‚Distancing‘

17. April 2020 in Spirituelles


„Im alltäglichen Verhalten war ‚Distancing‘ erstaunlich rasch verankert, es kann geschehen, dass ich mitten im Wald einem einsamen Wanderer begegne, der, sobald er mich sieht, rasch hinter einen Baum springt.“ Gastbeitrag von Pater Martin Ramm FSSP


Thalwil (kath.net) Liebe Gläubige! Immer wieder gibt es neue deutsche Wörter, und offenbar auch neue Tugenden. ‚Distancing‘ ist solch ein Wort. Im Rang einer Tugend soll das ‚Distancing‘ – wie die Harvard University meint – bis ins Jahr 2022 bleiben. Im alltäglichen Verhalten war das ‚Distancing‘ erstaunlich rasch verankert, zumal Verstöße polizeilich sanktioniert werden. Mittlerweile kann es sogar geschehen, dass ich mitten im Wald einem einsamen Wanderer begegne, der, sobald er mich sieht, rasch hinter einen Baum springt und dort wartet, bis ich vorüber bin.

Es soll nicht geleugnet werden, dass Distanzregeln berechtigt sind. Manch einer, der sich infiziert hat, wird wohl wünschen, irgendwer hätte mehr Distanz gehalten. Und wer sich gar sagen muss, selbst andere infiziert zu haben, fühlt vielleicht einen Druck im Gewissen.

Ich will ganz und gar nicht gegen das ‚Distancing‘ sprechen, sondern plädiere im Gegenteil dafür, es deutlich auszuweiten und die Beweggründe für dasselbe zu vertiefen. Wir haben nämlich ein echtes Problem mit Distanzlosigkeit. Darunter leidet unsere Zeit gar sehr!

Distanzlosigkeit ist gefährlich, denn:
• an Distanzlosigkeit stirbt die Liebe;
• an Distanzlosigkeit stirbt die Freundschaft; • an Distanzlosigkeit stirbt die Ehe;
• an Distanzlosigkeit stirbt sogar die Religion.

Es liegt in der ‚Logik der Liebe‘, eine gewisse Distanz zu schaffen, und genau diese Distanz ist – so paradox das im ersten Moment klingen mag – die Voraussetzung für echt menschliche Nähe. Jene edle Distanz bezeichnen wir mit einem schönen deutschen Wort als ‚Ehrfurcht‘.

Du fasst Vertrauen zu einem Menschen? Du meinst zu spüren, dass der andere dich achtet, und bist deshalb geneigt, dich ihm mitzuteilen und anzuvertrauen? Stell dir nun vor, du hättest dich getäuscht und es geschähe, was eigentlich niemals geschehen dürfte, dass nämlich der andere dir in distanzloser Manier zu nahe tritt, dein Vertrauen missbraucht und dich bloßstellt. Das wäre enttäuschend, und es täte dir weh!

Denke dir, es würde nötig, dass du bremsen musst, doch dummerweise hättest du zu wenig Abstand. Dann wäre eine Kollision unausweichlich.

Hast du genügend Achtung vor der Persönlichkeit deines Ehegatten (Freundes, Kindes, Nachbarn, Mitmenschen …) und bewahrst du so viel ehrfürchtige Distanz, dass du auch dann, wenn du einmal so richtig in ‚Fahrt‘ kommst, noch frühzeitig zu bremsen vermagst, damit du ihn nicht etwa verletzt? – Das wäre tugendhaftes ‚Distancing‘ im besten Sinn des Wortes!

Denke in diesem Zusammenhang an das Wort Jesu vom Ärgernis an den Kleinen und vom Mühlstein (vgl. Mt 18, 6)! Dabei geht es um mehr als nur darum, den anderen nicht mit einem Virus zu infizieren. Das ‚Ärgernis‘ verletzt die Seele eines Menschen, und an dieser Art von Grenzüberschreitung kann das Bild von Vater oder Mutter zerbrechen.

Übe ‚Distancing‘ indem du gewisse Grenzen so heilig hältst, dass du sie niemals überschreitest! Halte inne und überprüfe deine Standards!

Heute vor einem Jahr brannte Notre-Dame. – Wo man einander zu nahe tritt und die Sensibilität für das Heilige verliert, da ist das Unglück nicht fern, und recht schnell einmal ist Feuer unter dem Dach!

Weil in der gegenwärtigen Situation (dank Homeoffice, Homeschooling und Home-Isolation) viele Familien ganz neu aufeinander verwiesen sind, erhält im Schoß der Familie die Übung des ‚Distancing‘ eine große Aktualität. Achte auf deine Worte und wahre die Grenzen! Aber nicht nur auf deine Worte sollst du achten, sondern schon auf deinen Blick! Wie schaust du auf deinen Ehegatten? – auf deine Kinder? – auf deine Nachbarn? – und letztlich auf jeden Mitmenschen, in dem es das Bildnis deines Schöpfers zu ehren gilt?

Wird nicht die gelebte Ehrfurcht zu einer ‚distantia pretiosissima‘, wo Kinder im ganzen Verhalten ihres Vaters spüren, dass er die Mutter ehrt?

Wohin die Distanzlosigkeit mit tödlicher Konsequenz führt, sei noch an zwei traurigen Beispielen veranschaulicht:

Tödlich war das Corona-Virus bis heute für insgesamt etwa 128.000 Menschen. Der Herr gebe ihnen die ewige Ruhe! – Tödlich ist die Distanzlosigkeit durch den Verlust der Ehrfurcht vor dem Leben aber auch für deutlich mehr als 128.000 Opfer täglich (!!!), die im Schoß ihrer Mutter aus dem Leben gerissen werden. Grotesk dabei ist, dass das Morden an ungeborenen Kindern sogar in Corona-Zeiten zur ‚medizinischen Grundversorgung‘ zählt.

Schauen wir noch auf den desaströsen Zustand der Christenheit nach einem Konzil, das eigentlich zur kirchlichen Erneuerung gedacht gewesen wäre. Könnte es nicht sein, dass es der nachkonziliaren Christenheit vor allem und in erster Linie an Gottesfurcht fehlt? Wäre es nicht doch denkbar, dass es ein verheerender Fehler ist, das, was uns das ‚Allerheiligste‘ ist, in ungewaschene und ungeweihte Hände zu legen? – Ist das nicht eine Grenzüberschreitung in unverzeihlicher Distanzlosigkeit vor dem dreimalheiligen Gott?

Ich bin überzeugt, dass das Virus der Ehrfurchtslosigkeit mehr zu fürchten ist als jenes der Corona!

Nutzen wir die allgemeine Sensibilisierung für ‚Social Distancing‘ zur vertieften Reflexion über die grundlegende Bedeutung der Ehrfurcht! Wo Ehrfurcht vor Gott herrscht, da wird das Leben, da wird der Mensch, da werden Mann und Frau und Kind, da wird aber auch die Schöpfung geachtet, und die Grenzen der Schöpfungsordnung werden nicht überschritten.

Betrachten wir im Tagesevangelium des Ostermittwoch, mit welcher Ehrfurcht die Apostel dem Auferstandenen begegnet sind. Auch wenn die Osterfreude auf dem Grund ihrer Seele noch nicht ganz angekommen war, so mussten sie doch nicht fragen „Wer bist Du?“, denn „Sie wussten ja, dass es der Herr war“ (vgl. Joh 21, 14).
Gott segne Sie alle!
P. Martin Ramm FSSP


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