'Wir wissen nicht, was im Co-Piloten vor sich ging'

27. März 2015 in Interview


"Wir wissen nicht, ob er einen Gehirntumor oder eine Lebensmittelvergiftung mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen hatte…“ Gastkommentar von Prof. Ulrich Giesekus


Bad Liebenzell (kath.net) Experten zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie sagen "Wir wissen es nicht", wenn wir es nicht wissen. Leider ist Bescheidenheit dieser Art vor Fernsehkameras so uninteressant, dass Pseudo-Experten, Spekulationen und Halbwissen die Aufmerksamkeit der Zuschauer leichter fesseln können.

Fakt ist: Wir wissen so gut wie nichts sicher über die Psyche von Amokläufern. Das hat Gründe: erstens gibt es glücklicherweise so wenige, dass man daraus keine allgemeingültigen Schlüsse ziehen kann. Zweitens haben weltweit nur wenige den Amoklauf überlebt, so dass man sie untersuchen konnte.

Die Aussagen, die man nach einem solchen schrecklichen Ereignis sammeln kann, sind alles andere als zielführend. Am häufigsten sagen Menschen aus dem Umfeld der Täter, dass sie diesem so etwas nie zugetraut hätten.

Ja, Amokläufer haben oft Gewaltspiele gespielt – aber das tun sehr viele junge Männer. Ja, Amokläufer sind vielleicht eher zurückgezogen und schüchtern, wie sehr viele Menschen. Auch der Copilot des A 320 war vermutlich eher unauffällig.

Die Rufe danach, dass man durch psychologische Tests solche gefährlichen Personen frühzeitig identifizieren sollte, sind verständlich – aber ohne ein identifizierendes Profil zu kennen, kann man sie auch nicht vorhersagen oder ausfiltern.

Wir wissen nicht was in dem Co-Piloten vor sich ging. Wir wissen nicht, ob er einen Gehirntumor oder eine Lebensmittelvergiftung mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen hatte; ob er im Wahn glaubte, als Märtyrer die Welt durch ein Opfer vor einem Unheil bewahren zu müssen, oder ob er teuflisch böse war und das Ganze hinterhältig geplant hat – wir wissen es nicht. Vielleicht wird es Untersuchungsergebnisse geben, die andeuten, was möglicherweise in seinem Kopf vor sich ging. Aber: sicher wissen werden wir es auch dann nicht.

Was wir dagegen wissen: eine typische psychische Störung wie eine Depression oder andere, häufig vorkommende Erkrankungen hatte er jedenfalls nicht. Denn dann hätte man ihm das angemerkt, und er hätte sicher dieses Flugzeug nicht geflogen. Keine der gängigen seelischen Erkrankungen ist mit der Amok-Symptomatik verbunden.

Trotzdem werden jetzt wieder „ganz normal“ psychisch kranke Menschen als bedrohlich erlebt und in Zusammenhang mit dem Grauen einer solchen Katastrophe genannt. Sie werden dadurch stigmatisiert, obwohl sie nachweislich nicht gefährlicher sind als der Bevölkerungsdurchschnitt.

Als Christen können und sollten wir nur eines tun: das Urteil dem überlassen, der die Herzen der Menschen kennt.

Der Psychologe Ulrich Giesekus ist Professor an der Internationalen Hochschule Liebenzell und leitet den dortigen Masterstudiengang „Systemische Beratung“ (www.ihl.eu/systemische-beratung).



Foto: (c) Germanwings


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