Der §218 StGB wird verschwinden – und dann?

16. Oktober 2023 in Kommentar


Das Verfahren, den Paragrafen 218 aus dem deutschen Strafgesetzbuch zu tilgen nimmt Fahrt auf. Es wird Zeit, sich Gedanken über das Danach zu machen. Der Montagskick von Peter Winnemöller


Linz (kath.net)

Bei jeder Abtreibung stirbt ein Mensch und mindestens ein weiterer Mensch wird geschädigt. Die möglichen Folgen einer Abtreibung für Frauen reichen von psychischen Störungen bis hin zu körperlichen Beschwerden unterschiedlichster Art. Es ist richtig und angemessen, die Abtreibung als schädliche Handlung aufzufassen. Der Grad der Schädlichkeit ist schon allein auf Grund der Tötung eines schutzwürdigen menschlichen Lebens hinreichend hoch, um eine strafbewehrte Aufnahme ins staatliche Strafrecht zu rechtfertigen.

Sowohl die Rechtsprechung der Verfassungsrichter als auch internationale Menschenrechtskonventionen sehen das ungeborene Leben als hinreichend schutzwürdig an, dass seine Tötung strafrechtlich bewehrt sein kann und sollte. Insofern gab es in der Vergangenheit einen gesellschaftlichen Konsens, der in 90er Jahren in Deutschland zu einer (unbefriedigenden) Kompromissformel führte, die wir heute als §218 im Strafgesetzbuch finden. „Rechtswidrig aber unter bestimmten Umständen straffrei.“ So lautet der gefundene Kompromiss, der sich in der Praxis durch eine Beratungspflicht manifestiert. Es ist müßig, den kirchlichen Konflikt rund um den Beratungsschein noch einmal aufzurollen. Es ist gut, dass die Kirche in dem System der Tötung ungeborener Menschen bis dato eine klare Position vertritt.

Die gegenwärtige Bundesregierung plant im Rahmen ihrer grundlegenden Bestrebung der Dekonstruktion bürgerlicher Lebensverhältnisse auch die völlige Aufgabe des Tötungsverbotes an ungeborenen Menschen. Man sollte – das würde hier den Rahmen sprengen – die Abschaffung des §218 mal in Korrelation zur gesamten Familienpolitik der Ampelregierung untersuchen. Das Bestreben wird dann als in sich konsistent erscheinen. Kinder gehören nämlich nicht nur zu einer natürlichen Familie, sie sind auch in vielen Fällen Auslöser einer relativen Verbürgerlichung nicht bürgerlicher Lebensverhältnisse, weil schon allein die Existenz eines Kindes einen natürlichen Schutzinstinkt im sozialen Umfeld auslöst. Im Umkehrschluss ist die Tötung eines Kindes nicht selten der Auslöser für das Ende der Beziehung der Eltern und damit der Verhinderung der Gründung einer natürlichen Familie.

So weit die theoretischen Überlegungen. In der Praxis wird sich der gegenwärtige politische Mainstream des Überwiegens des Selbstbestimmungsrechtes der Frau gegenüber dem Lebensrecht des Kindes durchsetzen. Die bisher in Gesetzgebung und Rechtsprechung zu Grunde liegende Pflicht der Frau ihr Kind auszutragen, welches im Umkehrschluss nichts anderes ist als das Recht eines Menschen auf seine Geburt, wird aufgegeben werden. Damit ein hohes Rechtsgut auf dem Altar des Zeitgeistes geopfert, sollte das Bestreben der Ampel tatsächlich die höchstrichterliche Rechtsprechung überleben. Nach den jüngsten Entscheidungen, siehe das vom Bundesverfassungsgericht frei erfundene Recht eines Menschen auf selbstbestimmtes Sterben, ist davon allerdings auszugehen. Das ist kein unangemessener Pessimismus.

Jedes Verfahren eine Rechtsnorm zu gestalten, worunter auch das Streichen einer solchen fällt, ist die Folge eines Spiels der Kräfte. Auch wenn wir nach wie vor davon ausgehen können, dass eine Mehrheit der Menschen die Abtreibung als Tat grundsätzlich ablehnt, wird man kaum eine gesellschaftliche Mehrheit für eine klare und konsequente Gesetzgebung finden, weil der hier entstehende Wertekonflikt aus Lebensrecht des Kindes und Selbstbestimmungsrecht der Frau auf ein ethisch desorientierte Gesellschaft trifft. Wie tief diese Desorientierung geht, zeigt das Postulat der EKD nach einer sogenannten Fristenregelung. Wer die Stellungnahme des Bundesverbandes Lebensrecht liest, die dieser für die „Kommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin“ abgeben hat, findet darin auf der Seite 2 den folgenden Abschnitt: „Ein weiter erleichterter Zugang zu Abtreibung senkt die Bereitschaft, Frauen im Schwangerschaftskonflikt zu helfen, und erhöht den Abtreibungsdruck: Viele Frauen berichten, dass sich die Haltung ihrer Umgebung nach der 14. Schwangerschaftswoche ändert und sie sich nicht mehr unter Druck gesetzt fühlen, das Kind abzutreiben. Diese Erfahrungen zeigen, dass, wenn die Möglichkeit der Abtreibung nicht (mehr) besteht, man sich um ihre wirklichen Probleme kümmert und hilft.“ Hier kann sich jeder selber ausrechnen, dass der Druck auf Frauen im Schwangerschaftskonflikt bei einer Frist bis zur 22. Woche abtreiben zu dürfen, noch mal acht Wochen lang ansteigen kann. Welche Frau vermag dem dann noch standzuhalten?

 Es lohnt sich in mehrerer Hinsicht, die Stellungnahmen des Bundesverbandes Lebensrecht und der Aktion Lebensrecht für Alle zu lesen. Auch für jene, die in der Haltung klar sind, geben beide Stellungnahmen noch einmal Denkhilfe und argumentative Sicherheit. Man mache sich nichts vor, so anständig es von der Kommission auch ist, die Lebensrechtsverbände um eine Stellungnahme zu bitten, so handelt es sich hier um eine Minderheitenposition, die in der gegenwärtigen gesellschaftlichen- politischen Konstellation nicht einmal in die Nähe von Konsensfähigkeit zu kommen vermag. Die Stellungnahme der Deutschen Bischofskonferenz steht noch aus. Man darf gespannt sein, sollte seine Erwartungen allerdings nicht zu hoch hängen.

Die Beschreibung der gegenwärtigen Situation ist eine Sache. Die politische Wirklichkeit in unseren Land wird Fakten schaffen, mit denen wir lange werden leben müssen. Die Abschaffung des §218 ist zum Greifen nahe und wird vermutlich kommen. Selbst wenn man vom günstigsten Fall ausgeht und ein Resttatbestand im Strafrecht erhalten bleibt, muss man dennoch von weiterhin dramatisch steigenden Abtreibungszahlen ausgehen.

Für die Lebensrechtsorganisationen bedeutet dies nicht das Ende des politischen Kampfes um den Schutz des Lebens. Ganz im Gegenteil, es fängt dann erst richtig an. Ohne einen §218 ergeben sich ganz neue Arbeitsfelder. Das Ziel muss lauten, dass das Recht eines Menschen auf seine Geburt in Deutschland Verfassungsrang erlangt und in internationale Grundrechteerklärungen Aufnahme findet. Das sind – keine Frage – sehr dicke Bretter, die da zu bohren sind, aber der erfolgreiche Lobbyismus der Abtreibungsprotagonisten muss auch International endlich in seine Schranken verwiesen werden. Der Kampf gegen das Ungeborene Leben muss international äquivalent zu einem Genozid geächtet werden. Das ist der politische Teil, der auf nationaler, wie auch und verstärkt auf internationaler Ebene anzugehen ist. EU- Berichte, in denen sich hinter dem euphemistischen Begriff der „reproduktiven Gesundheit“ ganz selbstverständlich auch ein (frei erfundenes) Recht auf Abtreibung verbirgt, müssen der Vergangenheit angehören.

Der zweite Teil, der unbedingt ausgebaut werden muss, ist der Teil der praktischen Hilfe vor und nach Abtreibung. Die Lebensrechtsverbände tun hier sehr viel. Die oben genannten Stellungnahmen für die Kommission geben ein paar Hinweise, was schon alles existiert. Die Seiten der Organisationen zeigen vielfach die ganze Bandbreite der Hilfe auf, die angeboten wird. Man muss allerdings bedenken, wenn der § 218 in seiner jetzigen Form fällt, fällt die schon jetzt nur dürftige staatliche Konfliktberatung, die ohnehin in vielen Fällen nur noch Alibicharakter hat, auch noch weg. Nebenbei könnte das eine alte kirchliche Wunde heilen. Ohne den unseligen Beratungsschein fällt dann die Schein-Begründung für die Existenz von „Donum vitae“ weg. Man wird ohne einen §218 nicht weniger sondern mehr Beratung benötigen und man wird offensiver werben müssen. Das bedeutet allerdings auch, dass die Lebensrechtsbewegungen mehr Geld benötigen. Zückt schon mal die Überweisungsformulare.

Die französische Mystikerin der Straße, Madeleine Delbrêl, schrieb einst ein Buch mit dem Titel „Auftrag des Christen in einer Welt ohne Gott“. Das Leben der Französin in der marxistischen Stadt Ivry-sur-Seine zeichnete schon damals viele Entwicklungen vor. Christen leben in einer solchen Welt ein Alternativprogramm oder sind, wie es der US-amerikanische Schriftsteller Rod Dreher schrieb, eine kreative Minderheit.

Das bedeutet gar nicht, dass man völlig konträr zum Staat sein muss. Madeleine Delbrêl lobte die Kommunisten immer für ihre Liebe zu den Menschen, nicht ohne zu vergessen, sie für den Hass auf Gott zu tadeln. Da, wo es Schnittpunkte gab, kooperierte sie, wo es galt, gegenzuhalten, da blieb sie klar auf Kurs. Eine tiefe Freundschaft verband sie mit dem kommunistischen Bürgermeister von Ivry. Geradezu legendär ist der Brief an deb Bürgermeister, mit dem sie jede Ehrbekundung für Nikita Chruschtschow strikt ablehnte.

Sowas, wie Madeleine lebte, ist nichts anderes als kreative Minderheit. Madeleines Erfahrungen zeigten übrigens schon damals, dass die kreative Minderheit durchaus auch in Konflikt zu einer etablierten spießbürgerlichen Volkskirche steht. Auch das ist nicht neu. Man versuche mal in einer beliebigen Gemeinde Menschen für eine Teilnahme am Marsch für das Leben zu gewinnen. Das könnten lustige Erfahrungen werden.

Der Kampf gegen die Abtreibung muss immer ein Kampf für das Leben sein, weil Gott ein Freund des Lebens ist. Arbeiten wir als kreative Minderheit also ruhig mit denen zusammen, die für das Leben stehen, auch wenn sie keine Christen sind. Aber seien wir immer klar, wenn es um unser Bekenntnis geht. Der Kampf gegen die Abtreibung muss zudem auch dann noch ein Kampf für das Leben sein, wenn eine Abtreibung schon geschehen ist, denn Mütter, Väter, Großeltern, Onkel und Tanten und nicht zuletzt Geschwisterkinder sind immer alle potentielle Auch-Leidtragende nach einer Abtreibung. Der Kampf für das Leben muss nicht zuletzt bei der Hilfe für die Überlebenden ansetzen.

Auch wenn viele, die nun seit Jahrzehnten für eine Verbesserung des Lebensschutzes kämpfen, seit Jahrzehnten nur die Verschlechterung erleben, so kann man diesen nur eines sagen: Überlegt bitte mal, wie der Lebensschutz ohne Euch aussähe.

Egal an welcher Stelle man für das Leben streitet, der Streit wird nicht enden. Und wenn wir die nächste Niederlage einfahren, fahren wir damit nurmehr neue Aufgaben und neue Verantwortung ein. Jeder ungeborene Mensch, dem wir das Leben retten, ist ein Mensch, der neue Möglichkeiten in die Welt bringt. Darum gilt auch künftig ohne 218: Jedes Leben zählt!


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