«Die Muslime müssen sich gegen Extremismus wehren!»

22. Jänner 2015 in Interview


Algerischer Autor Sansal zu den Folgen des Attentats in Paris. Von Claudia Zeisel (KNA)


Boumerdes (kath.net/KNA) Seit Jahren warnt der algerische Schriftsteller Boualem Sansal (65) vor einer Radikalisierung junger Muslime in Europa. Für seinen Roman «Das Dorf des Deutschen» (2009), für den er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, untersuchte er das Leben junger Migranten in den französischen Vorstädten. Auch in seinem neuesten Buch «Allahs Narren» (2013) befasst er sich mit dem Thema. Mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht Sansal über die Reaktionen auf das Pariser Attentat und die Rolle der Muslime im Kampf gegen den Extremismus.

KNA: Herr Sansal, wie haben die Menschen in Algerien auf das Attentat gegen «Charlie Hebdo» reagiert?

Sansal: Wenn Sie sich erinnern, hat es, als «Charlie Hebdo» vor einigen Jahren bereits Mohammed-Karikaturen druckte, massive Demonstrationen in der ganzen Arabischen Welt gegeben, weil sie die Karikaturen als blasphemisch werteten. Viele Muslime in Frankreich und ganz Europa beklagen eine wachsende Islamophobie und antiarabischen Rassismus, der sich auch gewaltsam äußere. Was am 7. Januar passiert ist, sehen viele als einen Racheakt. Vielleicht sind viele gegen ein solches Ausmaß der Gewalt - aber zumindest haben die Menschen hier nicht gegen das Attentat demonstriert wie etwa in Paris.

KNA: Sie werfen Muslimen im Westen und der Arabischen Welt eine «tödliche Passivität» im Umgang mit Extremismus vor.

Sansal: Auch nach den Attentaten von «Charlie Hebdo» schieben viele Muslime die Schuld auf andere. Sie behaupten, in Wirklichkeit steckten die Juden oder sonst wer dahinter. Dabei liegt es an ihnen, ihre Religion gegen die Islamisten zu verteidigen. Es gibt viele Imame, die in Wirklichkeit Dschihadisten sind und schauerliche Predigten halten. Die müssen fortgejagt werden! Die Muslime müssen zu diesen Imamen hingehen und sie auffordern, die Moscheen zu verlassen. Und wenn sie das nicht tun, müssen sie die Justiz einschalten. Die Muslime müssen sich gegen den Extremismus wehren. Es kann auch nicht sein, dass Imame in Frankreich oder den USA dazu aufrufen, dass Kantinen kein Schweinefleisch mehr anbieten oder dass Mädchen nicht in den Schwimmunterricht sollen. Da muss man sich dagegenstellen.

KNA: In Deutschland wird zurzeit über einen Ausbau der islamischen Wohlfahrtspflege diskutiert, also islamische Altenpflege, Kinderbetreuung und Jugendarbeit. Wie sehen Sie das?

Sansal: Es gibt Toleranz und falsche Toleranz. Ich habe oft den Eindruck, dass die Toleranz in Deutschland und Frankreich darin besteht, sich bestimmten Problemen nicht zu stellen - weil es zu kompliziert sein könnte und man keinen Streit will. Das ist eine falsche Toleranz. Die Toleranz muss von beiden Seiten kommen. Es geht nicht darum, dass nur die Deutschen die Muslime tolerieren. Das wäre eine paternalistische Perspektive, die nicht gut ist und nur Probleme bereitet. Beide Seiten müssen sagen: Ich toleriere dich und du tolerierst mich. Und wenn sie sich nicht einigen können, entscheiden weder Religion noch Gewalt, sondern die Justiz.

KNA: Nach den Attentaten von Paris wird in Deutschland auch über eine Ausweitung des Islamunterrichts diskutiert, um dem Extremismus zu begegnen. Halten Sie das für sinnvoll?

Sansal: Sicher kann Islamunterricht eingeführt werden, aber die Islamisten werden nicht akzeptieren, dass in Deutschland oder Frankreich Lehrinhalte vorgegeben werden. Es gibt ja Tausende Möglichkeiten, den Islam zu unterrichten. Man kann ihn demokratisch unterrichten, im Sinne einer Philosophie, aber es gibt eben auch die Propaganda-Schulen der Islamisten. Wichtig ist zu fragen: Wer unterrichtet den Islam? Ich plädiere eher für einen allgemeinen Religionsunterricht, der alle Religionen behandelt.

KNA: Für Ihre Bücher haben Sie intensiv das Leben in den französischen Vorstädten studiert. Wie werden sich die Attentate der jungen französischen Dschihadisten auf das Leben der Menschen dort auswirken?

Sansal: Es wird sich nichts ändern. Die Banlieues bleiben die Banlieues, die Dschihadisten werden sich auch nicht ändern, und auch Frankreich bleibt, wie es ist. Natürlich muss sich etwas ändern. Das geht aber nur mit Bildung, in den Schulen. Die Bildungspläne müssen geändert werden; Lehrer brauchen zusätzliche Schulungen, um den extremistischen Strömungen etwas entgegenzusetzen.

KNA: In den französischen Vorstädten spielte früher die Hip-Hop-Kultur eine große Rolle. Sie diente als Ventil gegen Frustration durch Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Hat nun der Islamismus diesen Platz eingenommen?

Sansal: In diesen Vierteln hat sich die Kultur oft stark gewandelt. Als ich jung war, sprachen die Algerier und Marokkaner in den Vierteln noch von Revolution, von Che Guevara, Kuba, der Emanzipation der Völker. Nach dem Fall der Berliner Mauer ist diese Kultur verschwunden, und es gab ein großes Vakuum. Danach versuchte die Regierung die Vorstädte mit Freizeitangeboten zu füllen. Es gab Basketballspiele, Fußball, Musik, Partys, Reisen.

Wenn man heute dorthin geht, hat man das Gefühl, im Iran zu sein. Überall wurden Moscheen gebaut; die jungen Menschen sind islamisch gekleidet. Und der Staat hat zugesehen - vielleicht auch, weil der Islam zunächst Probleme wie Drogenkonsum und Prostitution eingedämmt hat. Doch der Dschihadismus erfordert auch Geld, und nun betreiben auch die Islamisten Drogenhandel und Prostitution.

KNA: Also hat sich nicht wirklich etwas geändert.

Sansal: Das tut es auch nicht innerhalb einer oder zweier Generationen. Dafür braucht es viel Zeit. Die einzige Möglichkeit, etwas zu ändern, sind die Schulen. Es braucht gute Ideen. Die Schulen haben Einfluss auf die ganze Gesellschaft. Weil sie die Eltern mit einbeziehen - und das ist entscheidend.

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Foto Sansal © Wikipedia/ malltown Boy/Gemeinfrei


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