24-Stunden-Kita: Es droht die 'sozialistische Rundumbetreuung'

15. Juli 2015 in Kommentar


Immer mehr gemeinsame Familienzeit wird gestohlen - Ein Kommentar von Birgit Kelle


Wetzlar (kath.net/idea.de)
Angefangen haben wir bei der Fremdbetreuung mit dem Kindergarten am Vormittag, inzwischen soll sie flächendeckend ganztags angeboten werden. Erst startete sie ab dem dritten Lebensjahr, heute stecken wir Milliarden in den Ausbau der Krippen für Kinder ab einem Jahr oder gar schon ab sechs Monaten. Parallel bauen wir Ganztagsschulen aus, damit es nach der Kita nahtlos weitergehen kann. Stück für Stück wurde immer mehr Kindheit in Betreuungszeit umgewandelt – und immer mehr gemeinsame Familienzeit gestohlen. Jetzt sind wir bei der 24-Stunden-Kita angelangt. Es fehlt nur noch die DDR-Wochenkrippe, dann dürften wir in Margot Honeckers Utopie der sozialistischen Rundumbetreuung angekommen sein. Für den neuen „Segen“ der Familienpolitik der Bundesregierung sollen gar 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt werden.

Gebeutelte Eltern will Familienministerin Schwesig angeblich entlasten. Und fast klingt es verlockend, denn was soll die alleinerziehende Mutter machen mit ihrem Kleinkind, wenn sie
beispielsweise Krankenschwester im Schichtdienst ist? Da kommt eine Übernachtbetreuung doch wie gerufen.

Ginge es um Erwachsene, wären die Gewerkschaften längst auf der Straße

So ist es aber nicht. Stattdessen wirft der Vorschlag die Frage auf, wem Familienpolitik nutzen soll? Den Familien oder der Wirtschaft, dem Arbeitsmarkt und dem Bruttoinlandsprodukt? Es ist weder für Frauen noch für Familien eine Errungenschaft, dass die Arbeitskraft beider Elternteile inzwischen uneingeschränkt selbst über Nacht der Wirtschaft zur Verfügung stehen muss. Dafür opfern wir jetzt sogar die Nächte unserer Kinder. Sie dürfen nicht einmal mehr im eigenen Bett übernachten, wenn dadurch der Produktionsprozess gestört wird. Würde man so etwas mit Erwachsenen versuchen, die Gewerkschaften wären längst auf der Straße und würden „Kapitalismus“ und „Ausbeutung“ rufen. Wo bleibt die Lobby der Kinder?

Der Druck auf die Eltern steigt

Es ist kein Segen der Familienpolitik, dass die Bedürfnisse von Kindern nach Nähe, nach dem vertrauten, eigenen Bett, nach einem Gutenachtkuss von Mama und der Vorlesegeschichte von Papa jetzt dem Schichtdienst weichen muss. Wer 100 Millionen hat, um sie in 24-Stunden-Kitas zu investieren, hätte auch 100 Millionen, um sie den Eltern selbst zu geben. Damit sie Lösungen finden, wie Familie trotz Erwerbstätigkeit noch bestehen kann.

Warum gibt es nicht andere Lösungen?

Warum kämpft unsere Familienministerin nicht für familiengerechte Arbeitszeiten für Eltern, sondern schafft stattdessen arbeitsmarktgerechte Familien? Denn faktisch erhöht das 24-Stunden-Kita-Angebot den Druck auf Eltern, es auch zu nutzen. Damit bleibt gegen Schichtdienst trotz Kleinkind gar kein Gegenargument mehr zur Hand. Und so verkommt das
Familienministerium gerade zum verlängerten Arm von Wirtschaftslobbyisten. Schlimmer wäre nur noch eine andere Denkweise: dass Manuela Schwesig diese Politik tatsächlich für
familienfreundlich hält.

Birgit Kelle (Kempen) ist Mutter von vier Kindern und Vorsitzende des Vereins „Frau
2000plus“.


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