Priestermangel 'gewollt'? Hr. Kissler verwechselt Ursache und Wirkung!

22. August 2016 in Kommentar


"Die wirkliche innere Ursache der Verdunstung des Glaubens ist m.E. die Überbewertung der Theologie vor dem Gebet, der Reduzierung des Glaubens auf das Glaubens- und Ritualwissen." Eine Antwort auf Kissler. Gastkommentar von P. Adrian Kunert SJ


Bonn (kath.net) Zum Artikel: Alexander Kissler, „Der Priestermangel ist gewollt. Die Zahl der Neupriester sinkt beständig. Dahinter steckt Methode. Priester stehen einem von vielen Bistumsleitungen gewünschten neuen Kirchentyp im Weg“, in „Cicero“ 18. August 2016, kath.net hat berichtet.

Folgt man der Interpretation im Artikel von Alexander Kissler, machte sich der damalige Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, Gedanken darüber, wie er wohl die Kirche total ändern könnte. Dann hätten auch die anderen Bischöfe unter der Hand gesagt, das ist toll. Und nun würde man seither von einer verborgenen Agenda beglückt, um die PNT, die „Pfarrei Neuen Typs“, zu installieren gegen den Willen und ohne Wissen der Gläubigen und der Gesamtkirche, analog wohl zu dem gedacht, was man heute beim Gender-Brainwashing auf der politischen Bühne beobachten könne.

Ich finde: Herr Kissler verwechselt hier Ursache und Wirkung. Was meine ich damit?

Der Rückgang bei den Priesterweihen ist – mit wenigen Ausreißern – ein recht linearer Prozess. Die meisten der jetzt tätigen über 70jährigen Priester kennt aus ihrer Zeit wohl noch, dass in jedem Jahr so viele in ihrem Bistum geweiht worden sind wie jetzt in ganz Deutschland (immer ohne Berücksichtigung der Orden).

Dem war vorausgegangen, dass es nach dem Krieg bis zum Beginn der siebziger Jahre eine riesige Menge von Ordens- und Priesterberufungen gegeben hatte. Man hatte auch den binnenkirchlichen Apparat entsprechend aufgebläht mit neuen Bistümern und neuen Stellen.

In den Wirren der Konzilszeit und der 68er-Verunsicherung gab es dann bereits einen ersten gewaltigen Einbruch. Es gibt Weihejahrgänge, in denen finden sich nur noch ganz wenige Priester.

Damals kam – aus unterschiedlicher und meist nicht geäußerter Motivationslage – die Idee der Pastoralassistenten auf. Frauen und Männer, die dieselbe theologische Ausbildung wie Priester haben, sollten in den Pfarreien mitarbeiten. Sicher gehörte Limburg damals schon zu den Vorreitern dieser Entwicklung. Aber es war insgesamt eine Zeit, in der es insgesamt eine massive Verhauptamtlichung der Kirche gab. Das „Professionalisieren“ bzw. Verhauptamtlichen fand in der EKD übrigens mindestens genauso statt, wenn es nicht noch stärker der Fall war.

Schon damals gab es warnende Stimmen, die sagten: 'Leute, passt auf. Kirchenleitung war immer mit der Weihe verknüpft. Jetzt schafft ihr hier Strukturen einer Kirchenleitung, die zwar dem Weiheamt untergeordnet scheinen, aber wofür es eigentlich in der Kirchengeschichte keine Parallele gibt.' Das war jedoch damals für die meisten Kirchenleitungen viel zu praktisch, als dass man den warnenden Stimmen mehr Gehör schenkte, denn schon damals musste der „Priestermangel“ abgefedert werden.

Wie die Entwicklung weiterging, hing jetzt sehr vom Bistum ab, in welchem man tätig war. Von Limburg bis Fulda gab es alle möglichen Nuancen. Ich war Anfang der 90er in Limburg tätig. Da spürte man schon eine gewisse Spannung im Bistum zwischen der „Laienleitung“ im Ordinariat und vielen Priestern. Ich hatte keine extrem tiefen Einblicke in diese Konfliktlage zu Limburg, hatte aber eher den Eindruck, dass sie nicht aufgrund einer starken Agenda und Präsenz des Bischofs erfolgte, sondern eher aufgrund ihres Fehlens; wohl auch wegen einer beim Bischof empfundenen „Alternativlosigkeit“. Hinzu kommt, dass es ja auch sehr viele positive Entwicklungen gab, wie sie sich z.B. auch in der Würzburger Synode geäußert hatten, wo man wieder stärker auf die Charismen im Gottesvolk zurückgreifen wollte. Das schien sich alles zu ergänzen; solange man nicht ansprach, was die Motivationen der Beteiligten für das Mitmachen bei diesem Prozess war; das würde in der Zukunft noch zu großen Frustrationen und Kämpfen führen.

Viele dieser Wege sind aber sicher gegangen worden, weil man die Eintrittszahlen in die Seminare sah. Mancherorts konnte man dann hochrechnen, dass selten mehr geweiht werden als eintreten. Von denen, die das Amt verlassen, mal ganz zu schweigen. Das zugrundeliegende, grundsätzliche Problem und seine nur zum Teil von der Kirche zu beeinflussenden Ursachen rückte damals nicht ins Blickfeld – konnte es vielleicht auch nicht. Ich sah es jedenfalls damals nicht.

Es gibt natürlich viele äußere Gründe, die sind aber anderenorts schon genügend beschrieben worden, wie der Zerfall der Milieus, der gewaltige Umbruch, den die 68er-Zeit mit sich brachte gerade im Verhältnis zu Autoritäten... Das spielt für diese Erörterung an dieser Stelle aber keine Rolle; denn der Einfluss der Kirche darauf ist marginal und oft nicht immer glücklich gewesen.

Heute wird m.E. zu Recht oft die Glaubensverdunstung im Gottesvolk als Hauptursache der Problematik der fehlenden Berufungen gesehen. Immer weniger wird zuhause gebetet, noch seltener betet die Familie gemeinsam. Wo aber Christus nicht mehr als Gegenüber erfahren wird, entleert man auch die Liturgie zum leeren Ritual.

Und hier liegt m.E. die von der Kirche in Deutschland beeinflussbare und in seiner Wirkung wirklich falsch benutzte Stellschraube in dem ganzen Prozess. Die wirkliche innere Ursache der Verdunstung des Glaubens ist m.E. die Überbewertung der Theologie vor dem Gebet, der Reduzierung des Glaubens auf das Glaubens- und Ritualwissen. Wo aber der Glaube schwach wird, wird sein Gegenteil stark, die Angst. Und die regiert mittlerweile auf vielen Ebenen in der Kirche. Es ist, als wäre in der deutschen Kirche der Text zwischen den letzten beiden Kommas in Mk 12,30 verschollen.

Vielleicht zwei Beispielfelder aus der Vergangenheit und Gegenwart, wo sich diese Angst auswirkt. Was sich bei der Ausbildung von Priestern und Pastoralassistenten zumindest damals sehr unterschied, war der Stellenwert der spirituellen Formung.

Während Priesterkandidaten hier normalerweise eine gute oder wenigsten hinreichende Hinführung und Begleitung haben, lag das bei der Ausbildung von Pastoralassistenten oft eher im Ermessen der einzelnen Auszubildenden. Ich weiß nicht genau, ob dieser Mangel heute noch so existiert. Meines Erachtens lag das auch darin begründet, weil man von Seiten der Bistumsleitung eben nicht den Plan hatte, Kirche ganz umzugestalten, sondern weil man im Gegenteil die Pastoralassistenten de facto als Zwischenlösung ansah, bis es halt wieder genügend Priesterberufungen geben würde.

Wenn man aber die spirituelle Komponente in der Ausbildung vergisst und die Einzelnen sich das nicht selber nachträglich erkämpft haben, geschieht es nur zu leicht, dass man auf einmal Kirche mehr und mehr nur als Institution wahrnimmt und nicht mehr als Leib Christi. Da geschieht es auch von selbst mehr und mehr, dass man bei Strukturen aus der Welt Lösungen für kirchliche Fragestellungen sucht und sich mehr und mehr der Welt angleicht; denn es fehlt mittlerweile immer öfter der eigentliche Maßstab für das, was gut integrierbar ist und das, was eher überhaupt nicht passt, die persönliche Beziehung zu Jesus.

Dieser Verweltlichung von Methoden auf der einen Seite steht aber oft eine Ahnungslosigkeit der Entscheidungsträger aufgrund eines „immer weiter so“ auf der anderen Seite gegenüber mit entsprechend verheerenden Auswirkungen. Man sehe sich nur die oft katastrophalen Organisationsstrukturen an, die zu den Beinahe-Crashs mancher Diözesen geführt hatten und die das Problem mit dem verschleiernden Umgang in Orden und Diözesen mit den Missbrauchsfällen überhaupt erst ermöglicht haben. (Ich lasse die anderen wichtigen Aspekte hier außen vor.)

Ein zweites Feld sind die jetzigen Umstrukturierungen der Diözesen. Ich weiß jetzt nicht, ob das überall so katastrophal anlief wie hier in Berlin. Da wurde von einem geistlichen Prozess der Schaffung neuer Strukturen geredet – und in der Tat muss sich hier was tun. Aber wie macht man so was gleich von Anfang an kaputt bzw. bestenfalls zu einer Strukturreform mit religiösem Anstrich? Richtig, indem man am Anfang schon weiß, was hinten rauskommen soll. Im Berliner Fall 30 Pfarreien.

Auch hier ist es wieder die Angst, die das eigentliche Problem darstellt. Wenn ich wirklich einen geistlichen Prozess will – und das bräuchten wir dringend – dann müsste man doch offen genug sein, mit Gebet und Hören auf Gott anzufangen, dann muss ich doch auch dem Heiligen Geist zutrauen, nicht nur in mir auf ein hörendes Herz zu treffen; Hören meint, das Wahrnehmen des dreifachen Wortes Gottes in der Schrift, im Gebet und in der Lebenswelt der Menschen unserer Kirche. Da kann ich nicht am Anfang schon wissen, wohin Gott lenken wird. Aber jetzt wird wieder etwas rauskommen, wozu man das Kirchenrecht nicht ändern muss – aus Angst davor, was Rom oder auch die anderen sagen könnten. Was wird das Ergebnis sein? 30 Pfarreien, wo auch wieder der Pfarrer in allem das letzte Wort hat, genau wie das Kirchenrecht es vorsieht – ohne Rücksicht darauf, dass damals eine Pfarrei von der Komplexität und Größe etwas anderes war als heute.

Und hier wirkt sich dann die Angst der Leitung auf die Berufung des Einzelnen aus. Wenn ich als junger Mann heute eine Berufung zum Priestertum verspüre, würde ich es mir wahrscheinlich trotzdem dreimal überlegen, dem auch nachzukommen oder auf einen Orden ausweichen, ohne wirklich dazu berufen zu sein. Denn ich bin heute als Priester nicht mehr zuerst als Seelsorger gefragt; ich werde in Berlin in zwanzig Jahren eine von dreißig Pfarreien leiten müssen, die katholikenmäßig (Berlin Stadt) oder flächenmäßig (Umgebung) doppelt manchmal dreimal so groß ist wie das Bistum Görlitz.

Ich habe in meiner Jugend noch Priester erlebt, die Zeit hatten für die Seelsorge. Ein Pfarrer war nur für 5.000 Gläubige zuständig und hatte auch noch zwei Kapläne und eine Seelsorgehelferin. Aber auch damals mussten sie schon ziemlich rumgurken, um alle Außenstellen zu besuchen. Es gab aber auch schon damals Lösungsansätze dafür. Mit Pfarreigrößen von angepeilten 50.000 Gläubigen wird das zunehmen ein Problem, zumal der Pfarrer ja auch oft Arbeitgeber ist, was auch kein konstitutiver Teil der Priesterausbildung ist.

Ich glaube nicht, dass die Berufungen heute so viel seltener sind als früher. Ich glaube auch nicht, dass der Zölibat oder all die anderen „modernen Probleme“ in der veröffentlichten Meinung wirklich die Probleme der Kirche sind. Aber ich glaube eben auch nicht, dass eine geheime Agenda der deutschen Bischöfe zur Zerstörung der alten Kirchenstrukturen dahinter steckt. Alle Bischöfe, denen ich bisher begegnen durfte, auch die, die unglückliche Entscheidungen getroffen haben, habe ich erlebt als Menschen, die die Kirche wirklich lieben und ihr Bestes wollen.

Wenn man den deutschen Bischöfen in der Vergangenheit etwas vorwerfen will, dann meines Erachtens höchstens ein zu großes Vertrauen in die liebgewordenen Strukturen, die manchmal nicht mehr offen waren für die Frage nach Gottes Willen aus Sorge davor, dass alles den Bach runtergeht oder vor einer möglichen Verletzung des Kirchenrechts oder davor, was Rom denken könnte. Diese Angstgetriebenheit aber gilt nicht nur für die Bischöfe in Deutschland.

Symbolbild: Allein zum Gebet in einer Kirche



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