Gänswein: 'Wenn Europa sein jüdisch-christliches Erbe vergisst…'

19. Februar 2016 in Interview


Kurienerzbischof im „Focus“-Interview: „Es wäre die gute Seite der Medaille, wenn durch die große Flüchtlingswelle, die mehrheitlich muslimisch ist, ein Weckruf, eine Rückbesinnung auf die eigenen religiösen Wurzeln erfolgen würde.“


Vatikan (kath.net/pl) „Wenn Europa in erster Linie nur als gemeinsamer Finanz- und Wirtschaftsraum funktionieren soll, dann ist das zu wenig für Europa. Es fehlt die Seele. Europa lebt von seinem jüdisch-christlichen Erbe. Darin wurzelt seine tiefste Identität. Wo diese Identität versandet, ist Europa anfällig und schwach.“ Dies erläuterte Kurienerzbischof Georg Gänswein (Foto) im Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Focus“. Der Präfekt des Päpstlichen Hauses wies darauf hin, dass Papst Benedikt XVI. – noch in seiner Zeit als Kardinal Ratzinger – mit seinen Warnungen recht behalten habe. Die europäischen Werte hätten christliche Wurzeln, stellte Gänswein weiter fest, wenn hier nicht „ein gutes Fundament“ gelegt werde, bestehe „für das Haus Europa latente Einsturzgefahr“. Dies gelte durchaus auch hinsichtlich der „gegenwärtig großen Herausforderung der Migration“, hier werde sich zeigen, „ob Europa seiner Verantwortung gerecht zu werden vermag oder nicht.“ Der Kurienerzbischof stellte ganz grundsätzlich klar: „Die christliche Grundüberzeugung lautet: Menschen, die in großer Not sind, brauchen Hilfe, jetzt und hier, sie haben ein Recht auf Hilfe.“

„Wenn durch die große Flüchtlingswelle, die mehrheitlich muslimisch ist, ein Weckruf, eine Rückbesinnung auf die eigenen religiösen Wurzeln erfolgen würde“, dann wäre dies die gute Seite der Medaille, so Gänswein. Doch bezweifle er, dass es so kommen werde. Vielmehr erlebten Muslime hierzulande überwiegend, „dass der Glaube bei den Christen, die sie hier antreffen, kaum eine Rolle spielt“. Dies werde noch verschlimmert dadurch, dass christliche Symbole aus dem Alltagsleben verbannt würden mit der Begründung, „das könne man Menschen mit muslimischem Glauben nicht zumuten.“ Doch sei genau das Gegenteil der Fall: „Ein Muslim, der einem überzeugten Christen begegnet, hat mehr Respekt als ein Muslim, der Christen erlebt, die ihre Religion nicht ernst nehmen. Das gilt auch für die christlichen Symbole. Die Achtung vor der anderen Religion nimmt nicht zu, wenn ich meine eigene verleugne. Die Achtung nimmt vielmehr zu, wenn mein Gegenüber erlebt, da hat jemand einen Glauben, zu dem er steht, der ihm wichtig ist.“ Tolerant könne nur sein, sagte Gänswein dem „Focus“, „wer eine klare Überzeugung hat und diese auch lebt“.

Entsprechend bezeichnete Gänswein auch die Umwandlung von Weihnachtsmärkten in Wintermärkte als „gefährlich“. So manipuliere man ein christliches Ereignis und führe die Menschen damit in die Irre. „Das ist bewusste Verwässerung der eigenen Identität, Säkularisierung pur. Davor kann ich nur warnen.“ Wenn Geistliche in der „Verkündigung nicht mehr klar und eindeutig“ sind, „vergibt man eine riesengroße Chance“. „Jeder, der das Wort Gottes verkündigt, muss sich sehr bewusst sein: Ich verkündige nicht mich selbst. Ich verkündige Jesus Christus und sein Evangelium, die „frohe Botschaft“. Wer in die Kirche kommt, soll wissen, wovon die Rede ist.“

Der „Focus“ fragte, ob die Berufung Angela Merkels mit ihrem Satz „Wir schaffen das“ sich zu Recht auf die Pflicht zur christlichen Nächstenliebe berufe und ob Nächstenliebe Sache des Staates sei. Christliche Nächstenliebe sei „etwas sehr Persönliches“, erwiderte Gänswein, sie beruhe „auf Freiwilligkeit“, dagegen sei staatliches Handeln „hoheitliche Anordnung“. Natürlich könnten Staat und Politiker „an die christliche Nächstenliebe“ appellieren, aber man könne sie nicht anordnen. „Christliche Überzeugungen in gute Politik umzusetzen verlangt Mut und ist eine hohe Kunst.“

Für Deutschland sehe er „die große Bereitschaft vieler Menschen, zu helfen. Doch habe „diese Bereitschaft durch den immer größer werdenden Zustrom von Flüchtlingen Einbußen erlitten; ja es ist Angst aufgekommen, die Aufgaben könnten nicht mehr bewältigt werden“. Diese Angst sei durchaus verständlich. „Offensichtlich hatte das Geschehen in der Silvesternacht in Köln eine spürbare Veränderung in der Flüchtlingsfrage zur Folge.“ Den politisch Verantwortlichen stelle sich nun die Herausforderung, „die Sorge der Menschen ernst zu nehmen und gleichzeitig der Verpflichtung zur Hilfe treu zu bleiben“.

Dass eine neue Partei wie die AfD „bei Umfragen innerhalb kürzester Zeit zweistellige Werte zu erzielen vermag, muss die Alarmglocken läuten lassen“, führte Gänswein weiter aus. Populistisches Handeln habe immer dann große Anziehungskraft, „wenn Menschen den Eindruck gewinnen, dass ihre Sorgen und Ängste nicht oder nicht ausreichend ernst genommen“ würden.

Das „C“ der CDU bezeichnete Gänswein als „ein Markenzeichen, das die Union in Pflicht nimmt, wenn sie es ernst nimmt“. Er hoffe, dass die „‚C‘-Politiker aus ihrer christlichen Grundhaltung keinen Hehl machen und aus dieser Überzeugung mutig und entschieden handeln“. Die Kirche mache ja nicht selbst Politik, habe aber „das Recht und die Pflicht, ihre Stimme zu erheben, wenn wichtige Fragen um den Menschen und seine Bestimmung auf dem Spiel stehen“. Das Betreiben von Parteipolitik stehe ihr natürlich nicht zu.

Papst Franziskus habe sein Papstamt mit der Grundüberzeugung angetreten, dass „barmherziges Handeln weder an nationalen Grenzen noch an politischen Widerständen scheitern“ dürfe und Barmherzigkeit über jede Grenze hinweg gelte. Davon „lässt er nicht ab. Und er erhebt dafür seine Stimme - gelegen oder ungelegen“.

Foto Kurienerzbischof Gänswein


Interview mit Erzbischof Gänswein - Stift Heiligenkreuz


Archivfoto oben (c) kath.net/Petra Lorleberg


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