Sensationelle Seifenblasen

20. April 2006 in Aktuelles


Im Judasevangelium werden alte gnostische Kamellen als geheime Wahrheit in einem Thriller verkauft. Ein Beitrag von Professor Manfred Hauke, Theologische Fakultät Lugano.


Lugano (www.kath.net)
Pünktlich vor Weihnachten oder vor Ostern gibt es in den Massenmedien immer wieder „sensationelle“ Enthüllungen, die den christlichen Glauben angreifen oder ihn mit einem Fragezeichen versehen. Dazu gehört auch die publizistische Kampagne zur Vermarktung eines amerikanischen Werkes, in dem kürzlich der Text des koptischen Judasevangeliums mit einem ausführlichen Kommentar veröffentlicht wurde (R. Kasser u. a. [Hrsg.], The Gospel of Judas, National Geographic: Washington 2006).

Eine englische und eine deutsche Übersetzung des Textes sind mittlerweile auch über Internet zugänglich (vgl. die Links im Internet-Lexikon „Wikipedia“ unter dem Stichwort „Judasevangelium“). Ausführliches Material findet sich auf den Internetseiten der amerikanischen „National Geographic Society“ (www.nationalgeographic.com), die in Verbindung steht mit einer Schweizer Stiftung, die für sehr viel Geld den einschlägigen Papyrus-Codex von einem Antiquitätenhändler erworben hat.

Mario Jean Roberty, ein Schweizer Rechtsanwalt und Gründer der Baseler „Maecenas Gesellschaft für alte Kunst“, hat für den Erwerb des Codex 1,5 Millionen Dollar ausgegeben sowie für die Restauration bislang über 1 Million (vgl. Jon Christian Ryter, 9.4.2006, www.NewsWithViews.com, mit Hinweis auf James M. Robinson, The Secrets of Judas, San Francisco 2006).

Dies ist sehr viel Geld, und eine solche Investition erklärt wohl zum Teil die aufwendige Kampagne zur Vermarktung des Werkes. Die Bedeutung der Veröffentlichung wird freilich übertrieben, wenn man sie als „sensationell“ darstellt oder gar im Judasevangelium eine geschichtliche Infragestellung des Neuen Testamentes sieht.

Wie ist der Text geschichtlich einzuordnen? Und worin besteht sein Inhalt? Der in den 70er Jahren bei El Minya in Ägypten entdeckte Codex enthält nicht nur das Judasevangelium, sondern auch weitere Schriften, die aus der gnostischen Bibliothek von Nag Hammadi bekannt sind und dem 4. Jh. entstammen. Der Codex Tchacos ist in einem koptischen Dialekt geschrieben und gehört ungefähr in die gleiche Zeit.

Es handelt sich freilich um Übersetzungen aus einem älteren griechischen Original. Das Judasevangelium ist vielleicht identisch mit einer gleichnamigen Schrift, die bereits in der Väterzeit kritisch erwähnt wird. Die ältesten Angaben stammen von dem hl. Bischof Irenäus von Lyon, der um das Jahr 180 eine umfangreiche Abhandlung gegen die Häresien schrieb, in der er sich vor allem gegen die Gnosis wandte.

„Gnosis“ (auf deutsch „Erkenntnis“) ist eine vielgestaltige Bewegung, die eine für Eingeweihte bestimmte „Erkenntnis“ gegen die kirchliche Überlieferung ausspielte. Unter Fachleuten spricht man genauer vom „Gnostizismus“, um die erste Phase der Gnosis zu kennzeichnen, die seit dem 2. Jh. n. Chr. nachweisbar ist. Den verschiedenen Richtungen des Gnostizismus ist gemeinsam eine kritische Haltung gegenüber der Schöpfung, die auf eine Katastrophe in der göttlichen Welt zurückgeführt wird, und das Bestreben, die in dieser finsteren Welt zerstreuten göttlichen Lichtfunken in die ursprüngliche Fülle zurückzuführen.

Die bekanntesten Richtungen waren die Valentinianer und die Markioniten. Markion, ein finanzkräftiger Reeder aus Sinope am Schwarzen Meer, wurde um das Jahr 144 von der römischen Gemeinde ausgeschlossen wegen seiner Irrlehren. Er lehrte einen Gegensatz zwischen dem bösen Gott des Alten Testamentes, der die irdische Welt geschaffen hat und die Übertretung seiner Gebote bestraft, und dem guten Gott des Neuen Testamentes, dem Vater Jesu Christi, der als wahrer „softy“ nur noch „lieb“ ist.

Das wahre Christentum besteht nach Markion aus reiner Barmherzigkeit; die Gottesfurcht und die Befolgung der Gebote ist nach ihm überholt. Eine gewisse Neuauflage findet der Markionismus heute in der Bewegung „Wir sind Kirche“, welche die „Frohbotschaft“ gegen die „Drohbotschaft“ gegenüber gestellt hat (dagegen wird man schlicht sagen müssen: wer sich der Frohbotschaft verweigert, dem wird sie zur Drohbotschaft).

Die markionitische Sekte, die im Altentum einen großen Erfolg hatte, ist typisch für ein dualistisches Milieu, das den „bösen“ Gott, der diese Welt geschaffen hat, gegen den „guten“ Gott des himmlischen Bereiches ausspielt. An den Rändern dieses Milieus finden sich auch einige Gruppen, die unmittelbar das Böse verherrlichen. Irenäus erwähnt hier die Ophiten (von „Ophis“ = „Schlange“), welche die Ursünde als Akt der Befreiung preisen (Adversus haereses I,30). Der Lobpreis des Judas passt auf den koptischen Text, der den Verräter Jesu verherrlicht und gegen die zwölf Apostel polemisiert. Die Erwähnung der weiblichen Gottheit Sophia entspricht in dem neu entdeckten Werk dem Hinweis auf das „ewige Reich Barbelos“, dem Jesus Christus entstammen soll und mit dem Judas verbunden ist.

„Barbelo“ ist eine der Sophia analoge Gestalt, die aus dem göttlichen Urprinzip hervorgegangen sein soll; Irenäus widmet den „Barbeloiten“ einen eigenen Abschnitt (Adv. haer. I,29). Ob freilich das ursprüngliche griechische Judasevangelium aus dem 2. Jh. mit dem jetzt veröffentlichten Text identisch ist, bleibt unsicher: die Gestalt Kains kommt nicht vor (zumindest nicht in den 80 Prozent des Inhaltes, die wiederhergestellt werden konnten). Stattdessen wird ein anderer Sohn Adams und Evas herausgestellt: Seth, der nach Kain und Abel geboren wurde.

Das koptische Judasevangelium setzt Seth mit Christus gleich und spielt ihn gegen den Schöpfergott aus. Die zwölf Apostel werden als Unholde dargestellt, während Judas als „dreizehnter Apostel“ erscheint, der über die kommenden Generationen herrschen werde. Der Gott von Judas und Jesus ist nicht der Gott der zwölf Apostel.

Die Herausstellung Seths findet sich ähnlich in verschiedenen gnostischen Texten von Nag Hammadi; schon eine aus der römischen Kirche am Ende des zweiten Jahrhunderts entstammende Quelle spricht von den „Sethianern“, die nach Ophiten und Kainiten erwähnt werden (Pseudo-Tertullian, Adversus omnes haereses 2).

Das ursprüngliche griechische Judasevangelium stammt jedenfalls aus dem Rand des gnostizistischen Milieus im zweiten Jahrhunderts; der nun publizierte Text bildet entweder eine Übersetzung oder eine veränderte Fassung, die sich am Original inspiriert. Selbst die von der „National Geographic Society“ zitierten Wissenschaftler beschreiben das Judasevangelium nicht als zuverlässige Quelle für das Leben Jesu.

Der neu veröffentlichte Text ist interessant für die Erforschung des alten Gnostizismus, bietet aber nichts wirklich Neues, was nicht bereits aus anderen gnostischen Quellen und den Werken der Kirchenväter bekannt wäre. Das Judasevangelium folgt einem gnostischen Schema, wonach geheime „Offenbarungen“ Jesu Christi erfunden werden, etwa an Maria Magdalena oder Thomas; sein Spezifikum besteht freilich in dem Kokettieren mit dem Bösen, worin der Verrat Jesu als gute Tat erscheint.

Der publizistische Trubel passt zu den vergleichbaren Verdrehungen der geschichtlichen Fakten in Dan Browns „Da Vinci Code“ (deutsch „Das Sakrileg“), der alte gnostische Kamellen gleichsam mit Schokolade umgibt und sie als geheime Wahrheit in einem Thriller verkauft. Es sind Seifenblasen, die nicht lange währen werden.

Bedauerlich ist nur, wenn die Unkenntnis eines großen Publikums aus wirtschaftlichen und anderen Motiven ausgenutzt wird. Wer an die Offenbarung des Judasevangeliums glauben sollte, dem wird unendlich viel mehr zugemutet als in der gläubigen Annahme des apostolischen Zeugnisses durch die katholische Kirche.


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