Wiener Psychiater Bonelli rät Synode zu 'klaren Idealen'

20. Oktober 2015 in Familie


Psychotherapeut Bonelli: Bisherige kirchliche Haltung bei Ehe stabilisiert Familien - "Viele Paare geben zu früh auf" - Teilnehmer der Bischofssynode sollten keine Angst vor unbequemen und unpopulären Forderungen haben. Das Interview in voller Länge


Wien (kath.net/KAP) Mut zu klaren Idealen bei Fragen der Ehe und Scheidung rät der Wiener Psychiater Raphael Bonelli der am Sonntag im Vatikan zu Ende gehenden Familiensynode. Mit ihrer bisherigen Ehelehre trage die Kirche wesentlich zur Stabilisierung von Familien bei, erklärte der Leiter des Instituts für Religiösität in Psychiatrie und Psychotherapie (RPP), das am Samstag in Stift Heiligenkreuz gemeinsam mit der Sigmund-Freud-Privatuniversität eine Fachtagung zu "Bindung und Familie" veranstaltet hat, im Interview mit "Kathpress".

Kathpress: Was raten Sie als Psychiater der Familiensynode?

Bonelli: Die Religion hat die Aufgabe, der Gesellschaft einen Kontrapunkt zu setzen, sonst schafft sie sich selbst ab. Sie darf nicht passiv mit dem Strom schwimmen – das tun nur die toten Fische. Sie hat eine Botschaft für die Menschen. Die menschliche Psyche braucht Orientierungspunkte, denn nur hohe – bis jetzt noch nicht erreichte – Ideale ermöglichen persönliche menschliche Entwicklung. Es ist ganz normal, dass sich die Menschen mitunter daran reiben.

Deswegen sollte die Religion ein Ideal vorstellen, nach dem man sich ausrichten kann. Auch wenn das unbequem und unpopulär ist. Davor sollten die Synodenväter keine Angst haben, auch nicht vor medialer Schelte. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Sie blockiert und verunmöglicht die Identitätsfindung.

Die Religion hat eine prophetische Funktion. Der Prophet sagt, was keiner hören will, weil es alle verdrängen. Er tritt dem kollektiven Selbstbetrug entgegen, dem der einzelne wegen der Gruppedynamik vielleicht nicht gewachsen ist.

Der Prophet hat – frei nach Hans Christian Andersen – die Aufgabe, darauf hinzuweisen, dass der Kaiser nackt ist.

Kathpress: Und eine klar auftretende Kirche würde heute noch etwas bewirken?

Bonelli: Je klarer sie auftritt und je besser sie das kommuniziert umso größer ist die Chance, dass Menschen ihr Leben danach ausrichten.

Als Wissenschaftler kann ich sagen, dass die überwältigende Mehrheit der Studien zur psychischen Gesundheit ergeben haben, dass Religion der Psyche guttut. Aber das gilt nur, wenn sie intrinsisch rezipiert wird und nicht extrinsisch. Die Unterscheidung geht auf Gordon Allport zurück, einer der bekanntesten Psychologen des 20. Jahrhunderts, bekannt für die big five.

Der intrisisch Motivierte gibt der Religion die Chance, sein Leben zu prägen. Der extrinsisch Motivierte ist dafür nicht offen. Er kann sich nicht auf das große Ganze einlassen sondern versucht, die kantigen Teile seiner Religion abzuschleifen. Das ist dann ein fruchtloses Herauspicken von Einzelteilen, die nicht weh tun – so nach dem Motto „wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“. Allport hat um 1950 in den USA zeigen könne, dass intrisisch Religiöse ihren Rassismus ablegen konnten, extrinsisch Motivierte nicht.

Kathpress: Was bedeutet das für den Umgang mit geschiedenen Wiederverheirateten?

Bonelli: Ich komme aus der systemischen Psychotherapie. Diese begreift den Menschen in Systemen organisiert, nicht als isoliertes Einzelwesen. Die Familie ist das klassische System in unserer Arbeit. Jedes Mitglied hängt darin von jedem anderen ab. Wenn ein Mitglied das System verlässt, bewirkt das etwas bei den anderen Gruppenmitgliedern. Die Opfer solch eines Zerreißens werden oft übersehen.

Eine Scheidung hat viele Verlierer: zuallererst die Kinder, aber oft auch einen der Partner, vielleicht sogar beide. Wir müssen heute dieses fragile System Familie stärken, weil es eine unheimliche Ressource für psychische Gesundheit ist. „Ich will dich lieben, achten und ehren“, ist ein starker Satz aus der Religion, der sich in täglichem „Danke“, „Bitte“ und „Entschuldigung“ psychodynamisch heilsam auswirken sollte. Hier muss die Familienpastoral meines Erachtens prioritär ansetzen.

Eine kirchliche „zweite Chance“ hingegen würde ein fragiles System weiter destabilisieren. Beide Elternteile könnten dann jederzeit gehen und nochmals anfangen. Der Ehepartner – und auch die Kinder – stehen somit ein Leben lang auf dem Prüfstand.

Als Psychiater beobachte ich, dass viele Paare heute viel zu früh aufgeben. Eine Ursache ist, dass man sich eher fragt, was einem selbst die Beziehung emotional gibt, statt sich wirklich persönlich einzubringen. Das ist eine passive Haltung: „Gibt mir das noch was?“ – statt der aktiven – „Was kann ich einbringen, verbessern?“ Verbindlichkeit schafft Lösungen, Unverbindlichkeit hingegen verunmöglicht Lösungen. Man investiert auch lieber in ein gekauftes als in ein gemietetes Haus.

Deswegen bedeutet die bisherige klare Haltung der Kirche eine Stabilisierung des Systems Familie.

Kathpress: Was ist Ihre Haltung als Psychotherapeut zum Scheitern einer Ehe?

Bonelli: Als Paartherapeut ist der Auftrag, den ich von meinen Klienten bekommen meistens, ihre Ehe noch zu „retten“. Aus dieser Erfahrung ich kann Ihnen sagen: Paare in der Krise missverstehen häufig den Stellenwert der Emotionen. Liebe ist eine Herzenssache, kein Bauchgefühl der Schmetterlinge. Das Herz kann sich über den Schatten der aversiven Gefühle, der stattgehabten Verletzungen springen. Nur das Herz kann vergeben, dann stellt sich oft auch wieder ein entsprechendes Bauchgefühl ein. Die modernen Methoden der Paartherapie kann den Großteil der Krisenpaare effektiv helfen, vorausgesetzt dass beide wirklich wollen. Das Problem ist aber normalerweise, dass einer von beiden nicht mehr will, weil er ein anderes Konzept der Ehe im Kopf hat. Er „spürt“ nichts mehr und/oder hat eine Affäre begonnen.

Ich würde der Kirche raten, auf das Konzept der Ehe bei einer kirchlichen Eheschließung mehr zu achten. Hier würde ich die Familienpastorale ansetzen, hier ist ein wichtiges Thema für die Synodenväter.

Kathpress: Sie sind als Therapeut ja auch mit Geschiedenen und Wiederverheirateten konfrontiert. Kann es sich die Kirche leisten, für diese Gruppe keine pastorale Lösung zu finden?

Bonelli: Ich bin seit mehr als zwei Jahrzehnten in der Psychiatrie tätig und betreue eine bunte Vielzahl von Patientengruppen. Geschiedene und Wiederverheiratete sind da mein tägliches Brot. Allerdings kommt der Kommunionempfang in der psychiatrischen Sprechstunde praktisch nicht vor. Ob die Leute das vor dem Psychiater nicht kommunizieren oder das eher ein Problem einer kleinen Randgruppe ist kann ich nicht sagen. Allerdings wissen wir, dass kirchlich geschlossene Ehen nur halb so oft geschieden werden wie standesamtlich geschlossene. Und hier haben wir intrinsische und extrinsische Religiosität noch gar nicht differenziert. Meine Erfahrung als Psychiater sagt mir, dass intrinsisch Religiöse heroisch um ihre Ehe kämpfen – weil sie das Ideal sehen - und es ausgesprochen selten zur Scheidung kommt.

Der Kirche würde ich empfehlen, besser ihren „unique selling point“ zu kommunizieren – das ist nach meinem Verständnis die lebendige Gottesbeziehung, insbesondere in der Eucharistie. Diese führ notwendigerweise zu intrinsischer Religiosität – und dann ist viel möglich, weil sie den Menschen befähigt, über seinen Schatten zu springen.

Prof. Raphael M. Bonelli im Gespräch mit Martin Lohmann. Tischgespräche (Teil 1)


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Foto Univ.-Prof. Bonelli (c) Raphael Bonelli


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