,Wo Gott aus der Gesellschaft schwindet, verschwindet auch das Kind’

3. Februar 2006 in Deutschland


Predigt von Erzbischof Joachim Kardinal Meisner zum Fest Mariä Lichtmess am 2. Februar 2006 im Hohen Dom zu Köln.


Köln (www.kath.net)
Liebe Schwestern, liebe Brüder!

1. Der Mensch wird wesentlich definiert als ein Wesen der Sehnsucht. Der greise Simeon und die Greisin Hannah warten jahrzehntelang auf den Messias. Sie sind täglich im Tempel, um seine Ankunft nicht zu verpassen. Ihre Sehnsucht ist mit ihrem zunehmenden Alter nicht gestorben oder durch irdische Ziele relativiert. Ganz im Gegenteil! Sie ist geläutert von vielen Enttäuschungen des Lebens und gewachsen hin auf den, der nie enttäuscht, der den Menschen zu dem macht, wozu er von Gott erschaffen und berufen worden ist: zum Kinde Gottes. Der greise Simeon und die Greisin Hannah mit dem Herrn auf den Händen und nah an ihrem Herzen stellen das Bild menschlicher Erfüllung dar. Das Kind und die alten Leute, der Erlöser, der zu den Seinigen kommt, und diejenigen, die ihm Aufnahme gewähren, bilden die Mitte des Lichtmesstages.

Gott sehnt sich auch nach den Menschen. Und hier wird seine Sehnsucht erfüllt. Er wird später über Jerusalem weinen, indem er sagt: „Jerusalem, Jerusalem, wie oft wollte ich deine Kinder um mich sammeln, so wie eine Henne ihre Küken unter ihre Flügel nimmt; aber ihr habt nicht gewollt“ (Mt 23,37). Der Tempel von Jerusalem mit Simeon und Hannah, mit Maria und Josef und mit Jesus als Hauptperson in ihrer Mitte ist die Erfüllung menschlicher Sehnsucht.

2. Lebt in uns diese Sehnsucht oder ist sie relativiert und neutralisiert durch so viele zweit-, dritt- und viertrangige Ziele, die – kaum erreicht – sofort wieder in Vergessenheit sinken? Der Mensch ist keine Fehlkonstruktion, die von einer Sehnsucht bewegt wird, die nie gestillt werden könnte. Der große Augustinus sagte sein berühmtes Wort von der Unruhe des menschlichen Herzens, die nur erfüllt wird durch seinen Ursprung, durch Gott selbst. Der Lichtmesstag ist eine Einladung, unser Leben unter dieses Licht zu stellen, damit uns die Finsternis der Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit nicht erstickt. Der Messias wird uns heute vorgestellt als das Licht, das die Heiden erleuchtet.

3. Ein Kind steht im Mittelpunkt des heutigen Festes. Und es wird umgeben von zwei Generationen: von der alten Generation – Simeon und Hannah könnten die Urgroßeltern Jesu sein – und von der Elterngeneration – Maria und Josef. Was wären diese beiden Generationen ohne das Kind? Sie wären hoffnungslos und ausweglos. Hier müsste man sich nur mit der Bewältigung von Vergangenheit und Gegenwart beschäftigen, ohne Aussicht auf Zukunft. Hier leuchtet die Situation unseres Volkes vor uns auf.

Unsere Gesellschaft ist weithin christuslos und damit kinderlos geworden. Das ist nicht zufällig. Vor einigen Jahren hat sich eine Anzahl repräsentativer Frauen der Gesellschaft und Kultur zu ihren Abtreibungen öffentlich bekannt. Jahrhunderte lang sucht die Menschheit nach einem gnädigen Gott. Jedes ungeborene Kind sucht seit Beginn der Schöpfung nach einem barmherzigen Menschen, und wohl erst in unserer Gegenwart sucht das Kind oftmals vergebens. Wo Gott aus der Gesellschaft schwindet, dort verschwindet auch das Kind.

Ich weiß, dass ich damit fast gegen alle Trends der Gegenwart stehe, wenn ich sage: Muttersein ist eine großartige und zugleich unersetzliche Berufung der Frau. Denn das Kind kommt nach dem Plane Gottes nicht in einer Retorte zur Welt, sondern unter dem Herzen der Mutter. Und die neun Monate bleiben lebenslang prägend für einen Menschen. Alles, was für das Kind danach kommt, will eine Fortsetzung dieser mütterlichen Intimität im Kreis der Familie sein. Nur so entfaltet sich der Mensch optimal. Gott hat den Menschen nach seinem Ebenbild und Gleichnis geschaffen. Und Adam erkennt dann nach der Schöpfung der Eva, dass sie Fleisch von seinem Fleisch, Bein von seinem Bein ist (vgl. Gen 2,23).

Und im Kind erkennen Vater und Mutter gemeinsam, dass sie sich gleichsam leiblich und seelisch fortgesetzt, ja zukunftswirklich gemacht haben. Es ist Fleisch von ihrem Fleisch und Bein von ihrem Bein. Die Lebensform des Kindes ist zunächst unersetzbar die Familie als Gemeinschaft von einer Frau und einem Mann und von Geschwistern. Die Gesellschaft und der Staat haben diese so gottgewollte Familie mit allen möglichen Kräften zu unterstützen, aber sie dürfen sie nicht ersetzen. Die Erziehung des Kindes gehört in den familiären Rahmen, sie darf nicht wegdelegiert werden in gesellschaftliche Einrichtungen.

Ich habe schon oft darüber gesprochen, dass man am Ende der DDR im Hinblick auf eine völlig aus dem Ruder gelaufene Jugend feststellen musste: Die Ursache liegt darin, dass die Kinderkrippe in der Bibel ein Provisorium war, die damalige Gesellschaft aber hat daraus eine ständige Einrichtung gemacht. Das Ergebnis davon sah entsprechend aus. Unsere Bundesrepublik Deutschland ist dabei, das nachzumachen und sieht in der vergangenen DDR darin noch ein Vorbild. Es soll damit der Mutter keineswegs als Frau ihre Stellung im öffentlichen Leben strittig gemacht werden, aber das Kind als direkte Fortsetzung von Vater und Mutter hat dabei die Priorität.

Gott sei es geklagt, dass die Mutter oft mit in einem Beruf Geld verdienen muss, damit den Kindern – auch wenn sie noch klein sind – die irdischen Lebensmöglichkeiten gegeben werden können. Aber eben darin hat die Gesellschaft die Familie zu unterstützen. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Staatliche Familienhilfe muss Mütter in die Lage versetzen, zumindest gleichrangig zwischen Familienberuf und einer Berufstätigkeit außerhalb der Familie fair entscheiden zu können.

4. Es ist gut, dass unsere Gesellschaft aufgewacht ist und erkennt, dass die Kinderlosigkeit das Hauptproblem der sozialen Schwierigkeiten in ihr geworden ist und dass sie sich noch weiter potenzieren wird. Jahrzehntelang hat man die Mahnungen der Kirche im Hinblick auf Ehe und Familie mit der Bemerkung in den Wind geschlagen: „Die reden ja immer so! Die sollen sich mal was Besseres einfallen lassen!“.

„Gott sei Dank, dass man nun wach geworden ist!“, das sagen wir dazu nicht aus rechthaberischen Gründen, sondern um der Gegenwart und Zukunft unseres Volkes willen! Aber das muss ebenfalls in aller Deutlichkeit gesagt werden: Der Zug darf nicht in die falsche Richtung fahren! Die Gesellschaft darf nicht zum Ersatzmodell für die Familie werden, die Erzieherin nicht für die Mutter und den Vater, die Psychologie nicht für die Liebe.

Der Greis trägt das Kind, das Kind erleuchtet den Greis, heißt es in der heutigen Liturgie. So sagt dann der Greis im Hinblick auf das Kind, das es „ein Licht“ ist, „das die Heiden erleuchtet“ (Lk 2,32). Dieses Licht brauchen wir heute und hier notwendig. Die Kirche umgibt sich nicht mit Besserwisserei, sondern sie trägt Christus auf ihren Armen, der sie und die Welt erleuchtet. Ihr ist dieser Lichtdienst seit 2000 Jahren in aller Welt aufgetragen. Und sie weiß wirklich, was sie sagt, wenn es um Ehe und Familie, um Kind und Gesellschaft geht.

Maria gab ihr Kind hochherzig und großzügig aus den Händen, damit es die beiden alten Menschen erleuchtet. So hält die Kirche Christus nicht fest, sondern sie übergibt ihr Licht, Christus, großzügig und hochherzig an die Welt. Sie hält ihn nicht fest, sondern sie gibt ihn weg. Gebe Gott, dass unsere Gesellschaft diese Botschaft versteht! Mariä Lichtmess soll und kann für alle Menschen guten Willens zu einem Lichtfest werden! Amen.

+ Joachim Kardinal Meisner
Erzbischof von Köln


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