Freude, ihr Brüder!?

26. Oktober 2020 in Aktuelles


Benedikt XVI. – Licht des Glaubens: diese auf den ersten Blick so sympathisch scheinende Konzeption verfehlt mit der Sache des Christentums auch die der wahren Menschlichkeit. Von Armin Schwibach


Rom (kath.net/as) „Brüderlichkeit“, oder auch – genderneutral – „Geschwisterlichkeit“ – ein in gewissen Kreisen der Kirche trendender Begriff, und dieser führt uns zum Dichter Friedrich Schiller und der „Freude“, der er eine Ode singt, die sich in der 1808 veröffentlichten Version so anhört:

„Freude, schöner Götterfunken,

Tochter aus Elisium,

Wir betreten feuertrunken,

Himmlische, dein Heiligthum.

Deine Zauber binden wieder,

Was die Mode streng getheilt,

Alle Menschen werden Brüder,

Wo dein sanfter Flügel weilt“.

„Freude“ also – aber: welche Freude? „Brüder“, aber: welche Brüder? Jene Brüder von denen der Apostel Johannes in seinem ersten Brief schreibt: „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht“ (1 Joh 4,20)? Es ist zu erkennen: „Bruder“ – ein zutiefst christliches Wort, das in der Verschränkung von Göttlichem und Menschlichem zu stehen kommt, im Kreuzungspunkt des Vertikalen mit dem Horizontalen seinen Sinn findet und zur Ausdrucksform des wahren Menschlichen wird, im Prozess der „Theiosis“, des sich Gott annähernden Menschen als Mensch und als Menschengeschlecht der Kinder Gottes in der einen Wahrheit.

Gerade deshalb ist es in der Moderne Ziel einiger geworden, dieses Wort seines Transzendenzbezugs zu berauben und es auf die Oberfläche des rein Horizontalen und Historischen herabzudeklinieren, um es in neuer praktischer Form jenseits des Strebens nach der Wahrheit instrumentalisieren zu könne. Das ist im Sinne des Christentums ein Missbrauch, und man muss nicht erst (und nicht nur) zu den Freimaurern gehen, um diese Spur erkennen zu können (Papst Leo XIII. hatte sie erkannt, der selige Pius IX. ebenso und der heilige Pius X. lieferte besondere „Waffen“, um diesen Kampf richtig ausfechten zu können). Ohne die Wahrheit Christi und dessen Kult gibt es allenfalls den Anderen in der Form irgendeines Zusammenlebens.

„Die Zwecklosigkeit der einfachen Anbetung ist die höchste Möglichkeit des Menschseins und erst seine wahre und endgültige Befreiung“: wie erklärte diesen Zusammenhang 1968 der Theologe Joseph Ratzinger in seiner „Einführung in das Christentum“? (Nur nebenbei angemerkt: ist es nicht ein Skandal, dass es, verschuldet durch den „Geist des Konzils“, nach 2000 Jahren Christentum eine „Einführung“ brauchte?) Ratzinger schreibt im Kontext derer, die das Christentum auf das Menschliche reduzieren wollen:

„Im Blick auf die Liebesbotschaft des Neuen Testaments drängt heute immer mehr eine Tendenz nach vorn, die christlichen Kult vollständig in Bruderliebe, in ‚Mitmenschlichkeit’́ auflösen und keine direkte Gottesliebe oder Gottesverehrung mehr zulassen will: Nur noch die Horizontale wird anerkannt, die Vertikale der unmittelbaren Beziehung zu Gott verneint.

Vom Gesagten aus ist wohl unschwer einzusehen, warum diese auf den ersten Blick so sympathisch scheinende Konzeption mit der Sache des Christentums auch die der wahren Menschlichkeit verfehlt. Die sich selbst genügen wollende Bruderliebe würde gerade so zum äußersten Egoismus der Selbstbehauptung werden. Sie verweigert ihre letzte Offenheit, Gelassenheit und Selbstlosigkeit, wenn sie nicht auch noch die Erlösungsbedürftigkeit dieser Liebe durch den annimmt, der allein wirklich genügend liebte. Und sie tut bei allem“. Wohlwollen letztlich dem anderen und sich selber Unrecht, weil der Mensch sich nicht im Zueinander der Mitmenschlichkeit allein vollendet, sondern erst im Miteinander jener zwecklosen Liebe, die Gott selbst verherrlicht. Die Zwecklosigkeit der einfachen Anbetung ist die höchste Möglichkeit des Menschseins und erst seine wahre und endgültige Befreiung“ (Einführung in das Christentum, 271).

Und die Freude der Götterfunken, die dann alle ins Elysium der Brüderlichkeit oder des Geschwistertums führen soll? „Gaudium et spes“ heißt eine Konstitution des II. Vatikanums, gerade jenes Dokument, das im Moment seiner Veröffentlichung bereits veraltet und Ausdruck eines beschränkten und auch blauäugigen Zeitgeistes war. Denn: gibt es eine „Freude“, die vom Leiden absieht? Und wie kommt der Mensch zum Mit-leiden mit dem Bruder? „Spe salvi facti sumus“ – auf Hoffnung hin sind wir gerettet, sagt Paulus den Römern und uns (Röm 8, 24), und mit diesen Worten begann Benedikt seine zweite Enzyklika.

 

Bendikt XVI. „Spe salvi“, 30. November 2007 (39-40):

„Leiden mit dem anderen, für die anderen; leiden um der Wahrheit und der Gerechtigkeit willen; leiden aus Liebe und um ein wahrhaft Liebender zu werden – das sind grundlegende Elemente der Humanität, die abzustreifen den Menschen selbst zerstören würde. Aber noch einmal erhebt sich die Frage: Können wir das? Ist der andere gewichtig genug, daß ich seinetwegen selbst ein Leidender werde? Ist mir die Wahrheit gewichtig genug, daß sie des Leidens lohnt? Und ist die Verheißung der Liebe so groß, daß sie die Gabe meiner selbst rechtfertigt? Dem christlichen Glauben kommt in der Geschichte der Humanität gerade diese Bedeutung zu, daß er im Menschen auf neue Weise und in neuer Tiefe die Fähigkeit zu diesen für seine Menschlichkeit entscheidenden Weisen des Leidens entbunden hat. Er hat uns gezeigt, daß Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe nicht bloß Ideale, sondern Wirklichkeit dichtester Art sind.

Denn er hat uns gezeigt, daß Gott, die Wahrheit und die Liebe in Person, für uns und mit uns leiden wollte. Bernhard von Clairvaux hat das großartige Wort geprägt: Impassibilis est Deus, sed non incompassibilis – Gott kann nicht leiden, aber er kann mitleiden. Der Mensch ist Gott so viel wert, daß er selbst Mensch wurde, um mit dem Menschen mit-leiden zu können, ganz real in Fleisch und Blut, wie es uns in der Passionsgeschichte Jesu gezeigt wird. Von da aus ist in alles menschliche Leiden ein Mitleidender, Mittragender hineingetreten; in jedem Leiden ist von da aus die con-solatio, der Trost der mitleidenden Liebe Gottes anwesend und damit der Stern der Hoffnung aufgegangen. Gewiß, in unseren verschiedenen Leiden und Prüfungen brauchen wir immer auch unsere kleinen oder großen Hoffnungen – auf einen freundlichen Besuch, auf Heilung innerer und äußerer Wunden, auf einen guten Ausgang aus einer Krise usw.

In unbedeutenderen Prüfungen mögen diese Typen von Hoffnung auch genügen. Aber in wirklich schweren Prüfungen, in denen ich mich definitiv entscheiden muß, die Wahrheit dem Wohlbefinden, der Karriere, dem Besitz vorzuziehen, wird die Gewißheit der wahren, großen Hoffnung, von der wir gesprochen haben, nötig. Deswegen auch brauchen wir die Zeugen, die Märtyrer, die sich ganz gegeben haben, um es uns von ihnen zeigen zu lassen – Tag um Tag. Auch in den kleinen Alternativen des Alltags das Gute der Bequemlichkeit vorzuziehen – wissend, daß wir gerade so das Leben selber leben. Sagen wir es noch einmal: Die Fähigkeit, um des Wahren willen zu leiden, ist Maß der Humanität. Aber diese Leidensfähigkeit hängt an der Weise und an dem Maß der Hoffnung, die wir in uns tragen und auf die wir bauen. Weil die Heiligen von der großen Hoffnung erfüllt waren, konnten sie den großen Weg des Menschseins gehen, wie ihn uns Christus vorangegangen ist.

Noch eine für die Dinge des Alltags nicht ganz unerhebliche kleine Bemerkung möchte ich anfügen. Zu einer heute vielleicht weniger praktizierten, aber vor nicht allzu langer Zeit noch sehr verbreiteten Weise der Frömmigkeit gehörte der Gedanke, man könne die kleinen Mühen des Alltags, die uns immer wieder einmal wie mehr oder weniger empfindliche Nadelstiche treffen, "aufopfern" und ihnen dadurch Sinn verleihen. In dieser Frömmigkeit gab es gewiß Übertriebenes und auch Ungesundes, aber es ist zu fragen, ob da nicht doch irgendwie etwas Wesentliches und Helfendes enthalten war. Was kann das heißen: "aufopfern"? Diese Menschen waren überzeugt, daß sie ihre kleinen Mühen in das große Mitleiden Christi hineinlegen konnten, so daß sie irgendwie zu dem Schatz des Mitleids gehörten, dessen die Menschheit bedarf. So könnten auch die kleinen Verdrießlichkeiten des Alltags Sinn gewinnen und zum Haushalt des Guten, der Liebe in der Menschheit beitragen. Vielleicht sollten wir doch fragen, ob solches nicht auch für uns wieder zu einer sinnvollen Möglichkeit werden kann“.

 


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