Ethiker zu Corona: Klare Kriterien für Behandlungsdilemmas nötig

1. April 2020 in Prolife


Evangelischer Theologe und Medizinethiker Körtner zur "Triage"-Debatte: Welche Schwerkranke bei Ressourcenknappheit zuerst behandeln? - Orientieren am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht, aber auch am Patientenwillen - Breite Debatte im Ausland


Wien-Bonn (kath.net/KAP) Es ist denkbar, dass wie in Italien auch in Österreich in kurzer Zeit nicht mehr für alle Covid-Erkrankte ausreichend intensivmedizinische Ressourcen zur Verfügung stehen. "Die Entscheidung, wer im Extremfall noch (weiter) behandelt werden soll und wer nicht, kann unter diesen Umständen keine Einzelfallentscheidung sein, sondern muss nach einem transparenten Kriterienkatalog getroffen werden", betonte der evangelische Theologe und Medizinethiker Ulrich Körtner in einem aktuellen Gastbeitrag für die ORF-Wissenschafts-Website science.orf.at. Orientieren sollten sich die Mediziner dabei am Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht, aber auch - soweit bekannt - am Patientenwillen, riet Körtner.

Der Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien beteiligt sich damit an der unter Medizinern und Ethikern seit geraumer Zeit geführten Debatte über "Triage", hergeleitet aus dem Französischen "trier" ("sortieren"). Dabei wird das sonst geltende "first come, first serve"-Prinzip ergänzt bzw. ersetzt durch eine Einschätzung der Behandlungsdringlichkeit je nach Notfallpatient - um etwa über die Aufnahme auf die Intensivstation oder auch die Beendigung einer Intensivtherapie zu urteilen.

Es ist nach den Worten Körtners nicht auszuschließen, dass behandelnde Ärzte in solchen Grenzsituationen eine Gewissensentscheidung treffen müssen. "Daraus darf aber keine allgemeine ethische oder rechtliche Regel abgeleitet werden, die das unveräußerliche Grundrecht auf Leben untergraben würde." Einerseits dürfe es keine "Altersdiskriminierung" geben, schrieb der evangelische Theologe. Andererseits würden auch im Katastrophenfall Intensivbetten für andere Patienten benötigt, zum Beispiel für Unfallopfer, Herzinfarkt- und Schlaganfallpatienten oder frisch Operierte nach einem schweren Eingriff.

Jedenfalls gelte es für den Ernstfall gerüstet zu sein, dass die Spitäler an ihre Kapazitätsgrenzen stoßen, betonte Körtner. Politiker versuchten dieses Thema freilich zu vermeiden, um nicht zusätzliche Ängste zu schüren. Auch wenn zusätzliche Bettenkapazitäten aufgebaut und durch Verschiebung von nicht dringenden Operationen auf den Intensivstationen weitere Ressourcen geschaffen werden, könnten diese nicht alle nur für die Versorgung von Coronavirus-Patienten freigehalten werden, erklärte Körtner weiter. Außerdem lasse sich das nötige Fachpersonal nicht kurzfristig nach Belieben aufstocken.

Träger sollen für Verbindlichkeit sorgen

Bereits ausgearbeitete Empfehlungen von Fachgesellschaften und Ethikräten zur Triage - zuletzt u.a. von der Österreichischen Palliativgesellschaft oder von der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (ÖGARI) - blieben allerdings wirkungslos, wenn sie nicht in den Krankenanstalten für verbindlich erklärt werden. "Hier sind nicht nur die einzelnen Spitäler gefordert, sondern auch die staatlichen, kommunalen und privaten Krankenhausträger", urgierte der Theologe.

Körtner wies auch darauf hin, dass unter Umständen an Covid-19 erkrankte Ärzte und Pflegefachkräfte vordringlich behandelt werden müssen, um das Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten. Deren Gesundung sei für die Versorgung der Gesamtbevölkerung entscheidend - "ihr Leben zu retten bedeutet, auch andere Leben zu retten". Körtner erinnerte daran, dass in Italien am 26. März bereits 6.205 Ärzte und Sanitäter mit dem Coronavirus infiziert wären; 29 Ärzte seien seit dem Beginn der Pandemie verstorben.

Disziplin auch aus Eigeninteresse geboten

Der Medizinethiker beendete seine Ausführungen mit einem Dringlichkeitsappell: "Hoffentlich wird nun auch dem Letzten klar, dass es längst nicht mehr nur darum geht, dass die Jungen die Alten oder Risikogruppen mit Vorerkrankungen schützen." Auch bei jungen Menschen könne eine Coronavirus-Infektion einen schweren oder sogar tödlichen Verlauf nehmen. Außerdem könnten diese Jüngeren auch indirekt Opfer der Pandemie werden, wenn nämlich für sie nach einem schweren Unfall oder Herzinfarkt kein Intensivbett mehr frei ist. "Darum handelt jeder, der jetzt die Anweisungen der Behörden strikt befolgt, nicht nur aus Solidarität und Humanität, sondern auch aus wohlverstandenem Eigeninteresse", schärfte Körtner ein.

Bedenken über Aussortierungen im Elsass

Das Thema "Triage" beschäftigt auch viele Ethiker im Ausland: Der Berliner Moraltheologe Andreas Lob-Hüdepohl - er ist Mitglied des Deutschen Ethikrates - nannte die Verweigerung von Beatmungsgeräten für Corona-Kranke über 80 Jahren "absolut verwerflich". Im Interview der deutschen Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) betonte er, Alter, soziale Herkunft oder andere derartige Kriterien als alleinige Grundlage zu nehmen, sei "moralisch schlichtweg abzulehnen". Anlass für seine Äußerungen: Nach jüngsten Bericht erhalten im Elsass betagte Corona-Patienten wegen fehlender Ressourcen keine Beatmung mehr.

Lob-Hüdepohl verwies auf die Stellungnahme des Ethikrats, der sich bei Triage für klare medizinische Kriterien ausgesprochen hatte. Maßgeblich müssten die Therapieaussichten sein. Der Ethikrat rechtfertigte auch die derzeitigen Freiheitsbeschränkungen, forderte aber eine baldige schrittweise Rückkehr zur Normalität. Lob-Hüdepohl mahnte, bei allen Maßnahmen "das Ganze der Gesellschaft im Blick zu behalten - deren Solidarität ja gewissermaßen einem Stresstest unterzogen wird".

Er beobachte derzeit "eine einseitige Zuspitzung auf den Lockdown, so der Moraltheologe. Dabei verwies er auf "Begleitschäden für die Gesellschaft", die schon jetzt eingetreten seien, wie eine Unterversorgung in den Psychiatrien oder Heimen für behinderte Menschen, Vereinsamung oder soziale Folgen, "wenn die wirtschaftliche Existenzgrundlage wegbricht". All dies gelte es bei der "extrem schwierigen Güterabwägung" mit einem leistungsfähigen Gesundheitssystem zur Versorgung der Corona-Kranken zu berücksichtigen.

Auch US-Ethiker warnen vor Selektion

Auch in dem neuen Krisenherd USA warnten katholische Ethiker und Juristen zuletzt davor, über den Einsatz lebensrettender Maßnahmen bei Corona-Infizierten auf Basis des Alters oder einer Behinderung von Patienten zu entscheiden. Dies sei ungerecht, diskriminierend und verletze die Bürgerrechte, argumentierte eine aus 21 Personen bestehende New Yorker Expertengruppe laut dem katholischen US-Pressedienst CNS. Zudem warnen die Experten vor einer Knappheit bei Krankenhausbetten und Beatmungsgeräten. Dem Gremium gehören unter anderen zwei Priester, ein Rabbiner, ein protestantischer Kaplan und ein Arzt an, der im Auftrag des New Yorker Kardinals Timothy M. Dolan tätig ist.

"Es sollte nicht Sache der Ärzte sein zu entscheiden, wessen subjektive Lebensqualität es verdient, verlängert zu werden", schrieb der New Yorker Sozialethiker und Theologe Charles Camosy in der "New York Post". "Die schreckliche Idee, jemandem die Pflege vorzuenthalten, weil er alt und behindert ist, ist unhaltbar" und sei ein Schritt in Richtung Abwertung des einzelnen Lebens, so der Vizepräsident der Thomas-More-Society, Peter Breen. Besonders in katholischen Krankenhäusern müssten schwache Menschen im Vordergrund stehen, so der Direktor am "National Catholic Bioethics Center" in Philadelphia, Tadeusz Pacholczyk.

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