Gott am Kreuz

7. April 2017 in Spirituelles


Der letztes Jahr gestorbene jüdische Schriftsteller Elie Wiesel war während der Zeit des Nationalsozialismus als Jugendlicher zusammen mit seinem Vater im KZ Buna inhaftiert. Von Bischof Heinz Josef Algermissen


Fulda (kath.net/pbf) Der Anfang Juli letzten Jahres gestorbene jüdische Schriftsteller Elie Wiesel war während der Zeit des Nationalsozialismus als Jugendlicher zusammen mit seinem Vater im KZ Buna inhaftiert. In seiner Erzählung „Die Nacht“ schreibt er sich folgendes Erlebnis in diesem Lager von der Seele:

Eines Tages flog die Elektrozentrale von Buna in die Luft. An Ort und Stelle gerufen, schloss die Gestapo auf Sabotage. Man fand eine Fährte, die in den Block des holländischen Oberkapos führte. Dort entdeckte man nach einer Durchsuchung eine Menge Waffen. Der Oberkapo wurde auf der Stelle festgenommen und wochenlang gefoltert. Umsonst. Er gab keinen Namen preis, wurde nach Auschwitz überführt und war fortan verschollen. Aber sein Gehilfe im Kindesalter blieb im Lager. Gleichfalls gefoltert, blieb auch er stumm. Die SS verurteilte ihn daher zusammen mit zwei anderen Häftlingen zum Tode.

„Als wir eines Tages von der Arbeit zurückkamen, sahen wir auf dem Appellplatz drei Galgen. Ringsum die SS mit drohenden Maschinenpistolen, die übliche Zeremonie. Drei gefesselte Todeskandidaten, darunter der kleine Junge. Die SS schien besorgter, beunruhigter als gewöhnlich: Ein Kind vor Tausenden von Zuschauern zu hängen, war keine Kleinigkeit. Der Lagerchef verlas das Urteil. Alle Augen waren auf das Kind gerichtet. Es war aschfahl, aber fast ruhig und biss sich auf die Lippen. Der Schatten des Galgens bedeckte es ganz.

Die drei Verurteilten stiegen zusammen auf ihre Stühle. Drei Hälse wurden zu gleicher Zeit in die Schlingen eingeführt: „Es lebe die Freiheit!“ riefen die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg.

„Wo ist Gott, wo ist er?“ fragte jemand hinter mir. Auf Zeichen des Lagerchefs kippten die Stühle unter dem Galgen um. Absolutes Schweigen herrschte im ganzen Lager. Am Horizont ging die Sonne unter.

„Mützen ab!“ brüllte der Lagerchef. Seine Stimme klang heiser. Wir weinten. „Mützen auf!“ Dann begann der befohlene Vorbeimarsch. Die beiden Erwachsenen lebten nicht mehr. Ihre geschwollenen Zungen hingen bläulich heraus. Aber der dritte Strick hing nicht reglos: Der Junge lebte noch…

Mehr als eine halbe Stunde hing er so und kämpfte vor unseren Augen seinen Todeskampf. Und wir mussten ihm ins Gesicht sehen. Er lebte noch, als ich an ihm vorüberschritt. Hinter mir hörte ich denselben Mann fragen: „Wo ist Gott?“ Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: „Wo er ist? Dort, dort hängt er, am Galgen…“

Die Frage des unbekannten Häftlings aus dem Vernichtungslager Buna „Wo ist Gott?“ dröhnt fort durch die Geschichte. Sie wird immer wieder neu gestellt, neu geschrien, wo Menschen übermäßig, wo sie unschuldig leiden. In Kriegen, bei Katastrophen, in schlimmen persönlichen Schicksalsschlägen. „Wo ist Gott?“ Vielleicht haben Sie, liebe Leserinnen und Leser, diese Frage auch schon gestellt, angstvoll oder zornig, ratlos und stumm, unter Tränen, beim Leiden und Sterben nahestehender Menschen: „Wo bist du, Gott, wenn ich so elend dran bin?“

Es ist eine ganz menschliche Frage, und es ist eine zutiefst menschliche Erfahrung, dass Gott zuweilen nicht mehr zu spüren ist, dass seine Macht verschwindet in der Ohnmacht der Leidenden und dass seine Liebe verschwindet hinter dem Hass und dem Unrecht, zu dem Menschen fähig sind. Es ist dies auch die massivste Anfechtung für unseren Glauben.

Jesus selbst ist diese Frage nicht erspart geblieben. In der bittersten Not seines Lebens, in seiner Sterbestunde am Kreuz, so bezeugt es das Markus-Evangelium, aus dem wir am morgigen Palmsonntag die Leidensgeschichte hören, schreit Jesus diese Frage laut heraus: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

„Und ich hörte eine Stimme in mir antworten: Dort, dort hängt er am Galgen“, so schreibt Elie Wiesel. In der inneren Verarbeitung der furchtbaren Situation dämmert ihm etwas: Im maßlosen Leiden dieses Kindes am Galgen leidet in maßloser Weise Gott selber mit. In der tiefen Not läuft Gott nicht davon und überlässt Menschen nicht einsam ihrem Schicksal; er leidet mit in unbegreiflicher Solidarität.

Am Kreuz Jesu kann es uns dämmern: Wir brauchen nicht an einen Gott zu glauben, der sich vor unserem Elend davonmacht. Wir dürfen uns einem Gott anvertrauen, der in seiner maßlosen Liebe zu uns maßlos leidensfähig ist.

Das ist eine provozierende Botschaft, eine über unsere Augen und Ohren hinaus, doch es ist eine verlässliche. Sie ist abgesichert durch Jesu Schicksal am Karfreitag und durch seine Auferstehung.

„Wo ist Gott?“ – „Dort, dort hängt er, am Galgen.“ Das Kreuz ist die Bedingung der Möglichkeit unserer Hoffnung. Wenn uns das in den nächsten Tagen der Karwoche wieder bewusst wird, können wir begründet Ostern feiern.


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