„Ratzinger ist weltweit der wohl meistgelesene Theologe der Neuzeit“

15. Mai 2020 in Interview


Benedikt-XVI.-Biograph Peter Seewald: „Es gibt eine deutliche Diskrepanz zwischen der Rezeption durch gut dotierte Professoren an Unis und der Rezeption durch Volk, Priester, Studenten, kirchliche Mitarbeiter“. kath.net-Interview von Petra Lorleberg


Vatikan-München (kath.net/pl) „Inzwischen dominieren wieder die Stimmen in den Leitmedien, die mit ihrer immer gleichen Leier die Erzählung vom rückschrittlichen Ratzinger und seinem gescheiterten Pontifikat durchsetzen wollen, auch wenn dieses Narrativ der historischen Wahrheit nicht standhält.“ Das erläutert der bekannte Journalist, Autor Peter Seewald im kath.net-Interview. Soeben wurde seine ausführliche Biographie von Papst Benedikt XVI./Joseph Ratzinger veröffentlicht, die viel gekauft und beachtet wird.

 

kath.net: Herr Seewald, Sie haben Kardinal Ratzinger Anfang der 90er Jahre kennengelernt. Zunächst war das eine rein berufliche Begegnung, die Sie mit professionellem Herzblut angegangen waren, doch bald wurde daraus mehr. Würden Sie heute im Rückblick von einem providentiellen Einschnitt in Ihr Leben sprechen?

 

Seewald: Sagen wir so: Ich war bereits auf dem Weg, und auf diesem Weg stand dann jemand, der sehr viel Geduld mit mir hatte. Dessen Antworten konnten zwar nicht alles erklären, aber sie halfen mir, Fragen unserer Zeit und auch meine persönlichen Glaubensfragen zu überdenken. Dass sich daraus eine das weitere Leben prägende Aufgabe entwickelt, hat man nicht selbst in der Hand. Es gibt in diesem Zusammenhang ein schönes Wort von Ratzinger, das bestimmt nicht nur auf ihn zutrifft. Der damalige Kardinal sagte in einem unserer Gespräche: „Mein Leben setzt sich nicht aus Zufällen zusammen, sondern jemand sieht voraus und geht mir sozusagen auch voraus und denkt mir voraus und richtet mein Leben zu. Ich kann mich dem verweigern, aber ich kann es auch annehmen, und dann merke ich, dass ich wirklich von einem ‚vorsehenden’ Licht geführt bin.“

 

kath.net: Hat man Sie eigentlich schon mal als „Panzerkatholik“ bezeichnet?

 

Seewald: Nein, da hab’ ich bisher Glück gehabt. Der Wiener Pastoraltheologe Paul Zulehner hat mich lange Zeit als „Dunkelkatholik“ geführt, nahm das dann aber zurück, nachdem wir uns persönlich begegnet waren. Aber es gab immer wieder einmal Versuche, mich in eine bestimmte Ecke zu drücken.

 

Umgekehrt habe ich gesehen, dass einige sich als besonders kritisch und fortschrittlich gebärdende Journalisten nicht davor zurückschrecken, etwa einen Film über Papst Benedikt als Meisterwerk zu feiern, obwohl dieser nicht nur besonders langweilig, sondern auch offen geschichtsfälschend ist.

 

kath.net: Die Rezeption von Ratzinger/Benedikt XVI. in Deutschland ist naturgemäß von Pro und Kontra geprägt. War und ist die innerkirchliche Rezeption des deutschen Theologen, der dann auf den Papstthron kam, aber wirklich im Maß des normalen und gesunden Pro und Kontra geblieben?

 

Seewald: Na gut, dass weiß und sieht jeder, dass das nicht der Fall ist. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Ratzinger mit seinen Millionenauflagen weltweit der wohl meistgelesene Theologe der Neuzeit ist. Es gibt also eine deutliche Diskrepanz zwischen der Rezeption durch gut dotierte Professoren an den Unis und der Rezeption durch das Volk; oder auch durch Priester, Studenten, kirchliche Mitarbeiter. Etliche dieser Professoren profilieren sich dann nicht etwa durch eigene Leistung, sondern dadurch, indem sie keine Gelegenheit auslassen, in den Medien über Benedikt XVI. herzuziehen.

 

kath.net: … und außerhalb des binnenkatholischen Milieus, schauen wir auf die Ökumene in Deutschland, auf Politik und Medien, wie stand und steht es hier?

 

Seewald: Es gibt nicht wenige Protestanten, die eine große Nähe zu Ratzinger haben. Er gilt unter ihnen als ein Leuchtturm, an dem man sich ausrichten kann, um nicht den Kurs zu verlieren. Der evangelische Pfarrer der Christus-Kirche in Rom, Jens-Martin Kruse, betonte im März 2010, Benedikt XVI. greife die großen Fragen und Themen der Zeit auf. Wer diesem Mann begegne, treffe einen Christen, der sich nicht selbst oder sein eigenes Amt in den Mittelpunkt stelle, sondern Christus – „auf eine überzeugende Weise, die ihn zu einem Modell des Glaubens auch für Lutheraner macht“.

 

Und auch in der Medienlandschaft gibt es unzählige Kollegen, die sich nicht vom Mainstream einnebeln lassen und eine differenzierte Berichterstattung betreiben. Ich erinnere an die ersten Jahre des Pontifikats, als die notorischen Ratzinger-Kritiker Rotz und Wasser heulten, weil es ja garnicht mehr möglich sei, ein kritisches Wort über den deutschen Papst zu sagen.

 

Inzwischen dominieren wieder die Stimmen in den Leitmedien, die mit ihrer immer gleichen Leier die Erzählung vom rückschrittlichen Ratzinger und seinem gescheiterten Pontifikat durchsetzen wollen, auch wenn dieses Narrativ der historischen Wahrheit nicht standhält. Die herrschende Geschichtsschreibung ist immer die Geschichtsschreibung der Herrschenden, wusste Karl Marx. Das nimmt jene, die in oder über diverse Medien herrschen, nicht aus.

 

kath.net: Wieso ballen sich eigentlich auf Ratzinger/Benedikt XVI. solche Unmengen an Ablehnung?

 

Seewald: Das hat zunächst historische Ursachen. Nach dem Konzil standen sich bald zwei theologisch und kirchenpolitisch sehr unterschiedliche Lager gegenüber, die beide um die Deutungshoheit über das Vatikanum kämpften. Ratzinger hatte den Modernisierungsschub durch das Konzil maßgeblich mitbetrieben, er war aber auch einer der ersten, die vor der Umdeutung der Konzils-Beschlüsse warnte. Für ihn gab es eine richtige und eine falsche Auslegung dessen, was die Väter gewollt hatten.

 

Wie seine Mitstreiter, beispielsweise Henri de Lubac, begriff sich Ratzinger als moderner, progressiver Theologe, der für eine Erneuerung des Glaubens kämpfte.

 

Er forderte allerdings, die Suche nach dem Zeitgemäßen dürfe nie zu einer Preisgabe des Gültigen führen. Als einer der führenden Köpfe, die sich dem Missbrauch des Konzils entgegenstellten, bekam Ratzinger das Etikett eines Renegaten aufgedrückt.

 

In George Orwells „Farm der Tiere“ ist der Prozess sehr gut beschrieben, auf welche Weise neu dominierende Mächte versuchen, oppositionelle Kräfte auszuschalten, die an den ursprünglichen Absichten einer Reform festhalten wollen. Zur psychologischen Kriegsführung gehören dann auch Legenden wie die von der großen Wende, von der Rückentwicklung eines ehemaligen Progressiven zu einem Reaktionär und so weiter.

 

Der Hauptverantwortliche für das Zerrbild von Joseph Ratzinger, mit Stereotypen wie die vom „Großinquisitor“ oder auch vom „Schattenpapst“, ist Hans Küng. Natürlich hat sich auch Ratzinger selbst durch seine Unbeirrbarkeit im Amt des Glaubenshüters zur Zielscheibe gemacht. Aber hätten genügend Journalisten das „Wording“ Küngs kritisch nachgefragt, hätte es einen „Panzerkardinal“ nie gegeben.

 

kath.net: Kirchenleute auf Kleriker- und Laienseite, die in Benedikts Pontifikat vor Kritik im Dreieck sprangen, entdeckten dann plötzlich im Pontifikat von Franziskus ihre völlig papsttreue Seite. Brauchen Sie Humor, um das zu ertragen?

 

Seewald: Humor ist immer wichtig. Gerade auch im Ertragen kirchlicher Entwicklungen. Sonst würde man vielleicht depressiv oder auch verrückt werden; oder resignieren.

 

 Was Sie da beschreibe, könnte man wirklich für eine Pointe der Geschichte halten.

 

„Papsttreu“ zu sein galt unter Johannes Paul II. und Benedikt XVI. in gewissen Kreisen fast schon als das schlimmste, was man über einen Menschen sagen konnte. Stattdessen wurde jede Papstkritik gefeiert wie ein Tor in einem Championsleage-Spiel.

 

Heute ist es genau umgekehrt. Kritik an Papst Franziskus gilt bei den früheren Papstkritikern plötzlich als blanker Frevel. Bergoglio würde von den „Wölfen“ im Vatikan an die Wand gedrückt, heißt es dann. Was bei dem kräftigen und durchaus machtbewussten Franziskus eigentlich kaum vorstellbar ist.

 

Umgekehrt gibt es aber auch jene ehemals stets auf Papsttreue achtende Katholiken, die plötzlich kein Problem damit haben, einen rechtmäßig amtierenden Pontifex als Häretiker zu bezeichnen. Sie wollen nicht anerkennen, dass mit Bergoglio eine andere Mentalität und auch ein anderes Charisma verbunden ist.

 

Man muss nicht alles gut finden, was im Pontifikat von Papst Franziskus passiert. So wie auch viele nicht alles gut fanden, was unter Wojtyla und Ratzinger geschah. Aber eines sollte doch immer klar sein: Der Papst ist der Papst!

 

kath.net: Wenn Sie für die katholische Kirche in Deutschland, so wie sie aktuell von dem schmerzlichen binnenkirchlichen Graben geprägt ist, einen Wunsch freihätten, was würden Sie ihr wünschen?

 

Seewald: Oh je, nur einen einzigen frommen Wunsch? Vielleicht ginge der so: Liebe Kirche in Deutschland, bitte nimm dich nicht so wichtig. Und versammle dich weniger in Diskussionsforen, sondern wieder mehr zu Andachten und Gottesdiensten.


kath.net-Buchtipp
Benedikt XVI.
Ein Leben
Von Peter Seewald
Hardcover, 1184 Seiten
2020 Droemer/Knaur
ISBN 978-3-426-27692-1
Preis Österreich: 39.10 EU

 

Peter Seewald, Titelblatt der englischsprachigen Ausgabe: ´Benedict XVI, The Biography´

 


Pressefoto Peter Seewald

 



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