Der Mut zur Selbstanklage – der erste Schritt

11. September 2015 in Aktuelles


Franziskus in Santa Marta: Alle sollen sich davor hüten, Heuchler zu sein, angefangen beim Papst nach unten. Bitten um die Gnade der Umkehr. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) „Kann ein Blinder einen Blinden führen? Werden nicht beide in eine Grube fallen?“ – Das Tagesevangelium (Lk 6,39-42) vom Freitag der dreiundzwanzigsten Woche im Jahreskreis stand zusammen mit der ersten Lesung aus dem ersten Brief des Apostels Paulus an Timotheus im Mittelpunkt der Predigt von Papst Franziskus bei der heiligen Messe in der Kapelle des vatikanischen Gästehauses „Domus Sanctae Marthae“.

Großherzigkeit in der Vergebung, Großherzigkeit in der Barmherzigkeit. Der Papst unterstrich, dass die Liturgie in den vergangenen Tagen über den christlichen Stil nachdenken lassen habe, der mit Empfindungen der Zärtlichkeit, der Güte, der Sanftmut „bekleidet“ sei und dazu mahne, einander zu ertragen.

Dabei spreche Christus von einem „Lohn“: „Richtet nicht, und ihr werdet nicht gerichtet werden. Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt werden“:

„Doch wir können sagen: ‚Das ist schön, nicht?’. Und ein jeder von euch mag sagen: ‚Ja, Pater, das ist schön, aber wie geht das, wie beginnt man damit? Und worin besteht der nächste Schritt, um auf diesem Weg weiterzugehen?’. Den ersten Schritt sehen wir heute, sowohl in der ersten Lesung (1 Tim 1,1-2.12-14) als auch im Evangelium. Der erste Schritt besteht in der Selbstanklage. Im Mut, sich selbst anzuklagen, bevor man andere anklagt und beschuldigt. Und Paulus preist den Herrn, weil er ihn erwählt hat, und er dankt dem Herrn: ‚Er hat mich für treu gehalten und in seinen Dienst genommen, obwohl ich ihn früher lästerte, verfolgte und verhöhnte. Aber ich habe Erbarmen gefunden, denn ich wusste in meinem Unglauben nicht, was ich tat’ (V. 12-13)“.

Der heilige Paulus „lehrt uns, uns selbst anzuklagen. Und der Herr tut dies mit jenem Bild des Splitters im Auge deines Bruders und des Balkens in deinem eigenen Auge, den du nicht bemerkst (vgl. Lk 6,41). Es sei notwendig, zuerst den Balken aus dem eigenen Auge zu ziehen, sich selbst anzuklagen. Der erste Schritt also sei die Selbstanklage. Man dürfe sich nicht als Richter fühlen, der den Splitter im Auge des anderen herauszieht:

„Und Jesus benutzt das Wort, das er nur für jene benutzt, die ein doppeltes Gesicht, eine doppelte Seele haben: ‚Heuchler!’. Heuchler. Der Mann und die Frau, die es nicht lernen, sich selbst anzuklagen, werden zu Heuchlern. Alle, ja? Alle. Angefangen beim Papst nach unten: alle. Wenn einer von uns nicht die Fähigkeit besitzt, sich selbst anzuklagen, und erst dann, wenn es notwendig ist, die Dinge von den anderen zu sagen, ist er kein Christ, er tritt nicht in dieses schöne Werk der Versöhnung, der Befriedung, der Zärtlichkeit, der Güte, der Vergebung, der Großherzigkeit, der Barmherzigkeit ein, das uns Jesus Christus gebracht hat“.

Der erste Schritt also sei dieser: den Herrn um die Gnade einer Umkehr zu bitten und einzuhalten, wenn es einem in den Sinn komme, an die Fehler der anderen zu denken:

„Wenn sich da in mir die Lust einstellt, den anderen ihre Fehler zu sagen: einhalten! ‚Und ich?’ Und jenen Mut aufbringen, den Paulus hier zeigt: ‚Ich war einer, der lästerte, der verfolgte, ein Mann voller Gewalt’... Wie viel aber können wir über uns selbst sagen? Sparen wir uns die Kommentare zu den anderen und kommentieren wir uns lieber selbst. Und das ist der erste Schritt auf diesem Weg der Großherzigkeit. Wer nämlich nur den Splitter im Auge des anderen zu sehen vermag, endet in der Armseligkeit: eine armselige Seele voller Kleinheit, voller Geschwätz“.

„Bitten wir den Herrn um die Gnade“, so der Papst abschließend, „dem Rat Jesu zu folgen: großherzig in der Vergebung, großherzig in der Barmherzigkeit zu sein“. Um einen Menschen heiligzusprechen „gibt es da den ganzen Prozess, es bedarf eines Wunders, und dann spricht ihn die Kirche heilig. Doch – würde man einen Menschen finden, der nie, nie, gar nie schlecht über den anderen geredet hat, dann könnte man ihn sofort heiligsprechen“.

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