Missbrauch: Das tödliche Schweigen der Kirche

17. September 2018 in Kommentar


„Ehe sich ein Bischof von einem seiner gefallenen Priester entsolidarisiert, muss eine Menge geschehen. Aber, Bischof, solidarisiere Dich mit dem Opfer und schick deinen Mitbruder ins Gefängnis!“ kath.net-Kommentar von Joe Löser


Linz (kath.net) Es ist ein Verdienst der deutschen Bischöfe, dass sie ihre Studie zum sexuellen Missbrauch in der Kirche überhaupt in Auftrag gaben. Doch ist es auch ein Grund sich zurückzulehnen? In keiner Ortskirche weltweit wurden schließlich in den letzten beiden Jahrzehnten mehr präventive Maßnahmen und Hilfen für die Opfer eingebaut als bei uns. Die 1,1 Millionen Euro teure Studie scheint mit viel Wissenschaft aufbereitet zu sein, aber sie hat leider – das kann man heute schon sagen – nur bedingte Aussagekraft, was das wahre Ausmaß der Zerstörung betrifft.

Horror zweiter Klasse?

Erste Kommentare haben die deutsche Studie mit dem Pennsylvania Report der Grand Jury verglichen. Aber das funktioniert nicht. So erschlagend die deutschen Zahlen sind und so grauenhafte Dinge berichtet werden, so erscheint das deutsche Papier doch wie Horror zweiter Klasse. Das liegt nicht an der Wildheit des Wilden Westens, in dem immer schon wilder zuging. Strukturell tauchen die gleichen Probleme hier wie dort auf. Die Dinge sind systemimmanent; weltweit taucht aus dem Schoß der Kirche das gleiche Monster auf, das alles, was die Kirche war und ist, zu verschlingen droht. Was bei uns wirklich passiert ist (und vielleicht noch immer passiert) werden wir erst wissen, wenn echte Transparenz gegeben ist. Aber wer kann sie schaffen? Kann die Kirche verspieltes Vertrauen durch eigene Untersuchungen zurückgewinnen? Dass in manchen Diözesen Unterlagen vernichtet wurden, andere Diözesen nicht oder nur bedingt kooperierten, zeigt nur, dass nicht auf den Tisch kam, was auf den Tisch kommen musste. Und was bedeutet die Rede, dass es wohl hohe Dunkelziffern gab? "Hier ließ die Mafia die Mafia auf mafiöse Strukturen hin untersuchen", spottete ein Kommentator in einem der Katholischen Kirche nicht wohlgesonnenen Blatt. Soviel zur Außensicht auf den gutgemeinten Versuch kirchlicher initiierter Aufklärung.

Vom Pennsylvania Report der Grand Jury kann man immerhin sagen, dass er kirchenunabhängig in der Entstehung war, dass in ihm für eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Raum "alles" auf den Tisch kam und dass er eine hohe Verbindlichkeit und Rechtswirksamkeit hat. Nicht nur in Sachen Transparenz sind uns die Amerikaner also einen Schritt voraus. Man sollte aber auch wissen, welches Gewicht die Aussage einer "Grand Jury" hat. Die "Grand Jury" ist eine Art vorgeschalteter Gerichtshof – ein in der amerikanischen Verfassung verankertes Instrument der Beteiligung von Laien an der Rechtsprechung. Es soll dafür sorgen, dass nicht Bürger angeklagt werden, gegen die nicht „probable causes“ vorliegen. Ein Anfangsverdacht und eine gewisse Wahrscheinlichkeit müssen gegeben sein, damit eine Straftat juristisch verfolgt wird. Die "Grand Jury" ist also der letzte Schritt vor der Anklage eines Verbrechens. Nun liegen 1.356 Seiten auf dem Tisch der Justizbehörden, die eine Welle von Prozessen eröffnen werden. Andere Staaten werden folgen. Man muss kein Prophet sein, um den ökonomischen Ruin der Katholischen Kirche in Amerika vorauszusagen. Der Report wird die Kirche in Amerika grundlegend verändern – und nicht nur sie.

Warum die Bombe in den U.S.A. hochging

Nun kann man Deutschland und Amerika nicht miteinander vergleichen. Amerika hat ein anderes Rechtssystem und die Öffentlichkeit hat einen anderen Charakter. Aufklärung in Sachen Missbrauch wird hier insbesondere betrieben durch organisierte Gruppen von Missbrauchsopfern, die radikale Transparenz wollen und sie durch rabiate Mittel erzwingen. Nicht wenige von ihnen – so darf angenommen werden – verbinden mit ihrer Opfergeschichte auch ökonomische Interessen. In Amerika hat man mit einem guten Anwalt auch Chancen auf gutes Geld. Anwälte wissen das; sie akquirieren Kunden, an den sie mitverdienen. Bei uns wäre ein Pranger, wie ihn "Bishops Acountabilty" darstellt, nicht denkbar. In dieser (auch von Deutschland aus erreichbaren) Internet-Database werden tausende von Namen genannt und Anschuldigungen öffentlich vorgebracht. Hier kann jedermann "heißes Material" zuliefern oder auch nur nachrecherchieren, ob gegen den Pfarrer vor Ort etwas vorliegt. Man findet dort Vorname/Name (oft mit Bildern), den Zeitpunkt der Ordination, den kirchlichen Stand des Betreffenden (Priester, Diakon, Ordensbruder, Ordensfrau), seinen rechtlichen Status (angeklagt, im Gefängnis, etc.), die Diözese/der Orden, die Beschreibung des Delikts und die Quellen (Zeitungsberichte, Zeugenaussagen, Gerichtsakten etc). Wer Zeit und ein voyeuristisches oder echtes Interesse hat, findet hier abgründige Lektüre für Wochen und Monate und Stoff für hundert Dan Browns.

Was Internet-Dokumente dieser Art schon vor dem Bericht der Grand Jury festhielten, umschreibt ein weites Feld manifest gewordener Unmoral von Klerikern in allen Spielarten. Es taucht nicht nur der klassische sexuelle Missbrauch auf, es werden auch Missstände in Seminarien geschildert (Pornographie, Kinderpornographie, sexuelle Ausschweifungen) oder Fälle von Erregungen öffentlichen Ärgernisses – etwa der Bischof, der bei der kollektiven Masturbation im Stadtpark dingfest gemacht wurde oder die beiden Priester, die der Polizei auffielen, als sie sich im Auto einen Blowjob gaben. Hin und wieder, hat man anhand der genannten database den Eindruck, vergreifen sich Geistliche an Frauen und jungen Mädchen. In aller Regel wird sexueller Missbrauch aber auf dem breiten Tableau von aktiv ausgeübter Homosexualität von und unter Priestern beschrieben, ohne dass differenziert wird, ob sich nicht auch heterosexuelle Priester an Jungen vergreifen können. In der Tat erfährt man auf Seite 11 des Grand Jury Reports, dass es sich in 81 Prozent der Fälle um male/male-Vergehen handelt. In den Augen der Leute ist der Prototyp des Missbrauchers der schwule Pfarrer, der dem Ministranten in der Sakristei an die Hose geht. In der Tat: Genug Stoff für eine höllische Hexenjagd! Glücklicherweise ist der Pranger bei uns seit Mitte des 19. Jahrhunderts abgeschafft. In Amerika aber kam der Satz „Wer bin ich, ihn zu verurteilen“, mit dem Papst Franziskus Monsignore Salvatore Ricca salvierte, einen umtriebigen homosexuellen Kleriker, der auf wundersame Weise eine zweite Karriere im Vatikan machte, nachdem man ihn zuvor wegen einer Fülle von Eskapaden aus dem diplomatischen Dienst entfernt hatte, nicht allzu gut an.

Die ohnehin auf Moral gepolten Amerikaner – moral majority ist mental noch immer tief im Milieu verankert – rebellieren gerade, weil sie angesichts des veröffentlichten Drecks (der natürlich nur ein sektoraler Ausschnitt darstellt) davon ausgehen, ihr Klerus sei im Ganzen moralisch verkommen und total verrottet. Es müsse radikal aufgeräumt werden. In diesem Klima der Hexenjagd stehen die normalen Priester, die sich nichts zu Schulden kommen ließen und ein aufrechtes, Gott hingegebenes Leben führen (und das dürften die allermeisten sein), unter enormem psychischem Druck. Sie fühlen sich in Sippenhaft genommen und setzen wiederum ihre Bischöfe unter mächtigen Druck. Welche Rolle in diesem Pulvermagazin das Viganò-Dossier spielte, vermag man sich vorzustellen. So schräg es ist, so war der kuriale whistleblower auch eine Art Entlastungszeuge für die amerikanischen Bischöfe: Okay, wir haben versagt, aber schaut Euch mal den Vatikan und den Papst an!

Harvey Weinstein und die Bischöfe

Hinzu kommt die Harvey-Weinstein-Geschichte. Sie hat – das sehen noch nicht alle – die Debatte um sexuellen Missbrauch fundamental verändert, und zwar weltweit. Über dem Erschrecken, dass alle "es" wussten, aber niemand etwas für die Opfer unternahm, auch niemand darüber nachdachte, welchen Gefährdungen junge Frauen in der Zukunft ausgesetzt sein würden, geriet erst Harvey Weinstein selbst, dann aber immer stärker der "Mitwisser" in den Blick. Untere geballtem feministischem Druck war er seiner Unschuld bald entkleidet. Aus dem Mitwisser wurde der "Komplize". Der Komplize aber ist Teil des Verbrechens. Kein Wunder, wenn die amerikanischen Bischöfe erschraken. Über Nacht sollten sie zu Komplizen der "Problemkinder" unter ihren Priestern geworden sein?

Und es ist plötzlich eine Frage, die sich Bischöfe, Erzbischöfe, Kardinäle - also diejenigen, die keinen mehr über sich haben als vielleicht noch den Papst – nicht nur in Amerika stellen: Bin ich ein "Komplize"? Wer sich aber so fragt, rührt an eine Art von Sprengstoff, mit der die gesamte hierarchische Machtstruktur der Katholischen Kirche in die Luft fliegen könnte. Denn welcher ältere Bischof – vollends: welcher Kardinal, welcher Papst – war in seiner langen Amtszeit nicht schon einmal in der Rolle des Mitwissers?

Nehmen wir den normalen Diözesanbischof! Da passiert in seinem Bereich in einer dunklen Ecke das Unvorstellbare, Unaussprechliche. Die Untat fliegt zunächst im Rahmen einer begrenzten Öffentlichkeit auf und landet auf dem Schreibtisch des Generalvikars. Der setzt sie als Punkt auf den Jour fixe mit dem Bischof ("Zuletzt noch eine unangenehme Geschichte ..."); und da er nicht nur ein Problem mitbringen möchte, hat er gleich die Lösung parat: "Verlassen Sie sich auf mich, ich werde die Sache diskret in Ordnung bringen!" Der Bischof atmet auf. Möglicherweise ist er schockiert von so viel Verdorbenheit, möglicherweise möchte er keine Details hören, sondern nur noch, wer davon weiß. Ob am Ende schon die Presse ihre Nase daran hat? Sein oberstes Interesse ist die heilige Kirche, der Leib Christi und seine Anwesenheit in der Welt. Sie darf unter keinen Umständen besudelt und in den Dreck gezogen werden. Die Kirche soll doch Salz der Erde, Licht der Welt, Stadt auf dem Berg sein! Und der Priester – er soll doch Christus repräsentieren! Wir können ja einpacken, wenn das bekannt wird! Ausgerechnet bei uns!

Und der Bischof tut genau das, was in Summe die Kirche ruiniert. Er reiht sich ein in das Kartell des Schweigens. Das ist menschlich. Es passiert, was in jeder Familie passiert: Man deckt den Skandal der Mutter oder dem Vater. Am Ende steht der Finger vor den Lippen: Kein Sterbenswort! Schon gar nicht bei der Verwandtschaft! In Wahrheit haben alle ein analoges Problem, nur sagt´s keiner.

Über der an sich edlen Absicht, vergaßen (oder vergessen) die handelnden Personen zwei Dinge: erstens die Empathie mit den Opfern und zweitens die Disempathie mit den Tätern. Soll der Bischof nicht der Vater seiner Priester sein? Ja, soll er – aber er soll auch der Hirte seiner Herde sein. Gegebenenfalls muss er die Kaste seiner Mithirten verlassen, die 99 Schafe stehen lassen und dem einen verlorenen Schaf nachgehen, bis er es findet. Dazu braucht der Bischof weniger das Bad in der Menge als das berühmte Gespür für den "Geruch der Schafe". Das will das Evangelium; es ist aber nicht pastoraler Standard.

Ehe sich im diözesanen Alltag ein Bischof von einem seiner gefallenen Priester eines Schäfleins halber entsolidarisiert, muss eine Menge geschehen. Er, der so gerne den reumütigen Sünder in die Arme schließen möchte, muss über die Hürde der Gerechtigkeit springen. Gerechtigkeit gibt es nicht als Sondergerechtigkeit; sie gibt sie nur als Gerechtigkeit für alle, nach dem Grundsatz jedem das Seine – und das kann heißen: Nimm das Opfer in deine Arme und schick deinen Mitbruder dorthin, wo er als Verbrecher hingehört: ins Gefängnis. Die Täter kennt er, die Schafe bleiben abstrakt.

Joe Löser war als Jugendlicher selbst Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen katholischen Priester.


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