Berg-Karabach: Armenischer Erzbischof ruft EU zum Eingreifen auf

8. Oktober 2020 in Weltkirche


Erzbischof Minassian berichtet über Fluchtbewegung aus Dörfern, die durch die aserbaidschanische Offensive überrollt wurden - "Dieser Wahnsinn muss gestoppt werden"


Rom/Jerewan (kath.net/KAP) Der armenisch-katholische Erzbischof Raphael Francois Minassian hat ein Eingreifen der Europäischen Union im neu aufgeflammten Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach gefordert. "Wir bitten nicht um Ratschläge für einen Waffenstillstand, sondern um konkrete Maßnahmen, damit der bewaffnete Konflikt ein für allemal beendet wird", sagte Minassian im Interview der italienischen katholischen Nachrichtenagentur SIR. "Menschliches Leben ist viel kostbarer als Öl und Gas. Lassen Sie uns verhindern, dass eine Handvoll Dollar einen Krieg auslöst und Menschen sterben lässt. Dieser Wahnsinn muss gestoppt werden", so der Erzbischof in seinem aufrüttelnden Appell.

In Armenien herrsche angesichts der Kämpfe große Furcht, schilderte Minassian in dem am Dienstag geführten Gespräch. Würden die "ständigen Aggressionen" nicht gestoppt, drohe sich der Konflikt auszuweiten, warnte der Erzbischof. Es bestehe die Gefahr, dass derselbe Fehler begangen wird, "der zum Völkermord von 1915 geführt hat", erinnerte er an den Genozid der jungtürkischen Machthaber an den Armeniern, gegen den die damaligen Verbündeten des Osmanischen Reichs - Deutschland und Österreich-Ungarn - nicht eingegriffen hatten.

In der Konfliktregion im Südkaukasus kommt es laut Agenturberichten vom Mittwoch weiter zu schweren Kämpfen. Die Gefechte seien entlang der gesamten Front fortgesetzt worden, teilte Aserbaidschans Verteidigungsministerium in der Hauptstadt Baku mit. Nach ersten Schätzungen sei mittlerweile etwa die Hälfte der Bevölkerung Berg-Karabachs auf der Flucht, darunter etwa 90 Prozent aller Frauen und Kinder, sagte der Bürgerbeauftragte von Berg-Karabach, Artak Belgarjan, am Mittwoch der Nachrichtenagentur AFP.

Erzbischof: Krieg zerstört Leben

Erzbischof Minassian betonte im SIR-Interview, die armenisch-katholische Kirche bemühe sich vor allem um die Hilfe für die Flüchtlinge aus den Dörfern an der Grenze von Bergkarabach, die beim Vormarsch der Armee Aserbaidschans überrollt worden seien. Es gehe um 1.200 Familien, die dringend der Hilfe bedürfen. Die armenisch-katholische Kirche habe bereits Kontakt mit der spanischen Caritas aufgenommen. Es gehe um "Tropfen auf den heißen Stein", aber "auch die Tropfen füllen die Ozeane".

Von der Frontlinie würden täglich Verwundete in den Krankenhäusern von Jerewan eintreffen, "vor allem junge Leute im Alter zwischen 17 und 24". Es fehle an Medikamenten und Prothesen, so Erzbischof Minassian. Der Erzbischof ließ keinen Zweifel: "Die Kriegsverletzungen sind hier die selben wie überall anders in der Welt, wo das Leben junger Menschen kaputt gemacht wird."

Die Kriegshandlungen lösten noch mehr Armut in der armenischen Bevölkerung aus, weil in diesem Moment "alle Anstrengungen der Regierung auf die Verteidigung der Grenzen ausgerichtet sind". Es handle sich um einen äußerst schwierigen Augenblick. Das Volk in Armenien sammle sich in den Kirchen, betonte der armenisch-katholische Erzbischof. Er habe die Gotteshäuser in Armenien noch nie so voll gesehen wie jetzt. In den Kirchen seien vor allem die Eltern der jugendlichen Soldaten an der Front, es sei "das Zeugnis eines christlichen Volkes, das im Glauben verwurzelt ist".

Die ehemaligen Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan liefern sich seit Jahrzehnten einen erbitterten Konflikt um die Region im Südkaukasus, die mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird. Vor eineinhalb Wochen sind die Kämpfe neu entbrannt. Die selbsternannte Republik Berg-Karabach wird international nicht anerkannt und gilt völkerrechtlich als Teil Aserbaidschans.

Appell aus Venedig

Unterdessen hat der katholische Patriarch von Venedig, Francesco Moraglia, seine Solidarität mit dem armenischen Volk bekundet: "Ich drücke meine Gefühle der besonderen Nähe zu dem geliebten und so sehr leidenden armenischen Volk aus, angesichts der dramatischen Stunde, die es derzeit erlebt", schrieb er laut Pro-Oriente-Informationsdienst (Mittwoch) in einer Botschaft. Die italienische Lagunenstadt beherbergt seit mehr als drei Jahrhunderten die Mutterabtei der armenischen Mechitaristen-Kongregation auf der Insel San Lazzaro.

Moraglia rief zum Gebet auf, damit "so bald wie möglich der Frieden in diesen gequälten Ländern wieder einkehrt und die Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben wiederhergestellt werden können". Er hoffe auf die  Repräsentanten aller Mächte, die auf der internationalen Bühne einen Beitrag leisten können, "damit der Frieden im Kaukasus wiederhergestellt wird".

Griechische Kirche solidarisch mit Armenien

Auch das Oberhaupt der orthodoxen Kirche von Griechenland, Erzbischof Hieronymos (Liapis) von Athen, hat die Verbundenheit seiner Kirche mit Armenien in der Auseinandersetzung mit Aserbaidschan betont. Die griechische Kirche überbringe "dem leiderprobten Armenien tiefempfundene Unterstützung und Sympathie angesichts dieser schrecklichen, blutigen und gewaltsamen Prüfung", heißt es in einem Brief des Erzbischofs von Athen an den armenisch-apostolischen Katholikos-Patriarchen Karekin II., und weiter wörtlich: "Wir beten mit Ihnen, wir nehmen Anteil am ihrem Leid und ihrer Angst, in voller Solidarität mit Ihnen und dem geliebten armenischen Volk."

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