Worüber man nicht so gerne spricht

1. Februar 2016 in Kommentar


Die beiden Randzonen des Lebens, nämlich Anfang und Ende, sind heute von allerlei technokratischen Optionen geprägt. Eine Kolumne von Marcus Franz


Wien (kath.net) Die beiden Randzonen des Lebens, nämlich Anfang und Ende, gehören heute der Medizin. Das gemeinsame Kennzeichen der Randzonen ist, dass sie von allerlei technokratischen Optionen geprägt sind. Diese widersprechen aber teilweise dem allgemeinen Wunsch nach Würde und nach Respekt vor dem Leben. Die zunehmende ethische Brisanz der medizinischen Entwicklungen entsteht, weil Medizin ja nicht nur heilbringende Interventionen möglich macht, sondern genauso gut einer fremdbestimmten Lebensverlängerung wie auch einer aktiven Lebensverkürzung Vorschub leisten kann: Wir können unheilbare oder fast tote Menschen mittels Intensivmaßnahmen nahezu beliebig lange am Leben erhalten, andererseits kann gesundes menschliches Leben im vorgeburtlichen Stadium durch medizinische Maßnahmen problemlos und unauffällig beendet werden. Das Verwerfen von überzähligen Embryonen nach IVF und die Abtreibung sind medizinischer Alltag.

Was hat nun das eine mit dem anderen zu tun? Ganz einfach: Die prinzipiellen gesellschaftspolitischen und ethischen Fragen in den beiden Bereichen sind ähnlich gelagert, sie müssen daher auch in einem gesamtheitlichen Kontext gesehen werden. Zumindest dann, wenn man die Rede von der Unantastbarkeit und der Würde des menschlichen Daseins ernst nimmt.

Zur vorgeburtlichen Randzone: Wir haben in der Pränatalmedizin in den letzten Jahrzehnten rasante Fortschritte erlebt. Die Säuglingssterblichkeit ist enorm zurückgegangen. Mit aufwendigen Mitteln wird heute Kindern auf die Welt geholfen, die noch vor zwanzig Jahren unweigerlich gestorben wären.

Gleichzeitig und im Wissen um diese Leistungen lassen wir aber auch zu, dass pro Jahr in Österreich etwa 40.000 – 60.000 Abtreibungen stattfinden. (Genau Zahlen kennen wir nicht, da wir neben Portugal als einziges EU-Land keine Statistiken darüber führen) Es besteht hier also eine ethisch widersprüchliche Situation: Wer leben darf und wer nicht, wird in der Randzone Eins per Willkür und mittels medizinischer Maßnahmen entschieden. In der Randzone Zwei hingegen, also in der Alten- und Schwerstkrankenversorgung, ist die Entscheidung klar: Das Leben der Alten und Sterbenskranken gilt als prinzipiell schützenswert, Willkür ist hier nicht vorgesehen.

Freilich kommt nun durch die wiederkehrende Debatte über die aktive Sterbehilfe auch in der Randzone Zwei neue Brisanz ins Spiel: Die Österreicher sind laut einiger Umfragen mehrheitlich dafür, in gewissen Fällen die gezielte und vorsätzliche Tötung von unheilbar Kranken gesetzlich zu gestatten.

Natürlich ist eine Gegenüberstellung der beiden Randzonen auch schwierig, weil die Eigenschaften des frühen und des späten Lebens unterschiedliche sind: Meist wird das Vorhandensein von Bewusstsein als das grundlegende Merkmal des Mensch-Seins betrachtet. Im allgemeinen wird angenommen, dass Ungeborene vor Vollendung des dritten Schwangerschaftsmonates kein solches Bewusstsein besitzen. Allerdings werden immer wieder wissenschaftliche Hinweise entdeckt, dass Föten auch vor dieser Frist menschliche Empfindungen haben.

Andererseits leiden hochgradig pflegebedürftige Menschen und Todkranke oft an massiven Beeinträchtigungen des Bewusstseins und häufig können wir überhaupt nicht mehr feststellen, wie weit etwa schwerst Demenzkranke oder Langzeit-Komatöse noch ein solches Ich-Bewusstsein besitzen. Im Grunde wissen wir also bezüglich des Bewusstseins von beiden Lebensphasen recht wenig. Trotzdem gelten die einen Menschen als prinzipiell lebensberechtigt, die anderen jedoch nicht.

Überhaupt muss man konstatieren, dass das gelebte Leben, auch wenn es nur mehr im dementen Endzustand gefristet wird, viel mehr Wert zu besitzen scheint als das ungelebte Leben vor der Geburt. Obwohl die Optionen des noch ungelebten Lebens nahezu unendlich sind und die des gelebten nahezu null, hat der Demenzkranke im Endstadium die besseren Karten. Die Entscheidung zur Abtreibung fällt nämlich offenbar viel leichter als die Entscheidung, ob ein 95-jähriger sogenannter Pflegefall friedlich sterben darf oder ob man für diesen nicht doch noch die High-Tech-Medizin in Anspruch nimmt.

Am Beginn des Lebens tun wir wenig, um die Situation zu verbessern: Wir errichten zwar um teures Geld Kinderwunsch-Zentren und die Kassen unterstützen Paare bei der In-vitro-Fertilisation. Gleichzeitig werfen wir aber ungeborenes Leben durchaus auch in den Mülleimer - nämlich dann, wenn eine ungewollte Schwangerschaft eintritt und diese beendet wird. Die Situation ist also auf eine beklemmende Weise absurd, von Willkür geprägt und letztlich zynisch verformt.

Ökonomen können heute ganz nüchtern berechnen, was uns die Apparatemedizin am Ende des Lebens kostet. Wir kennen jedoch keine Zahlen darüber, welche Wertschöpfung durch die Abtreibungen gesunder Föten verloren geht. Es wäre interessant, eine solche Kosten-Nutzen-Rechnung anzustellen. Wenn pro Jahr ca. 30.000 Abbrüche stattfinden, so sind das in Summe pro Generation hunderttausende Bürger, die in der Bevölkerung fehlen. Mit allen Folgen für Wirtschaftswachstum und Demografie.

Wenn es nach Ethik, Vernunft und Ökonomie ginge, müsste die solidarisch aufgebaute Gesellschaft also intensiver über Besserungsmöglichkeiten nachdenken. Die Medien sind voll von Demografie-Debatten, die ursächliche ethisch-medizinische Problematik der Bevölkerungsstruktur wird in Österreich aber kaum angesprochen. Die Migrationskrise als Thema Nr. 1 überlagert zwar derzeit alles, wir müssen uns aber trotzdem mit den fundamentalen Fragen des Lebens beschäftigen. Die Antworten fallen sonst beliebig aus und der Ethos erodiert.

Sicher ist schon jetzt: Wir brauchen eine neue Kultur des „Leben dürfens“ und des „Sterben dürfens“. Dabei geht es überhaupt nicht darum, die Abtreibung wieder zu verbieten und statt dessen die aktive Sterbehilfe zu erlauben, um auf diese Weise die Demografie wieder ins Lot zu bringen. Es geht vielmehr darum, die festgefahrenen Argumentarien aufzubrechen und im politischen Diskurs neue Sichtweisen zu ermöglichen. Der beschriebene aktuelle Status der Randzonen führt uns ja klar vor Augen, dass wir alle einen kräftigen sozio-kulturellen und ethischen Erklärungsnotstand mit uns herumschleppen, über den wir gar nicht gerne reden.

Dr. Marcus Franz ist Nationalratsabgeordneter der ÖVP und regelmäßiger Kolumnist auf kath.net. Dr. Franz ist verheiratet hat drei Kinder. Außerdem ist er Facharzt für Innere Medizin und ehemaliger Primarius und ärztlicher Direktor des Hartmannspitals in Wien.

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— KATH.NET (@KatholikenNet) 26. Januar 2016



Foto Nationalrat Franz © Österreichisches Parlament/Parlamentsdirektion / Photo Simonis


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