Herrlicher und armer König Lear

28. April 2017 in Kultur


BENEDICTA: Zeigen nicht gerade der tragische Weg Lears und sein entsetzliches Ende, die Begrenztheit und Hilflosigkeit menschlicher Liebe und die unstillbare Sehnsucht des Menschen nach einer unbegrenzten, absoluten Liebe? - Von Gudrun Trausmuth


Wien (kath.net)
Herrlicher und armer König Lear
König Lear lässt mich nicht los, seit er mich, gegeben von Klaus Maria Brandauer, kürzlich im Burgtheater einfach hineingezogen hat in seine Welt, bezaubert, überwältigt, anders gehen hat lassen als ich gekommen war.

Katharsis - vielleicht bezeichnet der Begriff aus der antiken Dramentheorie doch etwas, was Theater auch heute noch kann: Läuterung der Seele durch Mitleben, Mitleiden, Weinen, Reinigung.
„König Lear“ führt weit zurück in die Geschichte Britanniens, in die Zeit vor Christus, wo Sonne, Sterne und Sturm als Naturgottheiten die Schicksale der Menschen beeinflussen. Und Lear, dieser stattliche, starke König ist alt und will abdanken. Sein Königreich sollen die drei Töchter bekommen: Goneril und Regan sind bereits verheiratet; Cordelia, Lears Lieblingstochter, ist bei ihm. Nun folgt die Szene, die den tragischen Gang der Handlung initiiert: Lear will die Aufteilung seines Reiches mittels eines Wettbewerbes unter seinen Töchtern regeln; die ihn am meisten Liebende soll den größten Teil des Reiches bekommen. So weit, so gut, doch seine Schuld besteht konkret darin, dass er die Liebe an ihren sprachlichen Ausdruck bindet: Er ignoriert die Evidenz der Liebe, sein inneres Wissen darum, dass Cordelia (vgl. lat cor, das Herz) die ihm Nächste ist und will dem sprachlichen Erweis, der rhetorisch besten töchterlichen Liebeserklärung trauen: „Welche von euch liebt uns nun wohl am meisten?“

Erwartungsgemäß agieren die älteren Töchter Goneril und Regan konform, sie wollen ja etwas von ihrem Vater, also wird schamlos geschmeichelt und gelogen. Schon während der verbalen „Show“ der ersten Schwester wird Cordelia unruhig „Was soll Cordelia tun? Sie liebt und schweigt.“ Doch noch vertraut sie auf die Wirksamkeit ihrer Liebe: „„Arme Cordelia dann! – Und doch nicht arm, denn meine Lieb, ich weiß, wiegt schwerer als mein Wort“ doch hier irrt die liebende Tochter; Lear ist schonungslos, bleibt bei seinem Anspruch und verbietet Cordelia das Schweigen: „Aus nichts kann nichts entstehen: sprich noch einmal“ Auf das hin äußert Cordelia in ihrer Not jenen wunderbaren Satz, der eine tiefe menschliche Grunderfahrung ausdrückt: „ich kann nicht mein Herz auf meine Lippen heben“. Nicht immer ist die Sprache – wenngleich die großartigste Äußerung des menschlichen Geistes - fähig und das richtige Instrument, um das Innere des Menschen abzubilden. Wo wir am tiefsten getroffen sind, versagt die Sprache, kommt sie an ihre Grenze.

Das Wort, das sich dem Herzen dann dennoch manchmal abringt, ist arm, nahe am Verstummen; wie aus Schmerz mit letzter Kraft geboren, steht es arm und einsam da, und ist gerade deshalb groß: „ich kann nicht mein Herz auf meine Lippen heben“. In manchen Fällen - und besagte Szene ist prototypisch dafür - ist es nicht möglich, das innere Leben adäquat auszudrücken, Cordelia kann und will die offenbare Liebe zu ihrem Vater nicht im Redewettbewerb prostituieren. Das von Lk 6,45 abgeleitete, sprichwörtlich gewordene Diktum Luthers „Wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“ stimmt eben nicht in jedem Fall: das tiefste Wissen des Herzens ist uns oft gerade nicht aussprechbar. Lear fordert ein Wort, wo es für Cordelia nicht möglich ist - ob aus rhetorischem Unvermögen, aus Diskretion oder Scham, oder aus Widerspruchsgeist gegen die väterliche Anmaßung - bleibt letztlich offen. „Ich kann mein Herz nicht auf meine Lippen heben“. Und so beruft Cordelia sich in ihrer wortlosen und mithin hilflosen Liebe auf ihre töchterliche Pflicht - was Lear rasend macht: „So jung und so unzärtlich“ – „So jung, mein Vater und so wahr.“, versetzt Cordelia.

Sie spürt das Abdriften des Vaters aus dem Licht der Wahrheit und stellt sich selbst, in der verzweifelten Hoffnung, damit zu retten, unter ihren Schutz.
In Bezug auf das schmeichelnde Wort, das Lear mit dem Wettbewerb provoziert, sei Josef Pieper zitiert: „Das Entscheidende liegt darin, daß da ein „Um- Zu“ im Spiel ist“ (...) „Der andere, dem ich da zu Gefallen rede, ist für mich also gar nicht mehr Partner, er ist gar nicht Mitsubjekt; er ist für mich eher so etwas wie ein zu bearbeitendes Objekt, das Objekt eines Bemächtigungsversuches, das einer Behandlung ausgesetzt wird.

Es geschieht also ziemlich genau das Gegenteil von dem, was zu geschehen scheint. Es sieht so aus – vor allem für den Umschmeichelten selber sieht es so aus - , als werde er auf ganz besonderes Weise respektiert, während dies in Wirklichkeit gerade nicht geschieht. Seine Würde wird ja gerade ignoriert, ich halte ja Ausschau nach seinen Schwächen und nach dem, wofür er eine Schwäche haben könnte – um ich dann zur Funktion zu bringen, für meine Zwecke“.

Genau dies geschieht hier: Lear macht sich selbst – und das ist seine Tragik! zu eben diesem „zu bearbeitenden Objekt“, worauf die eben nicht liebenden älteren Töchter schamlos einsteigen. Lears Schwäche ist seine mangelnde Fähigkeit an die evidente Liebe zu glauben, deshalb braucht er den Beweis, die Verbalisierung. Fernab jedes Herzenswissens, schafft erst das Wort Wirklichkeit für ihn, und zwar dasjenige Wort, das er erwartet, nicht das frei geschenkte, empfangene Wort. Die Schönheit der Ehrlichkeit Cordelias, kann er nicht sehen, blind in seinem Begehren nach Glanz und Größe der Liebe. Maßlos in seiner Enttäuschung, eigentlich aber gefangen in Täuschung, sagt er sich von seiner Lieblingstochter los, und furchtbar ist in der Folge sein Weg. Doch sieht er seinen Anteil am Lauf der Dinge? In den Händen der Verrätertöchter Gonderil und Regan wird Lear gedemütigt und vernichtet, getrieben bis in den Wahnsinn, ja bis zu der erschütternden Schlussszene, die die familiäre Anfangsszene tragisch spiegelt: Lear, zerrüttet an Seele und Geist, hält die ermordete Cordelia im Schoß, flankiert von der vergifteten Gonderil und der Selbstmörderin Regan; das erst noch durch Lears irres Reden lebendige Bild, erstarrt, als des Königs gemartertes Herz bricht.

Was ist es, das Lear so handeln lässt, was treibt ihn im Stück in den Wahnsinn? Worin ist er uns auch so erschütternd ähnlich? – Seine Sehnsucht nach einer unbedingten Liebe drückt eine tiefe menschliche Sehnsucht aus, die tiefste wahrscheinlich. Wir alle brauchen zumindest einen Abglanz dieser großen Liebe um zu leben, uns entfalten zu können, zu atmen, weiterzugehen. Ganz angenommen sein, in dem, was man ist, seinen Namen im Herzen und im Mund eines anderen gut aufgehoben zu wissen, ist die freisetzende Erfahrung, die jeder Art der Liebe wesenhaft ist. Das inhaltliche Anliegen Lears ist legitim und nicht nur das, es ist urmenschlich. Sein Sakrileg ist das Hervorzerrenwollen, das Hörenwollen, die Gier nach der Absolutheit einer menschlichen Liebe, oder zumindest nach ihrem absoluten Ausdruck. Deshalb fällt der König auf Gonderil und Regan herein, die ihm willig und schamlos vorgaukeln, was er hören möchte.

Die in aber wirklich liebende Cordelia bringt „ihr Herz nicht auf ihre Lippen“ – Im Übrigen ein Bild, dessen Bewegung Rilke, in seinem einzigartigen Gedicht „Liebes-Lied“ aufgreift: „Wie kann ich meine Seele halten, dass sie nicht an die deine rührt? Wie soll ich sie hinheben über dich zu andern Dingen? (…)“

Lear, das am wenigsten christliche Stück Shakespeares, wie immer wieder zu hören ist? Formal vielleicht, schließlich ist Lear auch König einer vorchristlichen Zeit. Aber zeigen nicht gerade der tragische Weg Lears und sein entsetzliches Ende, die Begrenztheit und Hilflosigkeit menschlicher Liebe und die unstillbare Sehnsucht des Menschen nach einer unbegrenzten, absoluten Liebe? Ist Lear, dieses unglaublich feine, erschütternde Bild einer Seele, nicht eher ein Erweis der Notwendigkeit des Glaubens? - Binde dein Herz fest an den, der DIE LIEBE ist, nur aus dieser Bindung (religio) bekommt menschliche Liebe ihre Wahrheit, kann sie „übernatürlich“ werden. Menschliche Liebe ringt immer mit sich selbst, ist sich nie genug, ersehnt das Wort und den Beweis, doch in einem immer wieder zu Vollbringenden Hineinstellen ihrer Armut und Schwäche in die absolute Liebe kann sie zum freimachenden Abglanz und Verweis jener göttlichen Liebe werden, die sich in Jesus Christus offenbart hat: „Ich bin definitiv geliebt, und was immer mir geschieht – ich werde von dieser Liebe erwartet“ (Benedikt XVI., „Spe salvi“) Herrlicher und armer König Lear.

Jeden Freitag kommentieren auf kath.net in der Reihe BeneDicta Gudrun Trausmuth, Inka Hammond, Isabella von Kageneck, Petra Knapp und Linda Noé wichtige Themen über Gott, die Welt und alles, was die Herzen noch so bewegt.


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