Die Wiederentdeckung der Vergebung in der Psychologie

10. Oktober 2005 in Interview


Am 10. Oktober ist internationaler Welttag der psychischen Gesundheit. Interview mit dem "Vergebungs-Forscher" Robert Enright.


Madison (www.kath.net / zenit) Vergebung gehört zu den zentralen Themen des zwischenmenschlichen Gesprächs und zu jenen Vorgängen, die das persönliche Leben, aber auch das Leben in Gesellschaft und Politik, maßgeblich beeinflussen. So genannte „Studien zur Vergebung“ entstehen heute im Bereich der Psychologie, der Pädagogik und der Soziologie.

Dr. Robert Enright, Gründer des internationalen Instituts für Forschung zur Vergebung, erklärt dazu: „Wir finden jetzt mit wissenschaftlichen Methoden heraus, was wir seit Tausenden von Jahren hätten wissen können: Vergebung tut seelisch und körperlich gut.“Der Psychologe hat sein Institut 1994 gegründet und ist Herausgeber des 1988 erschienenen Buches „Exploring Forgiveness“. Im Dezember 2005 wird sein deutschsprachiges Werk „Vergebung als Chance“ veröffentlicht.

ZENIT: Herr Dr. Enright, wie wirksam ist die Vergebungstherapie tatsächlich?

Dr. Enright: Es gibt da ganz unterschiedliche Ergebnisse. Einige Untersuchungen erzielten ausgezeichnete wissenschaftliche Resultate, andere wiederum keine. Wie es Richard Fitzgibbons in unserem Buch darlegt, ergeben sich die unterschiedlichen Resultate unter anderem aus der Zeit und der Aufmerksamkeit, die der jeweilige Therapeut für seinen Patienten hat. Demjenigen zu verzeihen, der einem ein tiefes Unrecht zugefügt hat, braucht seine Zeit. Die Vermittler dieser Heilung bestehen häufig auf einer "kurzen" Therapie, die dem Patienten nicht genügend Zeit gibt, den schmerzlichen und therapeutischen Weg der Vergebung zu gehen.

Eine unserer Untersuchungen, die zusammen mit Suzanne Freedman von der Universität von Nordiowa durchgeführt wurde, basiert auf den Erlebnissen von Vergewaltigungsopfern durch Inzest, die überlebt haben. Diese tapferen Frauen benötigten lange Zeit, fast ein ganzes Jahr, um denjenigen zu vergeben, die sie missbraucht hatten. Aber die ganze Mühe hat sich gelohnt.

Als wir jene Menschen, die eine Therapie der Vergebung durchgemacht hatten, mit jenen verglichen, die keine gehabt hatten, stellten wir fest, dass die Anzahl der Angstzustände und Depressionen bei ersteren viel geringer war. Nachdem die Vergleichsgruppe schließlich ebenfalls die Vergebungstherapie begonnen und abgeschlossen hatte, gab es bei beiden Gruppen eine bedeutende Verbesserung hinsichtlich der Symptome von Angst und Depressionen.

Auch wenn ein ganzes Jahr eine lange Zeit zu sein scheint, müssen wir uns einmal klarmachen, wie viele Frauen oft 20, ja sogar 30 Jahre lang an emotionalen Störungen leiden, bis sie endlich imstande sind, zu vergeben. Ähnliche Resultate sehen wir auch bei anderen Gruppen: Bei Männer und Frauen in der Drogerehabilitation, bei Terminalpatienten mit Krebs, bei Ehepaare, die kurz vor der Scheidung stehen, bei jugendlichen Gefängnisinsassen, bei Herzpatienten und vielen anderen.

ZENIT: Auf welche Schritte muss sich ein Mensch einlassen, wenn er eine solche Therapie antreten möchte?

Dr. Enright: Dem eigenen Weg der Vergebung zu folgen, darin liegt ein weiterer Grund des großen Erfolges dieser Form der Therapie. Dr. Fitzgibbons und ich bieten einen konkreten Weg der Vergebung an, den wir in unseren Untersuchungen wissenschaftlich begründen und der in meinem Buch "Forgiveness Is a Choice" ["Die Vergebung ist eine Wahl"] genau beschrieben wird.

Zunächst müssen die Leute, die diesen Weg gehen wollen, einsehen, dass sie ungerecht behandelt worden sind, dass ihnen diese Tatsache einen emotionalen Schlag versetzt hat und dass sie deswegen wirklich zornig sind. Wenn sie die Therapie der Vergebung antreten möchten, müssen sie erforschen, was Vergebung ist und was es nicht ist. Wenn Menschen einander vergeben, dann heißt das zum Beispiel nicht, dass sie das verharmlosen, entschuldigen oder vergessen, was man ihnen angetan hat. Sie können sich aussöhnen oder eben nicht.

Zur Vergebung gehört vor allem, mit dem Grollen aufzuhören und sich demgegenüber, der sich ungerecht verhalten hat, mit Wohlwollen und vermehrter Liebe zuzuwenden. Und das ist eine Entscheidung, die man persönlich treffen muss, eine Tat des Willens. Sich zu versöhnen heißt, dass zwei Menschen das Vertrauen zueinander neu zurückgewinnen. Damit das geschehen kann, müssen beide mitarbeiten. Und dabei gilt es zu bedenken, dass man einem Schuldigen vergeben und gleichzeitig den Rücken zukehren kann.

Dann empfehlen wir den Leuten, sich auf das einzulassen, was Doktor Fitzgibbons "kognitive Vergebung" nennt. Das sind klärende Gedanken der Vergebung, die sich auf jene Person beziehen, die ungerecht gewesen ist. In diesem Stadium braucht sich der Betroffene demjenigen, der ihn verletzt hat, noch nicht zu nähern aber kann diese kognitive Vergebung in seinem Inneren aussprechen.

Ein Teil der kognitiven Vergebung besteht darin, an den ganzen Menschen zu denken und nicht nur an seine Fehler und Sünden. Wir sind alle mehr als das, was wir tun. Wir sind verletzbar, aber auch Kinder Gottes. Die kognitive Vergebung folgt der emotionalen Vergebung: Man öffnet sich dem Mitleid und der Liebe zu diesem Kind Gottes, das einen verletzt hat. Das ist schwierig und kann seine Zeit dauern. Einige Menschen fühlen sich, solange die Therapie läuft, noch nicht bereit zu diesem Schritt, und wir müssen sie verstehen.

Für uns wird es immer ein Geheimnis bleiben, wie die Liebe im menschlichen Herzen zu jenen wächst, die ein großes Unrecht getan haben und es vielleicht weiterhin tun. Sicher wirkt in diesem Fall die Gnade Gottes, aber wir Wissenschaftler verfügen nicht über die angemessene Sprache, um diesen Vorgang vollständig zu beschreiben. Die Wissenschaft ist – wie der menschliche Verstand – einfach zu begrenzt, um dieses Geheimnis zu verstehen.

Über die emotionale Vergebung hinaus geht die schwierige Aufgabe, den zugefügten Schmerz zu ertragen. Wer vergibt, kann die Uhr nicht zurückdrehen und den Schmerz ungeschehen machen, aber er kann die tapfere Entscheidung treffen, den Schmerz anzunehmen und ein Werkzeug der Güte für den Schuldigern zu sein.

Für einen Christen bedeutet das, mit Christus eins zu werden, der am Kreuz wegen unserer Sünden leidet. Er erträgt für uns den Schmerz. Wir werden für die anderen dasselbe tun, wenn wir uns als Menschen erfahren, denen vergeben worden ist.

ZENIT: Können Kinder besser vergeben als Erwachsene?

Dr. Enright: Es hat den Anschein, dass Kinder ein Herz besitzen, das offen ist für die Vergebung. Folglich besteht für sie tatsächlich die Möglichkeit, aus ganzem Herzen zu vergeben. Zugleich muss ich aber auch daran denken, dass die Kinder das Vergeben auch verlernen können, wenn sie von Erwachsenen umgeben sind, die diesen Zug lächerlich machen oder denen Vergebung gleichgültig ist. Deshalb ist die Erziehung zur Vergebung lebenswichtig.

Meine Kollegen Jeanette Knutson, Anthony Holter und ich haben an den katholischen und staatlichen Schulen im nordirischen Belfast gearbeitet und während der letzten drei Jahre verschiedene Kurse der Vergebung für die ersten drei Schulstufen der Grundschule angeboten. Wir bereiteten die Lehrer vor, die den Kindern die Inhalte weitergaben. Für Kinder haben wir ein Bilderbuch über Vergebung veröffentlicht. Es nennt sich "Rising Above the Storm Clouds" ["Über den Sturmwolken", Anm. d. Übers.] und ist für Kinder zwischen 4 und 10 Jahren gedacht. Wir haben entdeckt, dass die Kinder, die nur sechs Jahre alt sind, sehr viel über Vergebung lernen können und auf diese Weise übermäßigen Zorn verringern.

In Belfast bringen wir einer Stadt, die vom Krieg umgeben ist, das Geschenk der Vergebung. Wir hoffen, dass die Kinder nach und nach lernen, zu verzeihen. Wir hoffen, dass sie, ausgerüstet mit diesem tiefen Verständnis für Vergebung, als Erwachsene zu einem echten Frieden in dieser Gesellschaft beitragen können. Johannes Paul II. und auch Benedikt XVI. haben uns gelehrt, dass die Vergebung der wichtigste Weg zum Frieden in dieser Welt ist. Bei unserer Arbeit in Belfast wollen wir uns einfach dessen bewusst sein.

ZENIT: Welchen Rat geben Sie jenen Menschen, die sich in ihrem Alltag um Vergebung bemühen?

Dr. Enright: Zuallererst steht die Vergebung Gottes vor uns, und wir dürfen Vergebung nicht einfach nur als psychologische Methode verstehen. Vergeben heißt, in das Geheimnis des Kreuzes Christi einzutreten. Das ist eine schwierige Lehre, aber es lohnt sich sehr, sie zu erlernen. Wenn die Menschen vergeben, ohne dabei ausdrücklich die Absicht zu haben, Gott zu gehorchen, kann ihnen dieses Verhalten sehr viel helfen und sie ihm gegenüber öffnen.

Dann müssen diejenigen, die Vergebung erlernen wollen, tatsächlich wissen, was Vergebung ist und was sie nicht ist. Zur Vergebung gehört dazu, dass man dem Schuldigen eine bedingungslose Liebe entgegenbringt. Das ist kein Zeichen für Schwäche. Wenn man jemanden vergibt, dann kann man auch Gerechtigkeit walten lassen. Wenn das eigene Auto demoliert worden ist, kann man dem Schuldigen vergeben und ihm zugleich die Rechnung für die Reparatur schicken.

Drittens ist Vergebung ganz eng mit der Gnade Gottes verbunden. Aus diesem Grund gehören das Gebet, der Empfang der Sakramente und das Vertrauen gegenüber dem göttlichen Wirken im menschlichen Herzen mit zur Vergebung dazu. Wer von diesen Quellen der Gnade keinen Gebrauch macht, dem kann ich nur sagen, dass wir das Handeln Gottes nicht vollständig verstehen können. Sogar nach zwanzig Jahren Studium der Vergebung stehe ich immer wieder vor neuen Überraschungen. Und ich habe gute Resultate genauso mit erklärten Atheisten wie mit gläubigen Christen erzielt. Wichtig ist also, für das Geheimnis der Vergebung offen zu sein und nicht so sehr auf die eigene Geschichte zu schauen.

ZENIT: Was sagen Sie zu einem Menschen, der seine Angehörigen beim New Yorker Terroranschlag am 11. September verloren hat? Wie kann ein solcher Mensch wieder lernen zu vergeben?

Dr. Enright: Anderen zu vergeben ist nichts Einmaliges, ist nicht wie das Anzünden eines Lichtes in der Dunkelheit. Für viele von uns nimmt Vergebung die Form des Kreuzes an. Es handelt sich dann um unser Kreuz, das wir wegen der vielen, die uns verletzt haben, auf uns nehmen. Das erfordert Geduld mit uns selber und Zeit. Wir lernen viel, wenn wir das Gewicht und den Schmerz des Kreuzes auf uns nehmen. Aus diesem Grund frage ich diejenigen, die nicht vergeben können: "Bist du bereit, herauszufinden, was Vergebung ist und was es nicht ist?" Diese Frage drängt nicht, dem anderen zu vergeben, sondern einmal zu schauen, was es mit Vergebung auf sich hat.

Demjenigen, der die ganze Dimensionen der Vergebung bereits kennt, stelle ich folgende Frage: "Bist du bereit, grundsätzlich an die Möglichkeit zu denken, demjenigen zu verzeihen, der dich verletzt hat? Willst du dich bemühen, diese Person nicht zu verletzen?" Diese Frage fordert von niemandem, den Übeltäter zu lieben. Vielmehr dient sie dazu, vom Negativen in einem selbst loszukommen und den Wunsch, es dem anderen heimzuzahlen, in Frage zu stellen.

Dann kommt die nächste Frage: "Wünscht Du der betreffenden Person das Gute?" Diese Frage führt in eine positive Richtung. Wenigstens zum vielleicht unreflektierten Wunsch, dass es jetzt um das Wohl eines anderen Menschen geht. Alle diese Fragen sollen denjenigen, der verletzt worden ist, zur Liebe zurückführen und zur Liebe bewegen. Wenn er aber dennoch nicht dazu bereit ist, zu vergeben, so muss sein nachdrücklich ausgesprochenes Nein am heutigen Tag nicht notwendigerweise das letzte Wort sein. Er kann sich morgen ändern.

ZENIT: Kann ein solches Verständnis der Vergebung dem Glauben an Gott und der Nachahmung Christi neue Wege erschließen?

Dr. Enright: Christus ist die Liebe. Wenn wir jemanden vergeben, dann vollbringen wir eine Tat der Liebe. Wann immer man bewusst oder unbewusst vergibt, fließt in uns die Liebe Christi, die er uns durch seinen Tod am Kreuz geoffenbart hat. Meine Kollegin Jeanette Knutson hat mir dabei geholfen, das große Geheimnis nachzuvollziehen, das Papst Johannes Paul II. in Salvifici Doloris darlegt: Vergeben heißt, das jemand zugunsten einer anderen Person leidet.

Wir vereinen uns mit Christus am Kreuz für die Erlösung dessen, der uns verletzt hat. Trotz des Leidens, das uns deswegen aufgebürdet wird, sagen wir Ja zu dieser großen Freude. Vergeben bedeutet, dem Leiden, das der andere mir zugefügt hat, nicht mehr so viel Bedeutung beizumessen.

Wenn wir der Lehre folgen, die Kardinal Walter Kasper in seinem Buch "Sakrament der Einheit – Eucharistie und Kirche" erklärt, ahmen wir Christus nicht nur dann nach, wenn wir vergeben, sondern auch, wenn wir uns mit ihm vereinen. Das ist ein weiteres ganz großes Geheimnis, das Geheimnis der Einheit Christi mit seiner Kirche. Wenn wir vergeben, erfahren wir unsere Verbundenheit mit Christus. So hat Gott in seiner Klugheit viele Formen gefunden, durch die wir uns mit seinem Sohn vereinen können: durch die Teilnahme am Leib und am Blut Jesu Christi in der Eucharistie und durch die liebevolle und bedingungslose Vergebung. Das müssen wir den Menschen, die verstehen wollen, was Vergebung heißt, immer wieder neu erklären.

ZENIT: Welche Projekte warten auf Sie?

Dr. Enright: Während der nächsten zehn Jahre werden wir mit Kindern arbeiten, die Kriege erlebt und in einem gewalttätigen Umfeld aufgewachsen sind. Ihnen wird man in Schulen, Pfarren und zu Hause beibringen, zu vergeben. Vergebung ist ein Aspekt, den die Friedensbewegung fast vollständig ignoriert hat, obwohl es ohne Vergebung keinen dauerhaften Frieden geben kann. Da es lang dauert, Vergebung zu erlernen und wirklich zu schätzen, müssen wir bei den Kindern anfangen. Bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie die Lektion gut lernen.

Aber wir möchten auch alle Menschen guten Willens davon überzeugen, dass Vergebung besonders für die Kinder sehr wichtig ist und dass sie ein bedeutender Bestandteil der verschiedenen friedenserhaltenden Maßnahmen werden muss. Dazu gehört auch, dass es Hilfsprogramme gibt, die die Unterstützung der eigenen Verwandten fördern. Ziemlich häufig passiert es in Kriegsgebieten, dass Menschen mit tiefen Wunden und großem Hass im Herzen heiraten – Gefühle, die sich auf viele Generationen übertragen. Wir möchten spezielle Kurse für solche Familien anbieten, damit sie fähig werden, den eigenen Hass zu überwinden und ihn nicht mehr an ihre Kinder weitergeben.

Im Wesentlichen versuchen wir, unser Thema in Hochschulen, Schulen, Privathäusern und religiösen Gemeinschaften als so genannte "Vergebungsgemeinschaften" anzubieten. Dort können sich die Betroffenen gegenseitig stärken und zur Vergebung ermutigen. Und es geht darum, dass immer mehr Gemeinschaften dieser Art entstehen.

Foto: Philipp Knapp


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