ebenfalls zuerst theologisch-geistlich sein müssen und gerade nicht zuerst nur als pragmatisches Eingehen auf geänderte gesellschaftliche Verhältnisse. Nicht nur die je neue Kultur soll dem Evangelium immer wieder ein neues konkretes Gesicht für diese jeweilige Zeit geben, sondern auch die umgekehrte Bewegung ist nötig: das Evangelium (besser: Christus selbst!) will in die Kultur hinein inkarniert werden, damit die Kultur selbst verändert, verwandelt und erneuert wird.

Passauer Bischof Stefan Oster: ´Ich bin leidenschaftlicher Verfechter des Zölibats!´


Foto Bischof Oster (c) Bistum Passau
Passauer Bischof Stefan Oster im Interview: ´Ich möchte, dass junge Menschen das Geschenk der Begegnung mit Christus erfahren dürfen´.




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