Marsch für das Leben 2016: Lieben und leben bis es wehtut

20. September 2016 in Kommentar


„Durch die Teilnahme der fünf katholischen Bischöfe schöpfen viele Christen wieder Hoffnung, dass die öffentliche Debatte zum Lebensschutz künftig nicht mehr so schnell durch die Stigmatisierung der Lebensschützer erschwert wird.“ Von Rudolf Gehrig


Berlin (kath.net/rg) Als der Himmel am Vormittag des 17. September 2016 seine Schleusen öffnete, dachten viele, das Wasser sei nur ein leiser Vorgeschmack auf das, was später noch auf sie herabregnen werde. Vor dem Reichstag in Berlin, einem historischen Ort, an dem schon viele Debatten über Leben und Tod stattgefunden haben, hatten sich tausende Lebensschützer aus ganz Deutschland versammelt, um für das uneingeschränkte Lebensrecht eines jeden Menschen zu demonstrieren, für das Recht auf Leben von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod. Der „Marsch fürs Leben“, der dieses Jahr schon zum 12. Mal stattfand, zeigte auch an jenem Samstag aufs Neue, dass Themen wie „Abtreibung“, „Selektion“ oder „Sterbehilfe“ die Menschen nicht kaltlassen. Und dass sich etwas tut in Deutschland.

Bereits im Vorfeld hatten diverse Gruppierungen aus dem linken und linksextremistischen Spektrum angekündigt, die angemeldete Kundgebung vor dem Reichstag mit anschließendem Schweigemarsch mit gezielten Aktionen zu stören. Gerüchte machten die Runde, dass Gegner des Lebensschutzes unter dem Motto „Codename: Kot“ planten, sich unter die Lebensschützer zu mischen, um diese mit Stinkbomben, faulen Eiern oder Schlimmeren zu attackieren. Eine Internetseite gab konkrete Tipps zur Herstellung bestimmter Substanzen, erklärte auch, wie man diese auf Demonstranten schleudern könne, ohne sich strafbar zu machen, und erweckte insgesamt den Anschein, dass den Teilnehmern des Marsches eine übergroße Anzahl an Gegnern gegenüberstehen werde, die zu allem bereit sind. Doch es sollte ganz anders kommen.

Erst Regen, dann Sonne

Als die ersten Teilnehmer des Marsches auf den Platz vor dem Reichstag strömen, sind die Helfer des Bundesverbandes Lebensrecht (BVL) bereits nass bis auf die Socken. Sie waren schon seit einigen Stunden vor Ort, um den Bühnenaufbau zu unterstützen, Ordner einzuweisen und um die charakteristischen grün-weißen Schilder zu verteilen. Doch es regnet wie aus Kübeln. „Ich habe extra Wechselklamotten mitgenommen“, lacht ein Helfer, „aber die waren eigentlich für später gedacht, wenn die faulen Eier und das ganze andere Zeugs auf uns geworfen wird.“ Ein anderer hat sich eine grüne Weste übergestreift, er hat sich freiwillig als Ordner gemeldet. „Wir haben eine kurze Schulung verpasst bekommen“, sagt er, „wir sollen halt bisschen aufpassen und, wenn es irgendwo eskaliert, die Polizei holen. Aber die beschützen uns eigentlich immer ganz gut, Demonstrationen sind die in Berlin ja gewohnt.“

Trotzdem ist diese Demonstration irgendwie anders. Viele junge Familien machen sich am Hauptbahnhof auf dem Weg zum Reichstag, einige schieben einen Kinderwagen, der pflichtbewusst mit einem Regenschutz abgedeckt ist. Aber auch viele ältere Menschen sind dabei, eine fröhlich schnatternde Rentnergruppe packt die Regencapes aus, während ein paar Jugendliche ihre Regenschirme über sie ausbreiten. Allein die „Jugend für das Leben“ kam mit zwei Busladungen junger Menschen nach Berlin, ein Bus startete in Köln, der andere in München. Auch andere Gruppen haben Busreisen organisiert, unter anderem auch die „Jugend 2000“. Die katholische Jugendbewegung startete Freitagnacht in Augsburg, mit an Bord Weihbischof Florian Wörner. Die Nacht habe er im Bus verbracht, erzählt er, deshalb sei er immer noch etwas müde. Im Interview mit dem katholischen Fernsehsender EWTN berichtet er von seiner Motivation: „Mir geht’s darum, die zu unterstützen, denen den Rücken zu stärken, die das schon seit Jahren tun, hier beim Marsch fürs Leben Zeugnis zu geben für den Schutz des menschlichen Lebens.“ Dass einige über das Leben von wehrlosen Mitmenschen bestimmen wollen, ist für Florian Wörner ein großes Unrecht: „Wer gibt uns das Recht zu entscheiden, wer das Recht auf Leben hat und wer nicht?“

„Argumente statt Exkremente!“

„Diese Botschaft geht alle an“, ruft der Vorsitzende des BVL, Martin Lohmann, und betont, dass der Lebensschutz alle Menschen über die Glaubensgrenzen hinweg beträfe. Dennoch sind die meisten Teilnehmer des Marsches Christen. Obwohl die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz den Marsch boykottiert und ihre Gläubigen dazu aufruft, nicht daran teilzunehmen, sind zahlreiche protestantische Gruppen, sowie anglikanische Geistliche vertreten. Von katholischer Seite nehmen in diesem Jahr neben Weihbischof Florian Wörner aus Augsburg auch der Berliner Weihbischof Matthias Heinrich und Kölns Weihbischof Dominikus Schwaderlapp teil. Ein besonderes Signal ist zudem die Teilnahme des Regensburger Bischofs Rudolf Voderholzer und die des Gastgebers Heiner Koch, seines Zeichens Erzbischof von Berlin.

Als Martin Lohmann gegen 13.30 Uhr auf die Bühne tritt, blickt er in ein Meer von fröhlichen Gesichtern. Mehrere tausend Menschen haben sich mittlerweile eingefunden, der Regen hat zehn Minuten vor Beginn der Veranstaltung einfach aufgehört. „Verantwortung statt Abtreibung“ steht auf den Transparenten, oder „Inklusion beginnt vor der Geburt“. Parteibanner sucht man vergebens. „Der Lebensschutz ist überparteilich und eigentlich ganz normal“, betont Lohmann. „Das Leben will und braucht Mut. Mut, Verantwortung zu übernehmen.“ Und: „Der Embryo, das kleine Kind, der soeben zu wachsen beginnende Mensch im Mutterleib, ist kein Ding, keine Sache, kein Produkt. Er ist ein Mensch und er hat ein Recht auf Leben.“ Während einige Gegendemonstranten nebenan hinter der Polizeiabsperrung mit Trillerpfeifen und lauten Zwischenrufen versuchen, die Veranstaltung zu stören, unterstreicht Lohmann noch einmal die Wichtigkeit der freundlichen, sachlichen Auseinandersetzung. „Deshalb brauchen wir in unserer Gesellschaft auch den Mut zum fairen Dialog mit Argumenten. Nicht mit Exkrementen!“

Freude über Teilnahme der Bischöfe

Es folgt ein buntes Bühnenprogramm, in dem sich verschiedene Vertreter der Lebensrechtbewegung zu Wort melden. Besonders berührend sind dabei die Zeugnisse einer Frau, die abgetrieben und mit schweren Schuldgefühlen zu kämpfen hatte, sowie die Erfahrungen eines Kinderarztes, der von seiner Arbeit mit behinderten Kindern berichtete. Mit einem „herzlichen bayrischen ‚Grüß Gott!‘“ betritt Bischof Rudolf Voderholzer die Bühne und ermutigt alle Teilnehmer, weiter für das bedrohte Leben zu kämpfen („Als Christen sind wir besondere Lobbyisten für das Leben, weil wir an den Schöpfergott glauben“), bis schließlich auch Erzbischof Heiner Koch sein Grußwort spricht. In Berlin kenne man sich mit Vielfalt aus, bemerkt Koch und fügt an, dass von dieser Vielfalt jedoch alle Menschen zu jedem Zeitpunkt profitieren sollten, vom ersten Augenblick im Mutterschoß bis zum letzten Atemzug.

Fragt man bei den Demonstranten nach, so spürt man ihre Freude über den bischöflichen Zuspruch. Gerade bei Christen war in den Jahren zuvor eine gewisse Frustration darüber spürbar, dass sie vonseiten der offiziellen Kirche nicht beachtet, unterstützt oder teilweise sogar ins rechte Eck gestellt wurden. Hartmut Steeb, Vorsitzender der Evangelischen Allianz und jährlicher Dauergast beim Marsch fürs Leben, übte deshalb erst vor wenigen Wochen im Nachrichtenmagazin „idea“ scharfe Kritik an der Berliner Landeskirche. Doch durch die Teilnahme der Bischöfe schöpfen viele Christen wieder Hoffnung, dass die öffentliche Debatte zum Lebensschutz künftig nicht mehr so schnell durch die Stigmatisierung der Lebensschützer als „rechte FundamentalistInnen“ erschwert wird.

„Hätt‘ Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben…“

Die Gegendemonstranten der „Allianz für Sexuelle Selbstbestimmung“ beeindruckt das freilich nicht. Unterstützt von der Partei der Grünen, der Linkspartei sowie von einigen Vertretern der SPD (unter ihnen auch der Regierende Bürgermeister von Berlin, Michael Müller) stellt man sich den Demonstranten in den Weg. Als sich der Marsch in Bewegung setzt, muss die Polizei einige Sitzblockaden auflösen, hier und da versuchen ein paar Störer sich unter die Teilnehmer zu mischen, um ihnen die weißen Kreuze zu entreißen, die an die getöteten Kinder im Mutterleib erinnern sollen. Dazu erschallen aus dutzenden Kehlen die immer gleichen Gassenhauer der Abtreibungsbefürworter, die Evergreens der sogenannten Pro-Choice-Bewegung, die schon seit Jahrzehnten den Lebensschützern entgegengebrüllt werden. Besonders beliebt sind rhythmische Sprechchöre wie „Mittelalter, Mittelalter!“, „Fundamentalismus raus aus den Köpfen“ oder, ganz multilingual: „My body, my choice, raise your voice!“ Allerdings hat das Land Goethes und Schillers auch einige Nachwuchsdichter zu bieten, die die Teilnehmer des Marsches mit Knaller-Versen wie „Wir sind die Perversen, wir sind euch auf den Fersen“ oder „Hätt‘ Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben“ zu beeindrucken versuchen. Doch insgesamt bleibt der Marsch friedlich. Die befürchteten Ausschreitungen und Attacken bleiben aus. „Vielleicht kommen die langsam mal zum Nachdenken“, meint ein Familienvater und schmunzelt: „Oder sie haben sich vormittags schon auf der Demo gegen TTIP verausgabt.“

Vor dem Abschlussgottesdienst, der in ökumenischer Eintracht vor dem Reichstagsgebäude abgehalten wird, verteilen Helfer Getränke und Brezeln an die Teilnehmer. Die meisten sind ziemlich erschöpft, aber hochzufrieden. Viele haben große Strapazen auf sich genommen, um dem Lebensschutz hier in Berlin ein fröhliches Gesicht zu geben. Aber reicht das, um irgendetwas zu bewegen? Martin Lohmann ist fest davon überzeugt. 7.500 Teilnehmer hat der Veranstalter gezählt. „Unsere Bewegung für das Leben wächst weiter und das ist gut so“, sagt er. Lange könne die Regierung nicht mehr wegsehen, außerdem zeige die wachsende Teilnehmerzahl, dass das Bewusstsein für das uneingeschränkte Lebensrecht in der Gesellschaft stärker wird. Gemeinsam wurde außerdem an diesem Tag die Berliner Erklärung verabschiedet, welche die Politik zu einem konsequenteren Schutz des menschlichen Lebens auffordert und dabei unter anderem konkrete Maßnahmen wie die Streichung von steuerlichen Fördermitteln für Abtreibungen benennt. Die Berliner Erklärung kann man mittlerweile hier nachlesen.

War’s das?

Am Ende des Tages packt Lohmann seine Sachen zusammen. Seine Helfer und Mitstreiter sammeln die Schilder und Kreuze wieder ein, räumen sie in den Lastwagen. Die meisten fahren noch am selben Abend wieder nachhause. Auf sie wartet der ganz normale Alltag, mit all seinen Kämpfen, den großen und den kleinen. Und der Kampf für Lebensschutz? Wird der ebenfalls im Lastwagen verstaut, um im September 2017 beim nächsten Marsch fürs Leben für einen Tag wieder hervorgeholt zu werden?

Auch für Weihbischof Dominikus Schwaderlapp geht es wieder heim, zurück ins Erzbistum Köln. Er weiß: „Das Zeugnis für das Leben beginnt im Alltäglichen: Wie wir miteinander umgehen, wie wir einander achten, wie wir einander in Liebe begegnen.“ Und dann verweist er auf eine Frau, die sich Zeit ihres Lebens für den Lebensschutz engagiert hat und kürzlich von Papst Franziskus heiliggesprochen wurde: „So wie es Mutter Teresa gesagt hat: ‚Lieben bis es wehtut.‘“

Zum Vormerken: Der nächste Marsch fürs Leben findet am 16. September 2017 statt. Der Bundesverband Lebensrecht lädt alle Teilnehmer des diesjährigen Marsches dazu ein, im nächsten Jahr wieder zu kommen und am besten noch weitere Freunde mitzubringen. Infos zur Teilnahme oder zu organisierten Busfahrten nach Berlin erhalten Sie bei der Geschäftsstelle des BVL unter der Telefonnummer 030 – 644 940 39 oder per Email an [email protected]

EWTN-Reporter Rudolf Gehrig interviewte während des "Marsch für das Leben" 2016 mehrere der teilnehmenden Bischöfe:

Bischof Rudolf Voderholzer/Regensburg


Weihbischof Dominikus Schwaderlapp/Köln


Weihbischof Florian Wörner/Augsburg


Foto: Eröffnung des Marsch für das Leben 2016


Foto oben (c) Rudolf Gehrig


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