,Wer spricht heute noch von den Armeniern?’

14. Oktober 2006 in Interview


Der Kirchenhistoriker Rudolf Grulich über den Völkermord an den Armeniern und die deutsche Mitschuld, den Mut von Orhan Pamuk und den französischen Gesetzentwurf gegen die Leugnung des Armenier-Genozids.


München (www.kath.net) Wir dokumentieren ein Interview, das Michael Ragg vom weltweiten katholischen Hilfswerk „Kirche in Not“ mit dem Kirchenhistoriker Rudolf Grulich führte.

MICHAEL RAGG: Herr Grulich, die Nachricht von der Verleihung des Literaturnobelpreises an den Schriftsteller Orhan Pamuk ist in seiner türkischen Heimat auf große Ablehnung gestoßen und das hat mit dem Völkermord an den Armeniern zu tun. Was bringt viele Türken so gegen Pamuk auf?

PROF. DR. RUDOLF GRULICH: Orhan Pamuk ist der erste international bekannte Türke, der nicht nur vom türkischen Völkermord an den Armeniern sprach, sondern auch die konkrete Zahl von mindestens einer Million ermordeter Armenier nannte. Er musste sich dafür wegen „Beleidigung des Türkentums“ vor Gericht verantworten. Nach internationalen Protesten wurde das Verfahren im Januar eingestellt.

Die französische Nationalversammlung hat jetzt einen Gesetzentwurf beschlossen, der das Leugnen des Völkermords an den Armeniern mit bis zu einem Jahr Gefängnis und 45.000 Euro Geldstrafe belegt. Soll Deutschland ein ähnliches Gesetz beschließen?

Ein vergleichbares Gesetz gibt es bei uns ja schon gegen die Leugnung des Völkermords an den Juden. Einige andere Staaten wie die Schweiz oder Kanada haben die Armeniermassaker als Völkermord anerkannt, was Deutschland auch tun sollte. Dennoch denke ich, bei uns braucht es kein eigenes Gesetz wie in Frankreich. Deutschland sollte allerdings immer wieder öffentlich auf diesen Völkermord hinweisen, denn leider trifft das kaiserliche Deutschland daran eine Mitschuld.

Inwiefern?

Die Reichsregierung war durch die deutschen Diplomaten, besonders die Konsuln in Anatolien und durch andere Quellen zuverlässig über die Gräueltaten gegen die Armenier informiert. Der deutsche Botschafter etwa hat an den Reichskanzler berichtet, es gehe um „die Vertilgung der letzten Reste der Armenier“. Die Anweisung der deutschen Pressezensur zur Behandlung dieses Themas aber lautete: „Über die Armeniergräuel ist folgendes zu sagen: Unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Türkei dürfen durch diese innertürkische Verwaltungsangelegenheit nicht nur nicht gefährdet, sondern ... nicht einmal geprüft werden. Deshalb ist es einstweilen Pflicht zu schweigen ... Über die armenische Frage wird am besten geschwiegen. Besonders löblich ist das Verhalten der türkischen Machthaber in dieser Frage nicht.“ Die Türkei war eben Deutschlands Verbündeter im Ersten Weltkrieg und das wollte man nicht gefährden, zumal es bei den Jungtürken auch viele Anhänger eines Bündnisses mit Frankreich und England gab.

Was ist denn 1915 mit den Armeniern geschehen?

Wir sehen immer nur das Jahr 1915, als am 24. April alle bedeutenden Armenier Konstantinopels, später ganz Kleinasiens und dann alle Armenier praktisch zur Vernichtung bestimmt worden sind. Aber das Ganze hatte schon Vorzeichen: Es gab bereits 1895 und 1896 Pogrome mit Zehntausenden von Toten, und für die Pogrome von 1908 und 1909 bei Adana und in ganz Kilikien muss man mit Hunderttausenden von Toten rechnen. 1915 hat dann Innenminister Talaat Pascha eine „Endlösung“ verkündet.

Es war Krieg, den westlichen Mächten waren die Hände gebunden und das mit der Türkei verbündete kaiserliche Deutschland hat monatelang nichts getan, obwohl fast alle deutschen Konsulatsbeamten aus allen Konsulaten in der Türkei von Todesmärschen und Massakern berichtet haben. Als im August des Jahres 1915 die kaiserliche Regierung in Berlin höflich anfragte, was denn an den Gerüchten über die Armeniermassaker wahr sei, telegraphierte der Innenminister kurz und bündig zurück: „Die armenische Frage existiert nicht mehr“.Bis dahin waren schon die meisten Armenier umgekommen.

Das hat dann später besonders Adolf Hitler interessiert ...

Ja, Hitler soll bei Vorhaltungen seiner Gefolgsleute, was die Weltöffentlichkeit zum Mord an den Juden sagen werde, noch vor dem Polenfeldzug gesagt haben: „Wer spricht heute noch von den Armeniern?“

Wir tun es heute und man wird noch mehr darüber sprechen müssen, denn die Türkei will ja in die Europäische Union. Wie weit ist die Türkei mit der Aufarbeitung des damaligen Geschehens?

Das lässt sich nur schwer in kurzen Worten erklären. Auf der einen Seite ist etwa der Roman von Franz Werfel „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ ins Türkische übersetzt. Ich habe in vielen Buchläden in Istanbul diesen Roman im Schaufenster gesehen. Auf die Frage an die Buchhändler: „Hatten sie deswegen schon Schwierigkeiten?“ kam meist mit einem Lächeln die Antwort: „Bis jetzt noch nicht.“

In diesem Jahr ist ein türkisch-englischer Reiseführer über die Gebiete östlich von Ankara erschienen. Da wird auch über das Geschehen von 1915 gesprochen. Es wird aber verharmlost, dass es „Kollateralschäden“ im Rahmen des Krieges gewesen seien.

Die heftigen Reaktionen auf die Äußerungen Orhan Pamuks und anderer türkischer Schriftsteller zeigt, dass viele Türken noch nicht in der Lage sind, dieses furchtbare Geschehen an sich herankommen zu lassen. Ich bin aber überzeugt, dass die Türkei dieses Thema auch aufarbeiten wird, da es Ansätze dazu bereits nach dem Ersten Weltkrieg gab.

Wie viele Armenier sind denn ums Leben gekommen?

Es hat damals über zwei Millionen Armenier auf dem Gebiet der heutigen Türkei gegeben. Heute leben höchstens hunderttausend in der Türkei. Wenn man davon ausgeht, dass viele flüchten konnten, muss man trotzdem die Zahl der getöteten Armenier mit über einer Million ansetzen.

Steckten hinter dem Massaker eher religiöse oder politische Gründe?

Es waren vielleicht nicht nur politische, sondern sogar rassistische Gründe. Die damaligen drei jungtürkischen Führer der Türkei, das Triumvirat von Enver Pascha, Cemal Pascha und Talaat Pascha, wollten das „Türkentum“ stärken - und da waren die Armenier in Anatolien und im ganzen Reich für sie ein Dorn im rassistischen Auge.

Dass dieser Rassismus im Vordergrund stand, sehen wir auch daran, dass in den Anweisungen zur Deportation und Vernichtung oft von der „verfluchten Rasse“ gesprochen wurde, die man auszurotten habe; und daran, dass man auch andere nichttürkische Gruppierungen, vor allem die christlichen Aramäer und Assyrer, einem Holocaust ausgeliefert hat: Sie hatten über eine halbe Million Opfer von 1915 bis 1918, von denen heute kaum noch jemand spricht – außer die Nachkommen der Opfer in Deutschland, die ja gute Kontakte zu „Kirche in Not“ haben.

Bedauerlich ist, dass die damalige türkische Führung die muslimische Karte ausgespielt hat und es gelungen ist, nichttürkische muslimische Gruppen auf ihre Seite zu bekommen, leider auch die Kurden und vor allem die Tscherkessen. Gerade diese muslimischen nichttürkischen Minderheiten haben sich bei den Massakern hervorgetan.

Wie hat sich denn die folgende türkische Regierung unter Atatürk verhalten, die ja als Wegbereiter der Türkei nach Europa gilt?

Es ist wenig bekannt, dass 1919 ein Kriegsverbrecherprozess in Istanbul gegen Verantwortliche für das Armeniermassaker stattgefunden hat, in dem man die drei Rädelsführer in Abwesenheit zum Tode verurteilt hat. Damals soll Präsident Atatürk gesagt haben: Man hätte diese „Mischpoke“ schon vorher aufhängen sollen. Das heißt, er war damals auch für diesen Prozess.

Natürlich stand der Prozess in Istanbul unter dem starken Druck der Sieger. Die Engländer, die in Konstantinopel Truppen hatten, haben den Prozess durchgesetzt. Aber es war ein türkisches Gericht, noch unter dem Sultan, das ihn geführt hat. Die Hauptkriegsverbrecher, das jungtürkische Triumvirat mit den bereites genannten Enver, Cemal und Talaat Pascha, sind in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, weil die deutsche Regierung nach Kriegsende diese drei Verbrecher mit einem U-Boot nach Russland und von dort aus nach Berlin gebracht hatte.

Sie sind dann in Berlin zum Teil frei herum gelaufen, wie bis vor kurzem noch Herr Karadzic oder Herr Mladic in Belgrad. Als dann Talaat Pascha von einem armenischen Studenten, der aus einem Massengrab flüchten konnte, in dem er alle Angehörigen verlor, 1921 in Berlin erschossen wurde und dieser Student vor Gericht stand, da konnten Zeugen und Fachleute Beweise vorlegen, dass es sich um Völkermord gehandelt hat und dass Talaat Pascha einer der treibenden Kräfte war.

Die Türkei und auch Atatürk sind dann umgeschwenkt, als Pläne der Sieger bekannt geworden sind, die restliche Türkei völlig aufzuteilen. Atatürk hat dann später Kriegsverbrecher, die führend bei Massakern beteiligt waren, in die Regierung aufgenommen. Leider!

Sie haben den Roman von Franz Werfel angesprochen „Die vierzig Tage des Musa Dagh“. Worum geht es da?

Der Prager Jude Franz Werfel hat 1929 in Damaskus überlebende Armenier kennen gelernt, die zum Teil unter sehr schlechten Bedingungen in Armut und Not lebten. Er wollte damals, wie er im Vorwort des Romans sagt, „dieses unfassbare Geschehen dem Totenreich des Vergessens entreißen“. Am Musa Dagh hatten sich 1915 die Armenier gegen die Deportation gewehrt und auf den Berg zurück gezogen, wo sie sich vierzig Tage gegen die Türken verteidigten, ehe sie von einem französischen Kriegsschiff gerettet und nach Ägypten gebracht wurde.

Werfel konnte mit vielen Überlebenden sprechen, hat dann später im Mechitaristen-Kloster in Wien darüber geforscht und dort auch einen Pater kennen gelernt, der am Musa Dagh Zeitzeuge war. Das Buch „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ ist ein historischer Roman, in dem eigentlich alles der Wirklichkeit entspricht, nur der Hauptheld des Buches ist erfunden.

Deshalb lässt ihn der Autor auch am Ende des Romans umkommen. Ich habe als Student 1966 noch Dutzende Überlebende des Musa Dagh im damals noch jordanischen Jerusalem, aber auch im Libanon und Syrien getroffen und interviewt.

Was ist vom armenischen Christentum in der Türkei heute übriggeblieben?

Der Vertrag von Lausanne von 1923 hat einen Bevölkerungsaustausch zwischen Muslimen aus Griechenland und orthodoxen Christen aus der Türkei geregelt. Aber es gab Ausnahmen für die Christen in Istanbul, auf den Prinzeninseln und auf zwei Inseln am Eingang der Dardanellen. Dort sollten griechische und armenische Christen sowie Juden bleiben können. Heute leben dort höchstens noch hunderttausend Armenier mit einem Patriarchen und über 50 Kirchen, darunter etwa 40 orthodoxe, 12 katholische und drei protestantische.

Herr Professor Grulich, vielen Dank für dieses Gespräch.

Prof. Dr. Rudolf Grulich lehrt Mittlere und Neuere Kirchengeschichte an der Universität Gießen. Er ist Berater des deutschen Zweiges des weltweiten katholischen Hilfswerks „Kirche in Not“ für Türkeifragen. Sein Buch „Konstantinopel. Ein Reiseführer für Christen“ ist im Gerhard-Hess-Verlag erschienen und kostet 15,24 Euro. Eine ausführliche Dokumentation über die Lage der Christenin der Türkei findet man unter Kirche in Not - Suchwort: Türkei.

Foto: Kirche in Not


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