„Freiheit - ohne Kreuz?“

14. Oktober 2020 in Buchtipp


„Befreiung am Kreuz vorbei ist für Christen nicht denkbar. Das Kreuz kommt bei Marx jedoch nicht vor, so als wollte er seinen Gang über den Tempelberg in Jerusalem 2016 bestätigen.“ Rezension zu „Reinhard Marx, Freiheit“. Von Manfred Spieker


München (kath.net/Die Neue Ordnung) Es ist nicht leicht, einem Buch von gerade einmal 175 Seiten gerecht zu werden, das einen derart ambitiösen Titel trägt. Reinhard Marx will die Sprache des Glaubens im Kontext der Freiheit erneuern. Sein bischöflicher Wahlspruch aus dem 2. Korintherbrief „Wo aber der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“ wäre durchaus ein geeigneter Anknüpfungspunkt gewesen (S.10), ebenso die von ihm zitierte Stelle aus dem Galaterbrief, nach welcher in der Beziehung des Menschen zu Gott Gott der Handelnde ist, der uns zur Freiheit befreit (S.40).


Das Buch besteht aus zwei Teilen, die kaum mehr als den Bucheinband gemeinsam haben. Im ersten Teil bietet Marx einige grundsätzliche Überlegungen zur Freiheit und zur Rolle der Kirche in der Geschichte der Moderne, die als Freiheitsgeschichte gedeutet wird. Im zweiten Teil versucht er sich daran, den „synodalen Weg“ der katholischen Kirche in Deutschland zu legitimieren. Eine tragfähige Brücke zwischen den beiden Teilen ist nicht zu erkennen.


Im zentralen Kapitel des ersten Teils will Marx „der Freiheit auf den Grund gehen“ (S.31). Er beginnt mit der Exodus-Geschichte des Alten Testaments (S.31). Sie sei eine Geschichte der Befreiung, aber auch der Furcht vor der Freiheit. Ein wirklich gutes Leben, ein Leben, das unserer Idee von Glück und Gelingen entspreche, sei ohne Freiheit nicht vorstellbar. Diese Freiheit habe zwei Seiten, die Freiheit von etwas und die Freiheit für etwas. Im Buch Exodus gehe es nicht nur um die Befreiung aus der Knechtschaft, sondern auch um einen neuen Bundesschluss. Erst in der neuen Bindung vollende sich die Freiheit, „und zwar letztlich in der Liebe, der tiefsten menschlichen Bindung“ (S.34). Dass die Freiheit „ihren Zielpunkt in der Liebe findet“ (S.24 und 164), könnte so etwas wie ein roter Faden des Buches sein. Aber für eine auch nur halbwegs systematische Reflexion dieses Gedankens scheint Marx nicht die Ruhe gefunden zu haben. Entsprechend wirken die immer wieder eingestreuten Zitate von Kant bis Habermas und von Adam Smith bis Paul Kirchhof eher aufgesetzt. Darüber hinaus bleiben Hinweise auf die katholische Soziallehre als Ausdruck der sozialen Liebe des christlichen Glaubens sowie der Sicherung wie auch der Begrenzung der Freiheit für einen Bischof, der als Professor einmal das Fach Christliche Gesellschaftslehre unterrichtet hat, merkwürdig dünn. Die Enzykliken „Deus Caritas est“ und „Caritas in Veritate“ von Benedikt XVI. kommen nicht vor. Gerade „Deus Caritas est“ zeigt die soziale Dimension der Liebe.


Die kritischen Anmerkungen zur Rolle der Kirche in der Geschichte der Moderne liegen auf der Linie des auch mehrfach zitierten Kirchenhistorikers Hubert Wolf. Die Kirche habe die Anerkennung der Freiheit der Person in Fragen der Weltanschauung und des Glaubens „offensichtlich nur als Machtverlust sehen und von daher bekämpfen“ können. Es sei „eine große Tragödie, dass die Geschichte der Freiheit und die Geschichte des Christentums und der Kirche sich voneinander entfernten und gelegentlich sogar feindlich gegenüberstanden, zuweilen bis heute“ (S.59). Eine Kirche, „die in einer rein negativen Sicht der Moderne verharrt und sich zurückträumt in eine idealisierte Vergangenheit, in der die Wahrheit des Christentums von einigen Wenigen interpretiert und verwaltet allen Menschen aufoktroyiert werden könnte“, sei überholt und deshalb zu verhindern. Dass solche Stimmen „vermehrt zu hören“ seien, beunruhige ihn (S.64). Leider nennt Marx nicht eine einzige dieser „vermehrt zu hörenden Stimmen“.


Eine für einen Sozialethiker erstaunliche Blindheit zeigt seine Behauptung, die Kirche sei zwar „eingetreten für die Freiheit, aber eben für die Freiheit der Kirche, weniger für die Freiheit der Menschen“. Erst das II. Vatikanische Konzil habe „neue Perspektiven eröffnet“ (S.64f.). Wofür ist Papst Leo XIII. denn eingetreten, als er mit der Enzyklika „Rerum Novarum“ 1891 für die Koalitionsfreiheit der Arbeiter und ihre menschenwürdige Behandlung stritt? Oder die Kirche in Polen, die während der kommunistischen Herrschaft unter der Führung von Kardinal Stefan Wyszynski und dem Krakauer Weihbischof Karol Wojtyla schon vor dem Konzil für die Freiheit aller Polen eintrat? Diesen Kampf um Freiheit und Menschenrechte hat Wojtyla später als Papst Johannes Paul II. auf seinen Reisen in die Militärdiktaturen Lateinamerikas und Asiens mutig weitergeführt. Im übrigen hat das Konzil die Kirche nicht gegen die Versuchung immunisiert, manchmal mehr die eigene Freiheit im Auge zu behalten als die Freiheit der Völker, wie die vatikanische Ostpolitik unter Kardinal Casaroli zeigte, der Papst Johannes Paul II. nach seinem Amtsantritt 1978 ein schnelles Ende bereitete.


Auch seine Behauptung, es sei in der Theologie bis zum II. Vatikanischen Konzil „eine offene Frage“ geblieben, „wie die Geschichte der Menschen und somit auch die Geschichte der Freiheit mit der Geschichte des Reiches Gottes verwoben sein“ könne (S.55), sagt mehr aus über den Autor als über die Geschichte der Theologie. Zum einen ist das Verhältnis von „Civitas Dei“ und „Civitas Terrena“ nicht erst seit Augustinus‘ „De Civitate Dei“ ein Dauerbrenner der Theologie. Zum anderen hat auch das II. Vatikanische Konzil darauf keine abschließende Antwort gegeben. So berechtigt Marx‘ Warnungen vor einer „Entpolitisierung des Glaubens“ einerseits und vor einer „Sakralisierung und Politisierung der Religion“ andererseits sind - die Frage nach der „Korrelation der Realgeschichte und der Verkündigung vom Reich Gottes“ (S.55f.) wird bis zum Ende der Tage offen bleiben.   


Im zweiten Teil seines Buches versucht Marx, in verschiedenen Anläufen den „Synodalen Weg“ der katholischen Kirche in Deutschland als Lösung aller kirchlichen Probleme zu präsentieren. Eine Kirche, die „im Dienst der Freiheit“ stehe, müsse „die Zeichen der Zeit im Licht des Evangeliums“ deuten. Die „Zeichen der Zeit“ seien ein „locus theologicus“, der noch zu wenig systematisch reflektiert werde (S.95). Diese systematische Reflexion liefert auch Marx nicht. Er scheint sich nicht einmal der Probleme bewusst zu sein, die entstehen, wenn die „Zeichen der Zeit“ zu einem „locus theologicus“, also zu einer theologischen Erkenntnisquelle neben der Heiligen Schrift und der Tradition der Kirche, werden. Wer soll bestimmen, was die „Zeichen der Zeit“ sind? Nach welchen Kriterien sollen sie bestimmt werden? Bei Peter Hünermann, einem der Protagonisten der „Zeichen-der-Zeit“-Theologie, hätte Marx das Eingeständnis finden können, dass es keine Kriterien zur Bestimmung der „Zeichen der Zeit“ gibt. Wenn die „Zeichen der Zeit“ neben Schrift und Tradition einen dogmatischen Rang erhalten, wird die Dogmatik dem Urteil des Historikers, des Journalisten oder des Demoskopen anheimgegeben. Man mag sich gar nicht vorstellen, von welchen „Zeichen der Zeit“ eine solche Theologie 1914, 1933, 1968 oder 1990 ausgegangen wäre oder 2020 nach der Corona-Pandemie ausgehen würde. Marx umgeht alle diese Fragen und unterstellt, dass der „Synodale Weg“ die richtigen „Zeichen der Zeit“ aufgreift: „die Fragen nach Macht, Partizipation und Gewaltenteilung, nach der Rolle der Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche, nach Zölibat und Sexualmoral“ (S.105).


Ein weiterer Anlauf, den „Synodalen Weg“ als notwendig zu erklären, ist sein Hinweis auf die von der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegebene Studie, die den sexuellem Missbrauch im Raum der katholischen Kirche aufklären sollte – nach der Herkunft der beauftragten Forscher (Mannheim, Heidelberg und Gießen) kurz MHG-Studie genannt (S.104f.). Diese Studie habe genau jene Fragen aufgeworfen, die der „Synodale Weg“ behandeln soll. Eine kritische Reflexion dieser Studie erspart sich Marx ebenso wie eine Begründung dafür, dass die Themen des „Synodalen Weges“ etwas mit dem sexuellen Missbrauch im Raum der Kirche zu tun haben sollen. Die kritischen Einwände gegen den „Synodalen Weg“, sowohl von deutschen Bischöfen als auch von Papst Franziskus in seinem Brief an die deutschen Katholiken vom 29. Juni 2019, werden nicht einmal erwähnt. Die Behauptung, im Prozess des „Synodalen Weges“ würden „die verschiedenen Perspektiven, Ideen und auch Sorgen“ bezüglich der Zukunft der Kirche in Deutschland „gemeinsam bedacht und weitergeführt“ (S.92), findet weder im Buch noch im bisherigen Verlauf des „Synodalen Weges“ eine Bestätigung. Mehrfach proklamiert Marx, dass sich die Kirche „am Anfang einer neuen Epoche des Christentums und damit auch der Theologie“ befinde (S.95 und 104). Er warnt vor einer „autoritären Restauration“, für die er wiederum jeden Beleg vermeidet, die aber durch den „Synodalen Weg“ verhindert werden solle.


Es gehe darum, so der letzte Satz seines Buches, „dem Evangelium neue Strahlkraft zu geben, wenn wir von einem Gott sprechen, der uns durch Christus hindurch in die wahre Freiheit führt und wirklich erlöst“ (S.164). Ein schöner Satz! Wer wird ihn sich nicht zu eigen machen wollen? Allerdings: Im Mittelpunkt der Erlösung durch Christus stehen Kreuz und Auferstehung. Eine Befreiung am Kreuz vorbei ist für Christen aller Konfessionen nicht denkbar. Das Kreuz kommt bei Marx jedoch nicht vor. Auf keiner der 175 Seiten wird es auch nur erwähnt – als wollte er mit diesem Buch seinen Gang über den Tempelberg in Jerusalem am 20. Oktober 2016 bestätigen, bei dem er, wie auch der evangelische Bischof Heinrich Bedford-Strohm, das Kreuz abgenommen hatte. Sein bischöflicher Wahlspruch „Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“ bleibt gültig. Aber seit Petrus und Paulus wird diese Freiheit durch das Kreuz besiegelt.

Prof. Dr. Manfred Spieker ist emeritierter Professor für Christliche Sozialwissenschaften am Institut für Katholische Theologie der Universität Osnabrück.

Archivfoto: Kardinal Marx mit Brustkreuz im Jahra 2012 (c) kath.net

 


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