Darf man Menschenleben opfern?

27. Oktober 2016 in Kommentar


Pro und Kontra (idea) - ARD-Film „Terror“ sorgte vergangene Woche für viel Gesprächsstoff: Entführer drohten, Lufthansa-Maschine auf das mit 70.000 Menschen voll besetzte Fußballstadion in München zu stürzen, Bundeswehrpilot schießt die Maschine ab.


Wetzlar (kath.net/idea) Der ARD-Film „Terror“ sorgte vergangene Woche für viel Gesprächsstoff. Eine Lufthansa-Maschine mit 164 Passagieren befindet sich in den Händen von Terroristen. Die Entführer drohen, die Maschine auf das mit 70.000 Menschen voll besetzte Fußballstadion in München zu stürzen. Ein Bundeswehrpilot schießt den Airbus ab. Darf man ein Menschenleben für ein anderes opfern?

PRO
Wenn ein islamistischer Terrorist eine Passagiermaschine in seiner Macht hat und er von einem mörderischen Vorhaben nicht abzubringen ist, wenn sich auch zeigt, dass die Passagiere den Terroristen nicht ausschalten können, ist das Flugzeug eine Terrorwaffe und abzuschießen. Die Passagiere sind elenderweise nicht zu rettende Opfer eines Mörders. Weitere Opfer sind unbedingt zu vermeiden. Dabei ist es belanglos, ob es 70.000 sind oder 7. Schon ein Mensch ist zu viel. Menschenzahl gegen Menschenzahl ist nicht aufrechenbar. Da hat das Bundesverfassungsgericht recht. Der Film versucht mit den 70.000 eine Berechtigung der Tötung von 164 Menschen plausibel zu machen. Das ist konstruierter Unsinn. Der Abschuss eines von einem islamistischen Terroristen oder einem Wahnsinnigen zum Mordinstrument umfunktionierten Passagierflugzeuges und die durch den Abschuss geschehende vorgezogene Tötung dieser einmaligen Geschöpfe Gottes muss geschehen, um weitere Opfer zu verhindern. Der die tödliche Rakete abschießende Pilot hat an der Tötung der Passagiere nur insofern Anteil, als er deren nicht zu verhindernde Ermordung – um weitere Opfer zu vermeiden – zeitlich früher geschehen lässt. Dies ist die Pflicht des Piloten. Der Mörder ist der islamistische Terrorist.

Man muss im Übrigen immer damit rechnen, dass die Verhältnisse in solch einer Situation viel komplizierter sind als im Film dargestellt. Dem Piloten, der die Rakete abschießen musste, wird sich freilich das Herz verkrampfen, wenn er sich klarmacht, wer da alles sein Leben verlor. Es kann angemessen sein, dass er mit Gott hadert, der ihn und die Opfer in solch eine Situation gebracht hat. Es wird gut sein, wenn er etwas weiß von unserer Beheimatung im gekreuzigten und auferstandenen Christus.

Der Autor, Horst Hirschler, ist Abt des evangelischen Klosters Loccum. Von 1988 bis 1999 war er Landesbischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers.

KONTRA
Nein, man darf keine Menschenleben opfern! Der Tod Jesu ist das letztgültige Opfer: ein Opfer Gottes für seine Menschenkinder.

„Du sollst nicht töten“ ist das kürzeste Gebot. Es steht unumstößlich fest. Und es ist ausgesprochen gegen jede Form des Tötens. Jesus radikalisiert dieses Gebot sogar noch. Bei Johannes Calvin (1509–1564) finde ich die Auslegung, dass es in diesem Gebot darum geht, „getreulich alles zu tun, was in unserer Macht steht, um das Leben (!) unseres Nächsten zu schützen, alles daranzusetzen, um ihm zum Wohlergehen zu verhelfen und Schaden von ihm abzuwenden“. Aber während ich das „Kontra“ schreibe, meldet das Radio: Die Terrormiliz IS hat in Mossul erneut ein Massaker verübt. 284 junge Männer wurden exekutiert. Die Leichen warf man in ein Massengrab. Gleichzeitig berichtet der Verbund der Hilfsorganisationen, darunter die „Diakonie Katastrophenhilfe“, dass in Syrien die traumatisierten Kinder leiden. Mehrere von ihnen haben allen Lebensmut verloren. Ihr Los sind bitterste Depressionen. Sie leben am Rande der Selbsttötung, die einige von ihnen auch vollziehen.

Für alle gilt das Gebot „Du sollst nicht töten“. Aber wir haben es nicht im Griff. Was sollten wir denn einem UNO-Soldaten oder einem „Bürger in Uniform“ der Bundeswehr sagen: „Du musst unbedingt töten!“ oder „Du darfst keinesfalls töten!“? Beide Sätze werden uns im Mund zu Asche. Und so bleibt nur noch – aber was heißt hier „nur noch“? – das von Gott erhaltene Gewissen. Es lässt erkennen: Es geht nicht ohne große Schuld, wenn Menschen getötet werden. Sie betrifft zuerst die Akteure, macht aber auch nicht halt vor meinem Schreibtisch. So bin ich hineingenommen in die dunkle Gemeinschaft der Handelnden. Sie halten das Tötungsverbot, indem sie es nicht halten.

Der Autor, Prof. Rolf Wischnath (Gütersloh), war Generalsuperintendent in Cottbus (Brandenburg). Er lehrt Theologie an den Universitäten Paderborn und Bielefeld.


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