Aus der Zeit gefallen!?

1. Juli 2023 in Kommentar


Ein Plädoyer für den Gregorianischen Choral – Gastkommentar von Dennis-Jens Ernst.


Mettlach (kath.net)
Eine feierliche Messe, kunstvolles liturgisches Gerät, ansprechende Paramente, doch dann blitzt sie am Arm des Zelebranten hervor: Die Uhr. Man ist versucht ihm das Wort „Leg ab!“, das Mo-se in Bezug auf seine Schuhe vom Herrn vernommen hat (vgl. Ex 3,5), entgegenzurufen, denn der Ort wo du stehst, das Geheimnis, das du feierst, ist nicht messbar, es übersteigt die Zeitrechnung. Schon Thomas von Aquin deutet im bekannten eucharistischen Hymnus Adoro te devote dieses große Geheimnis, das die Fähigkeiten des menschlichen Erkennens übersteigt: „visus, tactus, gustus in te fallitur“.

Vergangenheit wird in der Liturgie Gegenwart, denn in die Stunde des Abendmahlssaals „kehrt in geistlicher Weise jeder Priester zurück, der die heilige Messe feiert, und mit ihm die christliche Gemeinde, die daran teilnimmt“. Die Eucharistie ein Geschehen, das Raum und Zeit über-steigt. Sie stiftet „eine geheimnisvolle Gleichzeitigkeit“ zwischen der Einsetzungsstunde und dem Gang aller Jahrhunderte, bis Christus in Herrlichkeit wiederkehrt (vgl. 1 Kor 11,26).

Die Synchronität, die Offenheit zur rückwärtigen Besinnung und vorwärts gerichteten Gestaltung, Erinnerung und Ausblick, Gedächtnis und der immer wiederkehrende Impuls des Schöpferischen, sind der liturgischen Feier immanent. Was von der Liturgie gesagt werden kann, muss freilich auch für „den der römischen Liturgie eigenen Gesang“ (SC 116), nämlich den Gregorianischen Choral, statuiert werden können.

Doch häufig wird dem Gregorianischen Choral ein Anachronismus angedichtet, als würde er im musikalischen Gewand ein Liturgieverständnis von vorgestern konservieren. Tatsächlich hat der Gregorianische Choral in der Katholischen Kirche eine Sonderstellung primär aufgrund seines Alters. Doch konnte das Traditionsargument den Rückzug desselben in Phasen intensiver Liturgiereform nicht aufhalten. Gregorianik ist demnach zwar alt, aber letztlich doch nur eine mögliche Form der Ausprägung der Musica sacra und dem Prinzip der stilistischen Vielfalt unterworfen.

Der eigentliche Grund seines „Überlebens“ und seiner bemerkenswerten Restauration auch und gerade im 20. Jahrhundert muss folglich tiefer liegen, denn er ist ja nicht bloß eine altehr-würdige Sammlung liturgisch brauchbarer Stücke. Was gibt also dem Choral seine eigentliche spirituelle Kraft, die scheinbar keine Abnutzungserscheinungen kennt? Drei Punkte sind aus-schlaggebend:

(1) Der Gregorianische Choral ist erklingendes Wort Gottes
Im Grunde ist Gregorianik nichts anderes als eine in Musik gekleidete Sammlung von Worten der Heiligen Schrift. Die Wortbezogenheit scheint ausschlaggebend für die Bedeutung der Gregorianischen Gesänge zu sein. Es kommt dabei nicht darauf an, das Wort Gottes als linguistische Kategorie zu verstehen, sondern als „umfassende existentielle religiöse Beschreibungsform“. Das Wort wird in diesem umfassenden Sinn nicht da laut, wo geredet wird, sondern dort, wo Christus erfahren wird.  Die Kundgabe der Gotteserfahrung aus den Zeiten der Bibel aktualisiert sich auch dort, wo diese Gesänge erklingen. Sie lassen die Gläubigen aller Generationen teilhaben am Wort Gottes, das Jesus Christus selbst ist. Eine Choralrestauration, wie sie in den letzten Jahrzehnten erlebbar wird, gibt dieser Musik den Primat des Wortes Gottes zurück.

Die Vertonung des Chorals resultiert aus der Betonung des biblischen Textes. Gregorianischen Choral zu singen erfordert daher die Bereitschaft, tiefer in das Verständnis des Wortes Gottes einzudringen um von dorther die musikalische Form zu erschließen. Der biblische Text war von Anfang an Grundlage und Voraussetzung aller musikalischen Gestaltung - und das soll von neuem die Grundlage werden. Gerade in der Liturgie nach dem II. Vatikanum, das den Tisch des Wortes reicher gedeckt wissen wollte, können die Gregorianischen Gesänge zu einem vertieften Verständnis der Vollzüge verhelfen. Dass die große Bedeutung des Gregorianischen Chorals für die Liturgie der Kirche aus seiner engen Bindung an den biblischen Text resultiert, schlussfolgert auch Papst Benedikt XVI. im Apostolischen Schreiben Verbum Domini über das Wort Gottes:

„Im Rahmen der Bemühungen, das Wort Gottes in der liturgischen Feier besser zur Geltung zu bringen, sollte auch der Gesang in den vom jeweiligen Ritus vorgesehenen Au-genblicken berücksichtigt werden. Dabei bevorzuge man Gesänge, die ganz klar biblisch inspiriert sind und durch die harmonische Übereinstimmung von Text und Musik die Schönheit des göttlichen Wortes zum Ausdruck bringen. In diesem Sinne ist es gut, jene Gesänge zu verwenden, die wir der Überlieferung der Kirche verdanken und die diesem Kriterium entsprechen. Ich denke insbesondere an den Gregorianischen Choral“.

(2) Der Gregorianische Choral bewahrt Natürlichkeit  
Da die Gregorianischen Gesänge einstimmig und ohne Begleitung von Instrumenten ausgeführt werden, lassen sich die Parameter auf eine einfache Sentenz zusammenführen: Die menschliche Stimme besingt das Wort Gottes. Schlichter und einfacher kann das musikalische Mittel der Wortverkündigung kaum sein. Die menschliche Stimme, in erster Linie manifestiert im Gesang, ist das Maß aller Musik im Gottesdienst. Als notwendigen und integrierenden Bestandteil der feierlichen Liturgie qualifiziert SC 112 den mit dem Wort verbundenen gottesdienstlichen Ge-sang. Medium des Gesanges ist die menschliche Stimme.

Martin Luther bezeichnete einst die Stimme als „Seele des Wortes“, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Glaubensüberlieferung, v.a. der ersten Generationen des Christentums, eine mündliche war. Diese Keimzellen, Stimme und Melodie, haben eine starke Ausdruckskraft und eine hohe Strapazierfähigkeit. Deshalb ist das Repertoire der Gregorianischen Gesänge keiner modischen Strömung erlegen und auch nicht an eine bestimmte Form der Zelebration gebunden. Natürlichkeit bedeutet aber nicht Oberflächlichkeit. Die Vorrangstellung, die die Konzilsväter des II. Vatikanum dem Choral angedeihen ließen, ist an eine künstlerisch und pastoral angemessene Ausführung gebunden.  Insofern leistet die Gregorianik eine Harmonie zwischen dem theologischen Anspruch an die gottesdienstliche Musik und dem natürlichen Drang nach künstlerischem Ausdruck.

(3) Der Gregorianische Choral ist integrativ und universell  
Diese Eigenschaft besitzt er vor allem wegen der lateinischen Kultsprache. Auch wenn diese Sprache nicht im linguistischen Sinn vom Rezipienten verstanden wird, so kann doch ein Ver-stehen „par coeur“ gelingen, in dem die Texte im Zusammenhang mit gewissen Melodien erlernt und identifiziert werden können. Ein Introitus kann dann denselben Wiedererkennungswert haben, wie ein deutsches Kirchenlied und das lateinische Credo dasselbe Identifikationspotenzial wie das Glaubensbekenntnis in der Muttersprache. Der Gregorianische Choral ist keine Sparten-musik für besondere Gruppen oder Ereignisse, sondern er ist integrativer Bestandteil gottes-dienstlicher Musik; er gehört wesentlich zur Vollgestalt der Liturgie dazu. Wie alle gottesdienstliche Musik dient er dem Ziel, die Ehre Gottes und der Auferbauung der Gläubigen zu fördern. Er unterbindet nicht die Musik der Völker in ihrer Eigenart (vgl. SC 119), sondern schließt sie zu einer Einheit zusammen, über Sprach- und Landesgrenzen hinweg.   

Aufgrund der ausgeführten Eigenschaften ist die Gregorianik auch in der gegenwärtigen Zeit als Keimzelle katholischer Kirchenmusik und festes Medium der Glaubensweitergabe zu profilieren. Sie ist eben nicht Ausdruck eines restaurativen Bewahrens, sondern eine einzigartige Form des Erklingens des Wortes Gottes inmitten seiner Kirche durch alle Zeiten. Er ist im guten Sinn des Wortes „aus der Zeit gefallen“.

 


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