Die Schafe blöken – aber die Hirten schweigen

28. April 2020 in Kommentar


Schlechtwetterfront und Austrocknungsgefahr gefährden die Herde– „Welche wissenschaftliche Begründung gibt es dafür, dass Viren nur in der Kirche anders übertragen werden als in anderen öffentlichen Räumen?“ Gastkommentar von Veronika Marques Berg


Berlin (kath.net) Die derzeitige Krise bringt vieles ans Licht, legt es offen, stellt es klar vor Augen: Wer bin ich im Verhältnis zu meinem Beruf, wenn ich ihn nicht ausüben kann und ich neu meine Prioritäten setzen muss? Wer bin ich als Vater oder Mutter, wenn ich nun meine Kinder den ganzen Tag über betreue und selbst für ihren Fortschritt und Rückschritt verantwortlich bin? Auch in den Reihen der Gläubigen tauchen Fragen ganz grundsätzlicher Art auf: Was ist das kleine Schäfchen auf der Weide unserer mächtigen Oberhirten, wenn Gefahr droht und viele zu blöken beginnen, aber keiner sie hört? Was bedeutet den Bischöfen die sehr bedachte und sehr ernst gemeinte Bitte um die schnellstmögliche Ermöglichung gemeinsamer Gebetszeiten und Gottesdienste, wenn bei der ersten Gelegenheit, etwas für diese Herde zu tun, einfach das Kalenderblatt umgeblättert und der Wiederbeginn in eine eher ungewisse Zukunft verlegt wird?

Seit Wochen stellen sich gläubige Christen die immer gleiche existenzielle Frage: Wie kann es sein, dass die Bedenken, die von der Basis geäußert wurden, schlichtweg überhört werden oder zumindest keine sichtbare Resonanz erzeugen? Auf der Weide wird es unruhig. Hat man anfangs die Angst vor der Bedrohung, verursacht durch mögliche Pandemie-Szenarien, mit Verständnis aufgenommen und Geduld geübt, so überwiegt doch mittlerweile bei vielen das Unverständnis über die lange Dauer und die Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen.

Von vielen Seiten, nicht zuletzt vom Bundesverfassungsgericht, war zu hören, dass die große Einschränkung der Religionsfreiheit und deren Notwendigkeit „streng“ zu prüfen sei. Ist diese Prüfung denn mittlerweile erfolgt? Hat man von Seiten unserer Oberhirten auf eine Prüfung gedrängt, diese erwartet oder gar eingefordert? Nein, so weit wollte man gegenüber einem Staat, der das Grundrecht auf freie Religionsausübung radikal und ohne Wenn und Aber einschränkt, obwohl die Zahlen und Fakten seit Wochen wirklich gute Wetteraussichten verkünden – vorausgesetzt man schaut die Zahlen auch mal mit kritischem Blick an – dann doch nicht gehen. „In großem Einvernehmen“ hat man sich geeinigt in den nächsten Tagen oder Wochen Gespräche zu führen.

Die Schafe bekommen große Augen: wer spricht wann mit wem und worüber?

Hat man sich in Berlin nicht genau zu diesem Zweck am 17. April getroffen, nachdem die Bundesregierung das Verbot am 15. April in der gleichen Radikalität aufrecht erhalten hat? Wusste man denn nicht, wozu man nach Berlin fährt? War denn nicht schon seit fast einem Monat bekannt, dass die Frist der Corona-Verordnung eine Woche nach Ostern, am 19. April, neu überdacht und neu geregelt werden muss?

Fragen über Fragen! Das kleine Schaf auf der Weide hatte einfach gedacht, dass der Hirte davon weiß, dass man das Terrain manchmal genau abstecken muss, um fremde Ansprüche abzuwehren und um nicht etwa die Oase der Schäfchen oder den Platz der Futterkrippe aufzugeben!

Dass Gläubige dieses willige Nicken deutscher Bischöfe beider Konfessionen gegenüber einer nicht mehr nachvollziehbaren Maßnahme massiv infragestellen, wird auch am plötzlichen Ansteigen der Unterschriften einer Online-Petition deutlich. Seit dem 28. März werden dort konkrete Vorschläge unterbreitet, wie sie nun in Sachsen seit dem 20. April umgesetzt werden: eine beschränkte Zahl an Personen abgestimmt auf die Raumgröße, geordneter Einlass und Abstände in den Bänken. Die Unterschriften schnellten an den zwei Tagen nach der Absage in Berlin um 2000 Stimmen rasant und überdeutlich wieder in die Höhe.

Rebellion im Schafstall? Nein, ich glaube nicht. Man hört in den Kommentaren der Unterzeichner eher persönliche und überzeugt-zuversichtliche Töne, die beispielsweise zum Ausdruck bringen, dass „Gebet viel mehr bewirken kann als alle Einschränkungen und Maßnahmen“ und dass „gemeinsames Beten eine Kraft hat“. Andere formulieren, dass „es gerade in Krisenzeiten existenziell wichtig ist, Halt und Kraft aus der Gemeinde und der Gemeinschaft“ zu schöpfen und man „die Gemeinschaft braucht!“ Allen inzwischen 8000 Stimmen gemeinsam ist der sichere Unterton, der darauf besteht, dass jede Kirchengemeinde genauso wie alle anderen Einrichtungen in der Lage sei, Abstands- und Hygieneregeln im eigenen Kirchengebäude umzusetzen. „Eine Einhaltung aller geforderten Sicherheitsmaßnahmen ist möglich!“ So weit zu den Stimmen der Basis, die aus dem gemeinsamen Gebet leben möchte und aus dem verkündeten Wort und den Sakramenten wirklich ihre Lebenskraft und ihren Halt schöpft. Dies über Wochen hinweg und anders als im sonstigen öffentlichen Raum einzuschränken, empfindet man dann als „unverhältnismäßig.“

Die konkrete Frage an die Hirten bleibt ebenso seit Wochen unbeantwortet: wieso soll es nicht schon am 20. April möglich sein, die gleichen Regeln umzusetzen, die überall im öffentlichen Leben gelten? Welche wissenschaftliche Begründung gibt es dafür, dass Viren nur in der Kirche anders übertragen werden als in anderen öffentlichen Räumen? Wäre nicht hier, wo es um den Kern des christlichen Mysteriums geht, erforderlich, alles daran zu setzen, um eine Änderung herbeizuführen? Von einer Anstrengung war nichts zu spüren.

Deshalb titelten manche Schlagzeilen auch mit „Vertröstung“ der Kirchen. Die Schafe blöken – und viele weinen – schon weit im Vorfeld der derzeitigen Entscheidung.

Die Hirten aber schweigen – und das schon ziemlich lange. Eine sachliche Auseinandersetzung mit der Frage nach der staatlichen Berechtigung und nach der Verhältnismäßigkeit oder eine kritische Anfrage an die angeblichen Gründe gibt es nicht. Für viele Menschen, die gut informiert sind und die die tagesaktuellen Schlechtwetterprognosen zu hinterfragen gelernt haben, ist ein solcher Kurs des Hinhaltens der Gläubigen und des Hinauszögerns einer klaren Entscheidung nicht mehr plausibel und kaum mehr auszuhalten. In den Tagen nach dem 17. April wollte man „Gespräche führen“ und „vorbereitende Lösungen“ planen.

Nun sind weitere sieben Tage vergangen, aber es gibt keinerlei Meldungen dazu, auch nicht auf den Bistumsseiten. Wie lange man wohl braucht, um den kleinen Umbau des Stalls zu planen? Die zu bewältigenden Schritte sind gewaltig, so dass man wohl noch die nächsten Verbote abwarten muss, um die weitere Planung der nächsten Schritte schrittweise anzugehen. Das kleine Schaf, das sich schon im Desinfizieren der Hufe und in der Berechnung von Zwei-Meter-Abständen geübt hat, trottet enttäuscht aus seinem Stall. Es bleibt ihm wohl nur noch übrig davonzulaufen oder auf die Straße zu gehen.


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