Will Gott die Zweitehe?

1. September 2017 in Kommentar


„Kardinal Kasper sagte in einem Zeit-Interview: ‚Der Papst ändert keine einzige Lehre, und doch ändert er alles‘“ - Zur Bedeutung von Amoris laetitia Ziff. 303. Gastkommentar von Rainer Beckmann


Vatikan (kath.net) Am Anfang seiner Exhortation „Amoris laetitia“ (AL) weist Papst Franziskus darauf hin, dass „nicht alle doktrinellen, moralischen oder pastoralen Diskussionen durch ein lehramtliches Eingreifen entschieden werden müssen“ (AL Ziff. 3). Hieraus könnte man ableiten, dass er mit seinem nachsynodalen Schreiben keine neue Doktrin und damit keine neue, von der bisherigen Linie abweichende Lehre verkünden will. Dennoch wird dieses Schreiben weithin als etwas Neues verstanden, als eine deutliche Änderung vor allem in Bezug auf den Umgang mit „wiederverheirateten Geschiedenen“. Kardinal Kasper sagte in einem Zeit-Interview: „Der Papst ändert keine einzige Lehre, und doch ändert er alles“ (28.04.2016). Inzwischen haben einige Bischofskonferenzen ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen aus Amoris laetitia gezogen. Die Verwirrung um die Bedeutung dieses Schreibens ist offensichtlich.

Die unterschiedlichen Interpretationen betreffen insbesondere einige Stellen in Kapitel VIII. Dort wird in allgemeiner Form der Umgang mit so genannten „irregulären Situationen“ thematisiert. Diese Bezeichnung mag ihre Berechtigung darin finden, mehrere unterschiedliche Situationen sprachlich auf einen Nenner zu bringen, hat aber auch einen großen Nachteil: Sie verharmlost Verhaltensweisen, in denen es der Sache nach um schwerwiegende moralische Verfehlungen geht, nämlich vorehelichen Geschlechtsverkehr, das Führen einer „Zweitehe“ („wiederverheiratete Geschiedene“) und gleichgeschlechtliche Partnerschaften (vgl. KKK 2353, 2357, 2384, 2391).

Bislang wurde hauptsächlich darüber gestritten, welche praktischen Konsequenzen dieses Verhalten für die Zulassung zu den Sakramenten der Beichte und der Eucharistie nach sich ziehen sollte. Nun hat der bekannte Philosoph Prof. Dr. Josef Seifert einen weiteren und brisanten Aspekt in die Debatte eingebracht. In einem Beitrag für die philosophische Online-Zeitschrift „Aemaet“ wirft er die Frage auf, ob es nicht in AL Ziff. 303 eine Aussage gebe, „die als logische Konsequenz die Zerstörung der gesamten katholischen Morallehre mit sich bringt“ („… that has the logical consequence of destroying the entire Catholic moral teaching“. Aemaet Bd. 6, Nr. 2 (2017) S. 5).

Es geht um folgende Sätze:

„Doch dieses Gewissen kann nicht nur erkennen, dass eine Situation objektiv nicht den generellen Anforderungen des Evangeliums entspricht. Es kann auch aufrichtig und ehrlich das erkennen, was vorerst die großherzige Antwort ist, die man Gott geben kann, und mit einer gewissen moralischen Sicherheit entdecken, dass dies die Hingabe ist, die Gott selbst inmitten der konkreten Vielschichtigkeit der Begrenzungen fordert, auch wenn sie noch nicht völlig dem objektiven Ideal entspricht.“ (AL 303, Satz 3 u. 4)

Wenn man diese Passage auf die „irregulären Situationen“ bezieht, die Gegenstand von AL Ziff. 301 ff. sind, dann enthält sie z. B. für die Beurteilung des Verhaltens von „wiederverheirateten Geschiedenen“ die Aussage, sie könnten im Gewissen entdecken, weiter wie echte Eheleute zusammenleben zu dürfen (unter Einschluss sexueller Beziehungen), weil dies „Gott selbst … fordert“.

Wenn damit das Gebot „Du sollst nicht ehebrechen!“ im Einzelfall keine Geltung beanspruchen könne – so fragt Prof. Seifert in dem zitierten Aufsatz –, müssten dann nicht auch die anderen neun Gebote und alle Konzilsbeschlüsse und kirchlichen Dokumente, die die Existenz von in sich schlechten Handlungen lehren, ihre Gültigkeit verlieren? „Müssen dann nicht aufgrund reiner Logik Euthanasie, Selbstmord und Beihilfe zum Selbstmord, Lügen, Diebstähle, Meineide, Verleugnung und Verrat Christi, wie der des hl. Petrus, oder Mord unter manchen Umständen und nach sorgfältiger „Unterscheidung“ gut und lobenswert sein aufgrund der Komplexität einer konkreten Situation …?“ (a.a.O., S. 7).

Der Text von AL 303 legt diese Schlussfolgerungen nahe. Es wird praktisch die Behauptung aufgestellt, dass Gott in bestimmen Fällen z. B. die Fortsetzung einer „Zweitehe“ will. Das ist viel mehr als nur die Behauptung, das individuelle Verschulden der Handelnden sei unter gewissen Bedingungen als gering anzusehen. Wenn „Gott selbst inmitten der konkreten Vielschichtigkeit der Begrenzungen“ manchmal etwas „fordert“, was die Kirche seit jeher als schwer sündhaft betrachtet hat, dann kann die Morallehre der Kirche insgesamt nichts taugen. Nimmt man den Text von AL 303 wörtlich, ergeben sich in der Tat unübersehbare Konsequenzen.

Leider sind die Aussagen von AL in erheblichem Umfang unklar, zweideutig und widersprüchlich. Das gilt auch für Ziff. 303. Einerseits enthält Satz 3 dieses Absatzes die Aussage, das Gewissen könne erkennen, dass eine Situation objektiv nicht den Anforderungen des Evangeliums entspricht. Andererseits soll das Gewissen „aufrichtig und ehrlich“ und mit „einer gewissen Sicherheit“ erkennen können, dass Gott ein Verhalten fordert, das „noch nicht völlig dem objektiven Ideal entspricht“ (AL 303 Satz 4). Zugespitzt formuliert: Kann es sein, dass Gott von manchen Eheleuten nicht Treue, sondern Ehebruch fordert? Kann man dem Papst unterstellen, dass er mit seiner Formulierung von AL 303 letztlich die Existenz in sich schlechter Handlungen leugnen und einer Situationsethik das Wort reden will, die in der Konsequenz alle Gebote Gottes entwertet?

Um dem Papst und/oder seinen „Ghostwritern“ den Vorwurf zu ersparen, sie verkehrten Gottes Willen in sein Gegenteil, könnte man allenfalls an einem Punkt ansetzen: In AL 303 Satz 4 ist nicht von einer „absoluten“ oder „objektiven“ moralischen Sicherheit die Rede, sondern nur von einer „gewissen“ moralischen Sicherheit. Die Aussage über das Entdecken des göttlichen Willens in einer schwierigen Lebenssituation hat damit einen subjektiven Einschlag. Man könnte diesen Satz deshalb auch so interpretieren, dass er nicht eine lehrmäßige objektive Aussage des Papstes wiedergeben soll, sondern nur eine mögliche (und eben unsichere) subjektive Gewissensüberzeugung Betroffener. Im Grunde müsste man hierin einen – sicherlich ungeschickt formulierten – Hinweis auf die Problematik des „irrenden“ Gewissens sehen.

Doch auch eine solche Interpretation wäre kein Freibrief für „wiederverheiratete Geschiedene“, ihre „Ehe“ fortzuführen. Denn Achtung gebührt nicht jeder Gewissensentscheidung, sondern - wenn sie objektiv falsch ist (s. AL 303 S. 3) - allein einem „unüberwindlich“ irrenden Gewissen (KKK 1793). Unüberwindlich kann aber für Katholiken ein Irrtum über die Unzulässigkeit einer Zweitehe schon deshalb nicht sein, weil Evangelium und traditionelle Lehre in diesem Punkt völlig eindeutig sind (Mt 5, 31f.; 19, 4ff.; Mk 10, 10ff.; Lk 16, 18; 1 Kor 7, 10f.; KKK 1614, 1615, 2336). Die katholische Glaubensüberzeugung von der Unauflöslichkeit der Ehe ist auch kein gut gehütetes Geheimnis, sondern allgemein bekannt. Sie ist geradezu ein Alleinstellungsmerkmal im Vergleich zu anderen Religionen und Weltanschauungen. Sich in Bezug auf die Unauflöslichkeit einer sakramentalen Ehe mit „Unkenntnis“ herausreden zu wollen, wäre daher völlig unglaubwürdig.

Hinzu kommt, dass Papst Franziskus selbst fordert, „dass die Kirche in keiner Weise darauf verzichten darf, das vollkommene Ideal der Ehe, den Plan Gottes in seiner ganzen Größe vorzulegen … Außergewöhnliche Situationen zu verstehen bedeutet niemals, das Licht des vollkommeneren Ideals zu verdunkeln, und auch nicht, weniger anzuempfehlen als das, was Jesus dem Menschen anbietet“ (AL 307). Wenn also im Prozess der „Unterscheidung“ und der Prüfung „mildernder Umstände“ (vgl. AL 301, 302 u. 305) die Ehelehre der Kirche zur Sprache kommt und damit auch, dass jede „Zweitehe“ dem Gebot Gottes widerspricht, kann ein vielleicht theoretisch denkbarer Irrtum in diesem Punkt niemals unüberwindlich sein.

Wie man es auch dreht und wendet: „wiederverheiratete Geschiedene“, die ihre „Zweitehe“ fortsetzen wollen (ohne in besonderen Fällen die Beschränkungen gem. Familiaris Consortio 84 zu beachten), verstoßen bewusst und dauerhaft gegen ein göttliches Gebot. Sie handeln schwer sündhaft. Das kann Gott nicht wollen. Wenn er es – gem. AL 303 – wollen könnte, wäre die gesamte Morallehre der Kirche hinfällig. Daher ist es notwendig, dass der Papst hinsichtlich der Formulierung von AL Ziff. 303 eine klarstellende Korrektur vornimmt.

Der Autor, Rainer Beckmann, ist selbst geschieden, aber hat nicht wieder geheiratet. Er achtet und verteidigt die Lehre der Kirche zum Ehesakrament. Zu den Thesen von Kardinal Kasper hat er aktuell in dem Buch „Das Evangelium der ehelichen Treue“ Stellung bezogen.

kath.net-Buchtipp
Das Evangelium der ehelichen Treue
Eine Antwort auf Kardinal Kasper
Von Rainer Beckmann
Vorwort von Paul Josef Kardinal Cordes
Taschenbuch, 143 Seiten
2015 Fe-Medienverlag
ISBN 978-3-86357-123-8
Preis 10.10 EUR

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