Merkel muss die Versäumnisse von Jahrzehnten ausbaden

21. September 2016 in Deutschland


Das Problem der Integrationspolitik ist schon viel älter. Kommentar von Prof. Gerhard Besier (idea)


Berlin (kath.net/idea)
Bundeskanzlerin Angela Merkel räumte auf einer Pressekonferenz in Berlin Fehler in der Flüchtlingspolitik ein. Wenn sie könnte, würde sie die Zeit zurückdrehen. Doch das Problem der Integrationspolitik ist schon viel älter. Dazu ein Kommentar von Prof. Gerhard Besier.

„Wenn ich könnte, würde ich die Zeit um viele, viele Jahre zurückspulen, um mich mit der ganzen Bundesregierung und allen Verantwortungsträgern besser vorbereiten zu können …“, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am 19. September Dieses Mal hat sie recht – mehr als ihr wohl selbst bewusst ist. Denn wir müssen bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zurückgehen, wenn wir die unbedachten Weichenstellungen in der Zuwanderungspolitik nach Deutschland angemessen analysieren wollen.

Ein Menetekel verfehlter Zuwanderung

In diesem Herbst finden überall in Europa Wissenschaftlerkonferenzen statt, die über die europäischen Krisen nachdenken und Lösungsvorschläge erarbeiten wollen. Als ich im nordfinnischen Oulu die deutsche Situation nach dem September 2015 und ihre politischen Folgen erörterte, meldete sich ein Kollege aus Israel zu Wort und sagte die Schlüsselsätze: „Das alles hättet ihr doch wissen können. Euch ist es doch nicht einmal gelungen, die türkischen Gastarbeiterfamilien bis in die dritte Generation hinein zu integrieren.“ Der Satz schlug ein wie eine Bombe, denn in den nordischen Ländern pflegt man Wahrheiten – aus Rücksicht auf die Betroffenen – nicht so klar zu formulieren. Die wenigen anwesenden Deutschen dachten unwillkürlich an Berlin, Frankfurt am Main und andere Großstädte, in denen sich Parallelgesellschaften längst etabliert und von der Mehrheitsgesellschaft selbst isoliert haben. Für Touristen und Linksintellektuelle mögen diese Klein-Ankaras eine Attraktion und der Ausweis einer offenen Gesellschaft sein. In Wirklichkeit aber sind sie ein Menetekel verfehlter Zuwanderung. Anstatt – wie etwa in Dänemark – auf Integration zu drängen, die neu Hinzugezogenen in Sprachen- und Kulturkurse zu nötigen, hat man die preisgünstigste Lösung gewählt und die oft aus ländlichen Gebieten Stammenden weitgehend sich selbst überlassen. Damit wählte man gewissermaßen die US-amerikanische Segmentierung der Gesellschaft – sogar ohne das dort gepflegte patriotische Pathos, das in den USA immerhin so etwas wie eine Klammer bildet.

Keine guten Ausgangsbedingungen für ein Zusammenleben

Was Wunder, dass die Alleingelassenen ihre heimischen Verhältnisse reproduzierten? Wie bei ihnen zu Hause entwickelten sich die Moscheen – zunächst in stillgelegten Industrieruinen untergebracht – zu sozialen Drehscheiben des Zusammenlebens. Hier wurden Hochzeiten vereinbart, Streitigkeiten geschlichtet und Konvertiten herangezogen. Hier lernten deutsche Frauen, die sich – aus welchen Gründen auch immer – zum Islam bekehrt hatten, ihre zukünftigen Männer kennen und verschafften nicht wenigen vormals illegal Eingereisten eine Aufenthaltsgenehmigung. Die Neuankömmlinge erhielten kaum Einblick in die ihnen fremde deutsche Kultur. Für sie waren die Einheimischen schlicht „Ungläubige“ mit einer dekadenten Lebensweise, aber einer blühenden Wirtschaft. Von Ersterer hatten sie sich fernzuhalten, von Letzterer wollten sie einfach nur profitieren. Das waren keine guten Ausgangsbedingungen für ein gelungenes Zusammenleben.

Die Kirchen spielen die Unterschiede herunter

Und die Kirchen hatten vor nichts mehr Angst als davor, dass man ihre stets toleranten Gesprächsangebote auf Augenhöhe als Missionsofferten missverstehen könnte. Darum spielten sie die grundlegenden Unterschiede zwischen Islam und Christentum ständig herunter, redeten immer von den „drei Weltreligionen“ und machten ihr eigenes Bekenntnis so klein wie irgend möglich. Strahlkraft hatte dieses Verhalten nicht. Vielmehr nahmen die Zugewanderten das Christentum als eine schwache, sterbende Religion wahr und hielten sich weiter an die mitgebrachten Lebensregeln.

Für viele Moslems spielt die standesamtliche Hochzeit keine Rolle. Entscheidend ist die vom Imam in der Moschee vollzogene Trauung. Nur wirklich vermögende moslemische Männer können sich in ihren Heimatländern die von ihrer Religion und den dortigen Gesetzen zugestandenen vier Ehefrauen leisten. Denn in jenen Staaten besteht der Grundsatz, dass auch die polygam Lebenden für ihre Mehrfachfamilien selbst sorgen müssen. In West- und Nordeuropa ist das anders. Alleinerziehende, offiziell ledige Frauen, die kaum eine Chance auf Beschäftigung haben, versorgt der Sozialstaat.

Weil es so bequem war …

Der demokratische Rechtsstaat wollte oder konnte diesen und anderen missbräuchlichen Nutzungen seines sozialen Netzes nicht Einhalt gebieten. Nur halbherzig begegnete er über Jahrzehnte der Schwarzarbeit wie anderer krimineller Delikte, und aus tausenderlei Gründen wurden auch mögliche Abschiebungen oft nicht vollzogen. Die deutsche Gesellschaft konzentrierte sich auf die Mehrung ihres Wohlstandes und versäumte es, angesichts der neuen Verhältnisse das Rechtssystem nachzujustieren. Man hatte in den 68ern vor allem mit sich selbst zu tun. Zwar verstörten die Nachrichten von Ehrenmorden, des Deutschen völlig unkundige, wie Haustiere gehaltene Frauen und Zwangsverheiratungen minderjähriger Mädchen viele Deutsche. Aber die Menschen brachten nicht die Kraft auf, nachdrücklich auf die Einführung neuer staatlicher Regulierungsmechanismen zu dringen. Es blieb alles beim Alten, weil es so bequem war. Aber nicht nur das.

Das Problem ist so viel älter

Deutschland ist schon seit den 60er Jahren kein homogenes Land mehr. Aber darüber hat es keine öffentliche Debatte gegeben, weil die Deutschen sich wegen ihrer Verbrechen während der nationalsozialistischen Zeit schuldig fühlten und auch befürchteten, man halte sie für Ewiggestrige oder gar für Rechtsextreme. Alle diese stillschweigenden Tabus sollten erst mit den Flüchtlingswellen von 2015 weggespült werden. Zu Unrecht wird daher allein Merkel für die unglückliche Entwicklung verantwortlich gemacht. Sie steht in einer ganzen Reihe christ- und sozialdemokratischer Bundeskanzler, meinte, in den 90er Jahren ihre Lektion gelernt zu haben, und hat einfach in deren Tradition weitergemacht. Jetzt muss sie ausbaden, was seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts versäumt wurde – eine reflektierte und entschlossene Integrationspolitik. Immerhin hat die Bundeskanzlerin „ihren Anteil“ an der Misere endlich eingeräumt. Von den beiden großen Kirchen mit ihrem riesigen gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch werden wir solche Eingeständnisse wohl nie hören.

Der Autor, Gerhard Besier (Dresden), ist habilitierter evangelischer Theologe, promovierter Historiker und Diplom-Psychologe. Er lehrt an verschiedenen europäischen Universitäten und an der Stanford-Universität in Kalifornien.


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