Hat der KGB die Befreiungstheologie erfunden?

8. Mai 2015 in Chronik


Rumänischer Ex-Geheimdienstchef behauptet: Die Befreiungstheologie sei nicht auf christlichem Boden gewachsen, sondern sei eine Erfindung des sowjetischen Geheimdienstes KGB gewesen.


New York/Boston (kath.net/idea) Die Befreiungstheologie, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem in Lateinamerika Furore machte, ist nicht auf christlichem Boden gewachsen – sie war eine Erfindung des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Das behauptet der frühere Geheimdienstchef des rumänischen Ceausescu-Regimes, Ion Mihai Pacepa. Der heutige US-Bürger gilt als der ranghöchste Überläufer im Kalten Krieg. Er bat 1978 in der Bonner US-Botschaft um Asyl und arbeitete später für die CIA. Wie er in der konservativen politischen Zeitschrift National Review (New York) schreibt, wird die Befreiungstheologie weithin als „Hochzeit“ von Marxismus und Christentum verstanden. Sie sei aber kein Produkt von Christen gewesen, die kommunistische Ideale verfolgten, sondern von Kommunisten, die Christen verfolgten und Desinformation betrieben. 1971 habe der KGB den heutigen Moskauer Patriarchen Kyrill I. als Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche nach Genf in den Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) entsandt. Sein Auftrag habe darin bestanden, den ÖRK in die Verbreitung der Befreiungstheologie in Lateinamerika einzubinden.

„Das Programm des ÖRK ist unser Programm“

1975 sei es dem KGB gelungen, Kyrill im ÖRK-Zentralausschuss zu platzieren. Wenig später habe er dem Geheimdienst gemeldet: „Das Programm des ÖRK ist unser Programm.“ Kyrill habe seinen Sitz im Zentralausschuss behalten, bis er 2009 Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche wurde. Mit Hilfe der von der Sowjetunion unterstützten Christlichen Friedenskonferenz sei bereits 1968 die katholische Lateinamerikanische Bischofskonferenz in Medellin (Kolumbien) mit der „Option für die Armen“ veranstaltet worden. Freilich hätten sich später der polnische Papst Johannes Paul II. (1920-2005) und der Präfekt der Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger – der spätere Papst Benedikt XVI. – nicht von der marxistisch inspirierten Theologie vereinnahmen lassen, sondern sie als Bedrohung für die Kirche angesehen.

USA für evangelikales Wachstum verantwortlich?

Der katholische US-Publizist John L. Allen (Boston/Bundesstaat Massachusetts) macht darauf aufmerksam, dass der Kalte Krieg auch Auswirkungen auf Religion und Kirchen hatte. So behaupteten nicht wenige lateinamerikanische Katholiken, dass das massive Wachstum theologisch konservativer evangelikaler, speziell pfingstkirchlicher Gemeinden das Resultat einer Strategie der USA gewesen sei, um linksgerichtete katholische Kräfte durch Abwanderung zu schwächen. Ein entsprechendes Konzept sei 1980 vom Rat für Inter-Amerikanische Sicherheit erarbeitet worden. Diese konservative Denkfabrik habe in der Amtszeit von Präsident Ronald Reagan (1911-2004) Berater ins Weiße Haus entsandt.

Evangelikaler Theologe: „Verschwörungstheorien“

Wie Allen im Internetportal „Crux“ der Zeitung Boston Globe weiter schreibt, haben sich die Rivalitäten des Kalten Krieges zweifellos auch in der religiösen Welt niedergeschlagen. Doch Behauptungen, dass die beiden Supermächte weitreichende religiöse Bewegungen in Lateinamerika „erschaffen“ hätten, seien wahrscheinlich übertrieben. Zwar gebe Pacepa die KGB-Strategie vermutlich richtig wieder, aber er überschätze die tatsächliche Wirkung. So halte der evangelikale peruanische Missionswissenschaftler Samuel Escobar Behauptungen, dass Lateinamerikas religiöse Trends auf ausländischen Einfluss zurückgingen, schlicht für „Verschwörungstheorien“.


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