Das vergängliche Leben als höchster Wert?

4. Dezember 2020 in Kommentar


Ein Versuch, die weitreichenden Beschränkungen während der Coronapandemie zu deuten. Gastkommentar von Andreas Kuhlmann


Aachen (kath.net) Der Monat November liegt gerade hinter uns. In den letzten Wochen sahen wir in unseren Breiten die Blätter fallen und gedachten der Toten. Wiederkehrende Rituale der Natur und der Zivilisation, sich die Vergänglichkeit des Lebens vor Augen zu führen. Dieser November 2020 stand nun aber auch unter dem starken Eindruck der Coronapandemie. Das Virus scheint nicht nur den menschlichen Körper, sondern auch den menschlichen Geist und seine Überzeugungen auf den Prüfstand der Resilienztauglichkeit zu stellen. Die Frage ist, ob sich angesichts der neuen Gesundheitsgefährdung und des möglichen Todes ein tieferes Nachdenken über die Relativität des irdischen Daseins in unserer modernen Gesellschaft einstellt oder nicht vielmehr eine Art Unfähigkeit dafür offenbar wird.

Vor wenigen Tagen wurde das Infektionsschutzgesetz vom Deutschen Bundestag beschlossen. Viele haben ernsthafte Sorgen um die Freiheitsrechte der deutschen Bürger. Ärzte – Fachleute darunter – bezweifeln die verkündete allgemeine Gesundheitsgefährdung durch das SARS-CoV-2-Virus und vergleichen es begründet mit einem saisonalen Influenzavirus. Es scheint, dass die gravierenden Kollateralschäden der beschlossenen bis befohlenen radikalen Schutzmaßnahmen zu wenig beachtet oder gewichtet oder sogar verdrängt und verschwiegen werden. Existenzielle Krisen von Einzelpersonen, Familien, Unterhaltern von Kleingewerbe bis hin zu kleineren Unternehmen greifen um sich. Je mehr man die Virusverbreitung bekämpft, umso mehr fördert man menschliche Krisen, die bis zur Auslöschung von Leben reichen. Selbstmorde sind viel häufiger seit dem ersten Lockdown. Das will wohl keiner haben, aber es wird dennoch in Kauf genommen. Einige sprechen davon, dass die Menschenwürde zu kurz kommt.

Die Maxime der Konsumgesellschaft „Hauptsache gesund!" wird nun in allen Bereiche des Lebens greifbar und letztlich alle müssen sich ihr unterwerfen. Die Angst vor dem Tod ist gewachsen. Gleichzeitig hat die Furcht vor Gott abgenommen. Dass einem das irdische Leben entrissen wird schreckt die meisten Menschen heute mehr als der mögliche Verlust eines ewigen Lebens mit Gott. Die postmoderne Maxime Hauptsache gesund ist das neue parareligiöse Dogma. Wer anderen Prinzipien Priorität einräumt, wird gemaßregelt.

Die politischen Entscheider wollen sicherlich keine Diktatur à la Hitler oder Stalin errichten. Dennoch fragt man sich, wie diese gravierenden Einschnitte in die Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers mit den teils fatalen Folgen von den Gewissen der entscheidenden Politiker gerechtfertigt werden können. Ist es nur mangelnde Besonnenheit?

Für eine Antwort darauf lohnt sich ein kurzer Blick auf neuste politische Visionen mit globalem Wirkpotential: sie heißen Dekonstruktion und Transformation. Es geht um einen Austausch der alten Werte gegen neue und die Umwandlung des menschlichen Zusammenlebens. Es soll anders und besser sein als in früheren Zeiten, als religiöse Überzeugungen noch zu sehr das rationale Denken und Handeln beeinflussen und den Fortschritt der Menschheit behindern konnten.

Nach dem Motto: Wir wissen es heute besser und das können wir in Zeiten von Corona unter Beweis stellen. Diese Überzeugung scheint in den Köpfen vieler einflussreicher Menschen eingezogen zu sein. Letztendlich steht aber dahinter nicht mehr als die altbekannte Rebellion des sich autonom gebarenden Menschen gegen seinen Schöpfer und seine Vorgaben, die sich in den Naturgesetzen und Geboten finden lassen.

Heute mehr als je zuvor geht es gemäß Nietzsche um die Umwertung der Werte: der Mensch definiert nun neu, ganz unabhängig von natürlichen Vorgaben, sich selbst, die Familie, die Bedeutung von Gesellschaft, Menschheit und Universum. Er gibt allem einen neuen Sinn oder nimmt ihm einfach den alten. Da nach seiner Auffassung alles unter dem bloßen Zeichen der Vergänglichkeit steht, wie ja auch alles zuvor dem Zufall zu verdanken ist, dem der Mensch mit seiner evolutionär erworbenen Intelligenz als Diener zur Hand geht (so sieht es wohl die große Mehrheit der Meinungsmacher und Entscheider), darf frei vom Rechtfertigungsdruck gegenüber einer früher angenommenen Gottheit nun nach Belieben jede menschliche Wirklichkeit, ob Individuum oder Sozialwesen, manipuliert und, so meint man, verbessert werden. Da es keine absoluten Werte und damit auch keine Tabus mehr gibt, verabsolutiert man den politischen Willen, der sich auch als Wille zur Macht geriert. Denn ohne Macht ist keine umfassende Umwandlung möglich.

Wenn man will, dass möglichst wenige Menschen an SARS-CoV-2 erkranken und sterben, dürfen vermeintlich geringere Werte wie Beziehungspflege (primär im Rahmen der Familien- und Freundschaftsbanden) und Religionsausübung (in kirchlichen Versammlungen) vernachlässigt bzw. eingeschränkt werden. In vielen Ländern beobachtet man dies. Die reichen Nationen wie Deutschland oder die USA sind schon lange gerade in diesen beiden Aspekten von Krankheitssymptomen gekennzeichnet: das Singledasein und die Vereinsamung in allen Altersgruppen nimmt zu und führt zu dramatischen Verwerfungen. Sowohl die Zahl an Suiziden wie auch an psychischen Störungen bei jungen Menschen wächst an.

Die jahrzehntelang andauernde gewaltige Erosion der Kirchenzugehörigkeit – Austritte und Glaubensverlust – spiegelt den enormen Verlust an transzendentaler Bindung und sittlicher Orientierung wider, die wiederum nachhaltige Auswirkungen auf das harmonische Zusammenleben hat.

Die zwei Bindungsdimensionen – die irdisch-menschlich und die religiös-göttliche – haben sich in den überalterten Wohlstandsgesellschaften mehr und mehr gelockert bis aufgelöst. Ein Ersatz, der den Menschen auf andere Weise existentiellen Halt verleiht, wird nicht angeboten. Kann auch gar nicht angeboten werden. Denn ebenso wenig wie die Menschheit nicht in der Lage ist, das Leben zu erschaffen oder den Tod abzuschaffen, wird sie sich selbst etwas geben können, was diese zwei fundamentalen Dimensionen des humanen Existenzvollzugs ersetzen könnte.

Dass die Gesellschaften der Postmoderne dennoch meint es schaffen zu können zeigen die oberflächlichen und eindimensionalen politischen Reaktionen in der Coronapandemie. Denn wer die Verteidigung von Gesundheit und Ökonomie höher ansiedelt als altbewährte sinnstiftende und beglückende Wirklichkeiten, die durch menschliche Nähe möglich werden, ignoriert die Erfahrungen einer langen Menschheitsgeschichte. Wenn eine individualisierte und gottferne moderne Gesellschaft das Heil mehr in dem nackten Erhalt der physischen Gesundheit und des materiellen Wohlstands als in den menschlichen Beziehungen und in einer religiösen Bindung – die normalerweise gemeinschaftsstiftend wirkt – sucht, kann sie sich nur noch verzweifelt an der Bordkante des untergehenden Schiffes festhalten statt an den Seilen lebenserhaltender Beziehungen, die sie schon vor Zeiten gekappt und samt den Rettungsringen über Bord geworfen hat in der tragischen Unterschätzung ihrer Bedeutung in Krisenmomenten.

Ob es während der Coronapandemie rechtzeitig oder überhaupt ein Umdenken geben wird, um der wahren Tragödie entgegenzuwirken? Oder bleibt diese Art Fata Morgana, auf jeden Fall Krankheit und Tod bei Menschen abzuwenden zu müssen – obgleich diese Vorhaben eigentlich nicht in des Menschen Macht steht –, das dominierende Leitmotiv des politischen Handelns?

Die Langzeitschäden der neuen Lebensweise im selbst auferlegten „Coronamodus“ für Menschen und Gemeinwesen sind jetzt schon absehbar. Ein rechtzeitiges Umdenken wäre das Gebot der Stunde. Ist der moderne Mensch dazu noch in der Lage – das ist hier die Frage.

Dr. Andreas Kuhlmann ist Priester und Arzt, er lebt in Aachen.


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