Die 'lateinische' Ökumene: Kirill trifft Franziskus

18. Februar 2016 in Kommentar


Vor allem für Russland ging es beim Treffen zwischen dem Papst und dem Patriarchen um weit mehr als nur die Beziehungen zwischen römisch-katholischer und Russisch-Orthodoxer Kirche. idea-Kommentar von Gerhard Besier


Moskau-Vatikan (kath.net/idea) Als bekanntwurde, dass sich Papst Franziskus am 12. Februar 2016 mit dem Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kirill, auf Kuba treffen werde, läuteten bei westlichen Politikern wie protestantischen Kirchenführern weltweit die Alarmglocken. Denn die Erfahrungen, die man mit dem Kurs der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) durch das ganze 20. Jahrhundert hinweg gemacht hat, ließen eine politische Instrumentalisierung dieser Begegnung seitens des Kremls befürchten. Als die sich im Genfer Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) formierenden, dominant westlichen Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg den Dialog mit der ROK aufnehmen wollten, gab es zunächst schwer überbrückbare Hindernisse. Die ROK schlug Anfang August 1948 eine Einladung zur internationalen Konferenz nach Amsterdam mit der Begründung aus, dass sich der ÖRK vornehmlich mit sozialen und politischen Fragen, kaum aber mit dogmatischen befasse. Der Generalsekretär des ÖRK, der reformierte Niederländer Willem A. Visser’t Hooft, vermutete, die wahren Ursachen für die Ablehnung seien auf die erhebliche Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Ost und West im Frühjahr und Sommer 1948 zurückzuführen.

Tausende Geistliche gingen den Weg des Martyriums

Aus westlicher Perspektive konnte die Russisch-Orthodoxe Kirche seit der Oktoberrevolution 1917 nur eine unterdrückte und verfolgte Kirche sein, die darum dem sozialistischen Moskauer Regime nichts abgewinnen konnte und die nur unter Zwang Gehorsam zeigte. Tatsächlich bekämpften die Bolschewiki aus ideologischen Gründen diese Kirche, galt sie doch als Relikt des zaristischen Russland. Tausende von Bischöfen, Geistlichen, Mönchen und Nonnen gingen den Weg des Martyriums. Von den mehr als 1.000 Klöstern im Jahr 1914 wurden bis 1922 mehr als 700 geschlossen. Nach über fünfjähriger Verfolgung ließ Patriarch Tichon (1865–1925) Ende Juni 1923 in der Regierungszeitung Istwestija eine „Reueerklärung“ erscheinen, in der er seine früheren antibolschewistischen Äußerungen widerrief und versicherte, von nun an kein Staatsfeind der Sowjetmacht mehr zu sein. Was als blanker Opportunismus aus existenzieller Not heraus interpretiert werden könnte, sah der Patriarch als theologisch begründete Selbstkorrektur des kirchlichen Kurses. Danach galt es als wahrhaft sachgemäße neutestamentliche Haltung, keine Opposition gegen den Sowjetstaat zu betreiben, sondern die Einpassung der ROK in diesen anzustreben – und das, obwohl das Moskauer Regime schon bald darauf (1929) einen Fünfjahresplan zur Atheisierung der Sowjetunion in Gang setzte.

Die Kirche begrüßte die Niederschlagung des Prager Frühlings

Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es – ungeachtet der grundsätzlich weiterhin kirchenfeindlichen Haltung des atheistischen Regimes – zu einem ausgesprochenen Synergismus zwischen der ROK und den staatlichen Instanzen. In dem von Kirche und Staat gemeinsam geführten „Kampf für den Frieden“ – der Propagierung der sowjetischen Außenpolitik als „Friedenspolitik“ – wusste sich die ROK im Einklang mit ihrer mehr als tausendjährigen Tradition. Auch in den Repressionsjahren nach Stalins Tod zeigte die ROK in ihrem weiteren „Kampf für den Frieden“ während des „Kalten Krieges“ eine große Leidensbereitschaft – bis hin zur Selbstaufgabe.

Eigentlich nur so lässt sich ihre rege Geheimagententätigkeit für den sowjetischen Geheimdienst KGB innerhalb der weltweiten Ökumene seit 1961 verstehen – dem Jahr, in dem die ROK dem ÖRK beitrat. Auch die aggressiven Akte der sowjetischen Außenpolitik wie die Niederschlagung der Aufstände in Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968 rechtfertigte die ROK als „friedensstiftende Aktivitäten“, die der friedlichen Koexistenz dienten. Von hier aus ist auch das Unverständnis sowjetischer Stellen für die Schwierigkeiten zu erklären, die ihre kommunistischen Satellitenstaaten mit deren oft staatskritischen und auf Abstand zum Regime bedachten römisch-katholischen bzw. protestantischen Kirchen hatten.

Stalins Gewaltakte nützten Staat und Kirche

Idealerweise können freilich die wohlverstandenen Interessen von Staat, Volk und Kirche zusammenfallen – wie etwa 1949, als Stalin mit Gewalt die Griechisch-Katholische (Unierte) Kirche in der vormals polnischen Westukraine (Galizien) und der früheren tschechoslowakischen Karpato-Ukraine (Uzhgorod, Mukatschewo) auflösen ließ. Damit wollte der Diktator den westukrainischen Nationalismus liquidieren, der einerseits prorömische und prowestliche Züge aufwies, andererseits prononciert antirussische und antikommunistische Haltungen pflegte. Das Moskauer Patriarchat begrüßte Stalins Gewaltakte, führten sie doch zur „Heimkehr“ der Gläubigen in den Schoß der orthodoxen Mutterkirche.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion: Auf dem Weg zur Staatskirche

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war das Moskauer Patriarchat bestrebt, seine Hoheitsansprüche in den früheren Sowjetrepubliken zu sichern. Noch stärker als andere Kirchen in der postkommunistischen Region Europas suchte die Russisch-Orthodoxe Kirche den kulturellen Status einer Staatskirche zu erhalten, die Kontakte zu den postkommunistischen Eliten zu stärken, den Einfluss religiöser Minderheiten zu reduzieren und die Übereinstimmung zwischen religiöser und nationaler Identität voranzutreiben. Schon zu Gorbatschows Zeiten erbat die Russisch-Orthodoxe Kirche staatliche Hilfe gegen das Auftreten anderer Kirchen – Katholiken, Unierte in der Ukraine, Auslandskirchen und Neue religiöse Bewegungen. Damit wählte sie den traditionellen Weg und stellte sich nicht den religiösen Wettbewerbsbedingungen in einer modernen pluralistischen Gesellschaft. Gleichzeitig sagte sie ihre Hilfe beim „moralischen Wiederaufbau“ des Landes zu, ein unzweideutiges Angebot zur Konfessionalisierung der politischen Kultur Russlands unter dem Protektorat des Kreml.

Enge Zusammenarbeit mit dem KGB und Putin

Dabei stand die moralische Autorität der ROK selbst infrage. Alexej II. zeigte kein Interesse an einer Aufarbeitung der Haltung seiner Kirche während der Sowjetzeit. Im Gegenteil: Er erwirkte beim damaligen Präsidenten Jelzin die Auflösung einer Parlamentskommission zur Klärung der KGB-Aktivitäten in der Kirche. Stattdessen wurde eine kirchliche Kommission eingesetzt, die so etwas wie eine Alibi-Funktion einnahm. Alexej II. soll während der Sowjetära selbst ein Agent des KGB gewesen sein. Angeblich wurde er am 28. Februar 1958 unter dem Code-Namen Drosdow rekrutiert.

Kirill: Orthodoxie und kirchliche Moral als das Herz des russischen Patriotismus

Obwohl Alexejs II. Nachfolger, Kirill I. (geb. 1946), vom KGB angeblich als Agent Michailow geführt, 1971 zum offiziellen Vertreter des Moskauer Patriarchats beim Weltkirchenrat bestellt worden war und von 1989 bis 2008 als Hauptgestalter der ökumenischen Aktivitäten der ROK galt, war auch er seit seiner Wahl zum Patriarchen 2009 eher zurückhaltend, wenn es um den Dialog mit westlichen Kirchen ging. Stattdessen sprach er sich für die Schaffung „spezieller Beziehungen“ zwischen der Orthodoxie und den anderen drei „traditionellen Religionen“ Russlands aus – dem Islam, dem Judentum und dem Buddhismus. Orthodoxie gilt ihm als das Herz des Patriotismus und kirchliche Moral als Basis der patriotischen Sozialisation. Driften Moskau und „Konstantinopel“ auseinander?

In den letzten Jahren entwickelte sich eine engere Zusammenarbeit zwischen dem Patriarchen von Moskau und dem Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus von Konstantinopel, manifestiert durch einen Besuch des Ökumenischen Patriarchen in Moskau 2010, wo sie gemeinsam den Pfingstgottesdienst zelebrierten. Mitte Juni 2016 wird eine panorthodoxe Konferenz auf Kreta stattfinden – nicht am traditionellen Sitz des Ökumenischen Patriarchen in Istanbul, wie ursprünglich geplant, weil die ROK sich weigert, nach dem Abschuss eines russischen Militärflugzeugs durch die Türkei auf türkischem Boden zu tagen.

Die Russisch-Orthodoxe Kirche ist unverzichtbar für Putins neues Imperium

Als der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras im Frühjahr 2015 nach Moskau fuhr, um Putin seine Aufwartung zu machen, traf er nicht nur den russischen Präsidenten, sondern wurde am 10. April 2015 auch feierlich von Patriarch Kirill empfangen. Allem Anschein nach gehört die ROK zum unverzichtbaren ideologischen Überbau von Putins Neu-Eurasischem Imperium.

Welche Rolle ist Papst Franziskus bei dem russischen Machtspiel zugedacht? Ganz ähnlich wie seinerzeit beim unerwarteten Beitritt der ROK zum Genfer Ökumenischen Rat der Kirchen im Jahr 1961 wird Moskau mit seinem plötzlichen Sinneswandel im Blick auf die römisch-katholische Kirche weniger spirituelle als politische Ziele verfolgen. Heute wie damals geht es um eine Aufwertung, eine Image-Verbesserung der russischen Diktatur in der westlichen Welt.

Ein Patriarch im Dienste seines Vaterlandes

Selbst wenn Franziskus alle gebotene diplomatische Vorsicht walten lässt, bleibt der politische Vorteil für Russland unübersehbar: Das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche trifft mit Kirill einen Patriarchen mit zweifelhafter Vergangenheit, den Rivalen Bartholomäus‘ um die Vorherrschaft in der orthodoxen Welt – einen Geistlichen, der die Annexion der Krim, den Krieg in der Ukraine und die Bombardierung syrischer Oppositioneller mit religiösen Begründungen gutheißt. Moskau will ein internationales konservatives Bündnis schmieden – gegen die liberalen Werte der westlichen Gesellschaft. Kirill, vormals Kirchendiplomat der Sowjetunion und heute der Botschafter Putins, kämpft für „traditionelle Werte“, die auch von konservativen Kreisen der römisch-katholischen Kirche und von der evangelikalen Welt geteilt werden.

Über dieser Hochschätzung darf zu keinem Zeitpunkt vergessen werden, dass Kirill aus theologischen Gründen im unbedingten Dienste seines Vaterlandes steht – eines Landes, das kein Rechtsstaat ist und in dem Oppositionelle wie Andersdenkende und -glaubende unterdrückt, verfolgt und ermordet werden.

Der Autor, Gerhard Besier (Dresden), ist habilitierter evangelischer Theologe, promovierter Historiker und Diplom-Psychologe. Er lehrt an verschiedenen europäischen Universitäten und an der Stanford-Universität in Kalifornien.

Link zur „Gemeinsamen Erklärung“ im Wortlaut.

Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung und Abschied zwischen Papst Franziskus und dem Patriarchen von Moskau und ganz Russland



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