Vom fehlenden Gott zu Papst Franziskus: Martin Walser wird 90

22. März 2017 in Kultur


Wiener Theologe Jan-Heiner Tück würdigt Walser zum 90. Geburtstag: "Er erinnert Theologie und Gesellschaft gleichermaßen an die schmerzhafte Leere, die der nicht mehr geglaubte Gott hinterlässt" - Von Henning Klingen


Wien (kath.net/KAP) Im Alter werden selbst harte Knochen alt und fromm. Diesen Eindruck könnte man bekommen, wenn man die letzten Passagen von Martin Walsers (Archivfoto) jüngstem Buch "Statt etwas oder Der letzte Rank" liest, in denen der Autor, der am 24. März seinen 90. Geburtstag feiert, über Versöhnung und Vergebung schreibt und dabei die Vokabel der Barmherzigkeit wie eine dunkle Perle zum Leuchten bringt. Unter den Großwörtern der Geistesgeschichte sei Barmherzigkeit eines der größten, da sie eine Zuwendung zum Menschen verspricht ohne jede Vorleistung - gleichsam als Ausweg aus dem von Walser immer wieder attestierten "Reizklima des Rechthabenmüssens". Ein Fall von Altersmilde? Eine still nickende Form der Zustimmung zum Pontifikat von Papst Franziskus gar, das sich ganz der Barmherzigkeit verschrieben hat?

Tatsächlich sei diese Passage am Ende des aktuellen und vielleicht letzten Walser-Romans eine beachtliche, attestiert der Wiener Theologe und Literatur-Experte Jan-Heiner Tück. "Mit großem Wohlwollen nimmt Walser hier den Begriff der Barmherzigkeit als eine Art Gegenprogramm zu einer weit verbreiteten Kultur der Teilnahmslosigkeit auf", so Tück im Gespräch mit "Kathpress". Und wenn es im letzten Abschnitt heiße, dass der Protagonist nichts mehr wissen wolle "von den Quartieren, in denen das Rechthaben blüht", so lese sich dies fast wie eine Art spätes Glaubensbekenntnis.

Frühe religiöse Impulse

Doch tatsächlich seien im Werk Walsers schon früh religiöse, ja, theologische Motive präsent, weiß Tück zu berichten. So verweist Tück etwa auf die Dankesrede Walsers zur Verleihung des Büchner-Preises 1981. Darin habe Walser die Spur des abwesenden, ja, fehlenden Gottes bereits klar zum Ausdruck gebracht. Statt gelangweilt zuzuschauen, "wie Gott in den Laboratorien der Theologie zerbröselt wird", gelte es den Leere-Schrecken Georg Büchners neu ernst zu nehmen. Walser zitiert die berühmte Formulierung aus "Dantons Tod": "Warum leide ich? Das ist der Fels des Atheismus." Gott sei gestorben, weil der Schrei der Elenden so oft resonanzlos verhallt sei. Die Frage der Theodizee ist demnach der zentrale Impuls der Gottesverstörung - zugleich aber auch jener Impuls, der gegen eine weit verbreitete "Kultur der Teilnahmslosigkeit" ins Felde zu führen sei, so Walser damals.

Aufsehen erregte schließlich Walsers Essay "Über Rechtfertigung, eine Versuchung" von 2012. Auch darin habe Walser das Motiv des fehlenden und zugleich vermissten Gottes artikuliert und damit einen "Phantomschmerz artikuliert, den viele kennen, aber nur wenige aussprechen", so Tück: "Es fehlt etwas, wenn die Rede von Gott wegbricht oder gesellschaftlich tabuisiert wird." Und bereits in diesem Essay finde sich als Ausweg aus dem "Reizklima des Rechthabensmüssens" jene Figur der Gnade, die Walser in seinem Spätwerk weiter umkreist habe - etwa, wenn er den Gedanken formuliert, was wäre, wenn es jemanden gäbe, der den Menschen gnädig ansehe, der ihn annehme ohne jede Vorleistung, aus reiner Gnade? "Walser erinnert somit Theologie und Gesellschaft gleichermaßen an die schmerzhafte Leere, die der nicht mehr geglaubte Gott hinterlässt", so Tück.

Schaler Beigeschmack

Zugleich verweist der Wiener Dogmatiker, der aktuell eine viel beachtete eigene "Poetik-Dozentur" zum Thema Literatur und Religion an der Universität Wien initiiert hat, auf die Zwiespältigkeit im Blick auf Walsers kulturpolitische Aussagen. So hatte Walser bei seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 einen Eklat ausgelöst, als er formulierte: "Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung. Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets [...]."

Auch Walsers Stellungnahmen zum Holocaust-Mahnmal in Berlin, welches er einmal als "Kranzabwurfstelle" bezeichnete, sowie seine an den Sprachgebrauch der Neuen Rechten erinnernde Wortwahl würden einen "schalen Beigeschmack" hinterlassen, so Tück. Zwar habe Walser seine Ausführungen in der Frankfurter Paulskirche später partiell zurückgenommen, die Frage stehe jedoch im Raum, in wieweit gerade Walsers frühes Auftreten gegen eine "Kultur der Teilnahmslosigkeit" sich mit seinen Auslassungen gegen die deutsche Erinnerungskultur vertrage.

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