Franziskus und das Faustrecht

21. Jänner 2015 in Kommentar


Wer dem Papst Lehrstunden in Rechtsstaatlichkeit erteilen will, sollte zunächst vor der eigenen Türe kehren. Gastkommentar von Michael Schäfer.


Stuttgart (kath.net) Auch die seriöse Presselandschaft ist seit den Ereignissen in Paris in einer Art Dauer-Erregungszustand. Wer mag es ihr verübeln: so oft haben die Zeitungsmacher gerade in Deutschland ja nicht die Möglichkeit, sich unter dem uneingeschränkten Beifall der Politik und großer Teile der Bevölkerung als Säule der Gesellschaft und des Rechtsstaates zu inszenieren. Alle sind sie zur Zeit „Charlie Hebdo“ und damit Gralshüter jener uneingeschränkten Meinungsfreiheit, die bei der Pariser Großdemonstration von der politischen Elite Europas zelebriert wurde.

Papst Franziskus scheint dieses Pathos ein wenig auf die Nerven gegangen zu sein und damit hat er sich nun den Zorn einiger deutscher Journalisten zugezogen. Die einschlägigen Invektiven von Herrn Diez, dem Hipster-Sozialisten des „Spiegel“, wird man nicht allzu ernst nehmen müssen; die Tatsache, dass nun mit Jürgen Kaube auch einer der Herausgeber der FAZ den Papst vor die Schranken seines Tribunals zitiert hat (Link), lässt jedoch aufhorchen.

Wie es sich für einen öffentlichen Würdenträger in der großen Tradition der französischen Revolution gehört, wird der Heilige Vater dabei zunächst einmal seines Amtstitels entkleidet: nicht Franziskus I. steht vor dem Gerichtshof der einzigen Zeitung für kluge Köpfe, sondern „Herr Bergoglio“. So war das bekanntlich schon mit König Ludwig XVI., der zum „Bürger Capet“ degradiert werden musste, bevor er seinen Kopf unter das große Rasiermesser der „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ legen durfte.

Was hat „Herr Bergoglio“ sich zu Schulden kommen lassen? Zunächst fehlt es ihm am nötigen Ernst in den großen Fragen unserer Zeit. Hat er es doch gewagt über die allerheiligste Presse- und Meinungsfreiheit „mit einem neckischen Augenzwinkern bei todernstem Anlass“ zu parlieren.

Wir erinnern uns: auf dem Flug nach Manila hatte Franziskus im Zusammenhang mit „Charlie Hebdo“ folgendes geäußert: „Wenn Dr. Gasbarri (der Reiseorganisator des Papstes), mein lieber Freund, meine Mama beleidigt, erwartet ihn ein Faustschlag“. Unter Anspielung auf das Pariser Satire-Magazin hatte er hinzugefügt: „Viele Menschen ziehen über Religion her, das kann passieren, hat aber Grenzen. Jede Religion hat eine Würde, und man kann sich darüber nicht lustig machen“.

Herr Kaube interpretiert diese Äußerungen nun bierernst als Votum des Papstes für das allgemeine Faustrecht in Fragen der Ehre im Allgemeinen und der Religion im Besonderen und belehrt den Heiligen Vater ausführlich über die Grundprinzipien des Rechtsstaates westlicher Prägung.

Keine Religion habe Würde, sondern immer nur das Individuum, doziert Kaube, und für die Durchsetzung aller Verletzungen dieser persönlichen Würde seien ausschließlich die Gerichte zuständig und nicht der Einzelne auf dem Wege der Selbstjustiz. In diesen rechtsstaatlichen Grundprinzipien stecke „mehr Christentum als in familiären Ehrbegriffen“. Darüber hinaus sei es an der Zeit, Herrn Bergoglio auch an „die Sache mit der andere Wange“ zu erinnern.

Lassen wir den törichten Hinweis auf die „andere Wange“ einmal beiseite (Jesus spricht von meinen Wangen und nicht von denen meiner Mutter – ein hübsches Verständnis der christlichen Lehre wäre das!). Was Herr Kaube nicht sieht oder sehen will, ist die schlichte Tatsache, dass es Franziskus nicht um Fragen der rechtsstaatlichen Ordnung geht, sondern um diejenigen Dinge, die dieser Ordnung im menschlichen Miteinander vorausgehen.

Ob es um die Beleidigung seiner Mutter oder das In-den-Dreck-Ziehen der Religion eines Anderen geht: ein anständiger Mensch tut so etwas nicht – ganz unabhängig von der Frage, ob der entsprechende Tatbestand innerhalb der Rechtsdogmatik eines säkularen Staates justiziabel sein kann oder nicht. Herr Kaube sei daran erinnert, dass auch unsere Verfassung diesen Zusammenhang durchaus kennt; verweist sie in Artikel 2 GG doch ausdrücklich darauf, dass die Persönlichkeitsrechte des Einzelnen ihre Grenze nicht nur an den (gesetzlich sanktionierten) Rechten des Anderen finden, sondern auch am „Sittengesetz“, also jenen Teilen der allgemeinen Moral, die über die kodifizierten Gesetze hinausgehen.

Mit dem „Nasenstüber“ will Papst Franziskus sicher nicht dem allgemeinen „Faustrecht“ das Wort reden. Vielmehr weist dieser auf die „vorstaatliche“ Ordnung hin: der Faustschlag ist die sozusagen „naturwüchsige“ Antwort auf bestimmte sittliche Verstöße. Es ist zweifellos ein zivilisatorischer Fortschritt, dass der Bürger des modernen Verfassungsstaates sein Recht auf derlei naturwüchsige Reaktionen unwiderruflich an das staatliche Gewaltmonopol abgetreten hat.

Im Zuge dieser Gewaltübertragung – das ist das „zivilisatorische“ und auch das „christliche“ daran – tilgt der Staat alle körperlichen Aspekte der Bestrafung. Das bedeutet aber keineswegs, dass er davon entbunden wäre, dem Einzelnen zu seinem Recht zu verhelfen, d.h. möglichst viele Verstöße gegen das natürliche Sittengesetz auch in der konkreten Rechtsordnung abzubilden und zu ahnden. Die Leichtigkeit mit der im heutigen Rechtsstaat die Beleidigung der Religion seiner Bürger gegenüber der Meinungsfreiheit den Kürzeren zieht, muss und wird nicht jeder als angemessen empfinden.

In diesem Zusammenhang verwundert auch die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der Herr Kaube den Begriff der „Würde“ einzig und alleine für Personen gelten lassen will. Haben Institutionen wirklich keine Würde? Gibt es nicht auch im säkularen Staat die „Würde unserer Verfassung“, die „Würde des Gerichtes“ und die „Würde des Hohen Hauses“, also des Parlamentes? Warum diesen Begriff also ausgerechnet der Religion vorenthalten? Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Herausgeber der FAZ hier in den alten Klischees verharrt, nach denen der moderne Rechtsstaat „gegen“ Religion und Kirche hätte durchgesetzt werden müssen und die öffentliche Bekämpfung derselben dem Rechtsstaat daher per se förderlich sei.

Der Logik unserer Verfassung und dem Gründungskonsens der bundesrepublikanischen Gesellschaft entspricht diese Sichtweise nicht, sondern vielmehr die Respektierung jenes dialektischen Zusammenhangs, den Ernst-Wolfgang Böckenförde auf die Formel gebracht hat: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann“. Zu diesen Voraussetzungen gehört historisch und faktisch die kulturelle und moralische Substanz der Religion im Allgemeinen und des christlichen Glaubens im Besonderen (nicht umsonst zählt das Grundgesetz die freie Religionsausübung zu den Grundrechten und nennt sie noch vor der Meinungs- und Pressefreiheit). Der Verhöhnung dieser Substanz und ihrer Würde wird der säkulare Staat nicht auf Dauer ungestraft tatenlos zusehen.

Herrn Kaube (und allen seinen Kollegen) sei empfohlen, der Versuchung zu widerstehen, den Rechtsstaat zu einer Art Ersatzreligion zu stilisieren – so verlockend der Gedanke sein mag, in dieser als Hohepriester der Meinungsfreiheit zu fungieren. Letztere ist ein wichtiges Grundrecht, aber eben nur eines unter vielen und ganz sicher kein grenzenloses. Vor allem aber kann der Rechtsstaat nicht mehr als die äußere Form der Gesellschaft sein – das Ethos, das ihn dauerhaft von innen her trägt, kann er im Gegensatz zur Religion nicht erzeugen.

Der Papst hat mit seinen „neckischen“ Bemerkungen nicht nur etwas Luft aus der arg pathetischen Debatte über die Meinungsfreiheit gelassen. Er hat indirekt auch die Presse an eine ihrer wesentlichen Aufgaben erinnert: an der Aufrechterhaltung des Gefühls für Anstand und Sitte mitzuwirken. Sie muss dies nicht mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger tun – es genügt vielleicht schon, wirklich neutral über das ganze Spektrum politischer und gesellschaftlicher Meinungen zu berichten. Angesichts einer unübersehbaren „Vermerkelung“ des öffentlichen Diskurses in Deutschland (allzu abweichende Meinungen sind nach Ansicht der Kanzlerin ja in der Regel „wenig hilfreich“) bietet sich hier ein breites Betätigungsfeld.

Dr. phil. Michael Schäfer war Mitarbeiter am Romano-Guardini-Lehrstuhl der LMU München und arbeitet heute in der Geschäftsführung einer in Stuttgart ansässigen, international tätigen Unternehmensberatung. Er führt den Blog summa-summarum.blogspot.de.



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